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Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen?

Als Kind im Heim und missbraucht, als junge Frau heimatlos und im Gefängnis. Wann begann Christel Müllers Leben?

Von Henry Berndt
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Zurück in Dresden: Christel Hermine Müller lässt sich vom Leben nur noch positiv überraschen.
Zurück in Dresden: Christel Hermine Müller lässt sich vom Leben nur noch positiv überraschen. © Sven Ellger

Und plötzlich war das Portemonnaie weg. Christel Müller war gerade vom Einkaufen nach Hause gekommen, da fiel ihr ein, dass sie ihre ganze Handtasche auf der Toilette im Kaufland vergessen haben muss. Also ist sie noch einmal hingefahren. Von der Mitarbeiterin an der Information bekommt die 77-Jährige kurz darauf ihre Tasche samt Inhalt zurück. EC-Karte, Bargeld, nichts fehlt. Einen Namen hat der ehrliche Finder nicht hinterlassen. „Es ist so toll, dass es solche Menschen noch gibt“, sagt Christel Müller und muss bei dem Gedanken weinen. „Mir sind in meinem Leben nur selten so schöne Dinge passiert“, entschuldigt sie sich für ihre Tränen. „Aber viel Schlimmes.“

Und dann erzählt Christel Hermine Müller daheim auf ihrem Sofa ganz nebenbei von einem unglaublichen Leben, dass sich so lange wie eine Hölle anfühlte, aus der sie immer wieder zu entkommen versuchte. Geboren wurde sie 1942 in Lüdinghausen in Nordrhein-Westfalen. Zu Hause waren sie 13 Geschwister. Vielleicht waren es auch ein oder zwei mehr. So genau hat sie das nie gewusst.

Ihr Vater saß seit ihrer Geburt im Zuchthaus. Als auch noch ihre Mutter ins Gefängnis kam, weil sie zu Kriegszeiten zwei Polen Unterschlupf gewährt hatte, musste die kleine Christel 1945 mit zwei ihrer Brüder in ein Heim nach Warburg, das gefürchtete, von Nonnen geleitete Damianeum. „Ich wollte immer weg, weit weg“, sagt sie. „Nach Frankreich, nach Amerika, irgendwohin.“ Stattdessen vermittelte sie das Heim in Familien, die vorgaben, ein Kind großziehen zu wollen und sie stattdessen als Arbeitskraft missbrauchten. Immer wieder gaben sie die Familien zurück ins Heim, immer wieder musste Christel sich neu einleben. Bis heute hat sie einen ganzen Ordner voller Dokumente aus dieser Zeit aufgehoben. Es sind Briefwechsel zwischen Heim und Pflegeeltern. Viele beschweren sich über das vermeintlich unerzogene Kind. „Christel hat sich zu einem sehr naschsüchtigen Mädchen entwickelt“, heißt es in einem der Briefe von 1952. „Sie kann sich kaum beherrschen und versuchte sich auch schon in einem Geschäft, an Süßigkeiten zu vergreifen“.

Nach Osten statt ins Autokino

In anderen Schreiben ist zu lesen, sie sei unsauber und nässe immer noch ein. 1958 notierten andere Pflegeeltern, Christel sei „leichtsinnig veranlagt und nehme jede Gelegenheit war, in der Nachbarschaft an Tanzveranstaltungen teilzunehmen.“ Wo sie auch hinkam, statt Liebe warteten Strenge und Schläge auf sie. „Als mich mit 14 Jahren der Sohn eines Bauern sexuell missbrauchte, bin ich davongelaufen.“ Im Heim erzählte sie nichts davon und wurde zur Strafe in eine Einrichtung für schwer erziehbare Kinder geschickt, wo sie in der Wäscherei arbeiten musste und nicht einmal Taschengeld bekam. Selbst mit 19 Jahren wurde sie dort weiter festgehalten, da dies für die „Sicherung des bisherigen Erziehungserfolges dringend notwendig“ sei, wie es in einem Brief heißt.

Dann aber trat ein Mann in ihr Leben. Sie verlobten sich schnell. Eines abends holte sie Jürgen mit einem geklauten Auto ab und fuhr mit ihr statt ins Autokino ohne Vorwarnung gen Osten, zu seiner Familie nach Dresden. Eine Flucht? Ja. Eine Wende zum Guten? Mitnichten.

Späte Erfüllung im Job

„Die DDR war die Hölle für mich“, erinnert sich Christel Müller. Bei der Familie ihres Verlobten im Stadtteil Plauen durfte sie nicht bleiben, fand weder Arbeit noch Anschluss. Dann kam der 9. März 1962. Jedes dieser Daten hat sie bis heute im Kopf. Von Dresden aus plante ihr Verlobter die nächste Flucht – diesmal zurück in den Westen. „Um Gottes Willen“, habe sie gesagt, als sie bereits im Zug saßen. Doch Jürgen war zu allem entschlossen. „Wir liefen durch den Wald. Als ich mich an einem Draht festgehalten habe, gingen plötzlich die Lampen an. Das war die Grenze“, erinnert sie sich. „Und dann kamen auch schon Soldaten mit Hunden.“ Unter Tannenzweigen hätten sie bis zum Sonnenaufgang ausgeharrt und seien zumindest in dieser Nacht nicht gefunden worden. Nach zwei Tagen ohne Essen im Wald wurden sie dann aber doch entdeckt. Christa Müller kam ins Gefängnis, viereinhalb Monate in Zelle 165 in der Schießgasse in Dresden. „Ich habe damals drei Eimer Tränen geweint“, sagt sie. „Die Männer waren anständig, aber die Frauen waren Schweine.“ Zweimal habe sie damals versucht, sich das Leben zu nehmen.

Nach ihrer Entlassung lernte sie in Dresden Wolfgang kennen. Sie heirateten 1965, als sie im vierten Monat mit ihrem ersten Sohn Richard schwanger war. Sie hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und zog insgesamt drei Kinder auf. Als ihre Mutter starb, durfte sie nicht zu ihrer Beerdigung reisen. Es sollte weitere 24 Jahre dauern, bis Christel Müller und ihre Familie 1989 die DDR verlassen durften. „An diesem Tag hat mein Leben begonnen“, sagt sie heute. Damals war sie 47. Obwohl sie nur acht Jahre zur Schule gegangen war, durfte sie in Heidelberg eine Lehre zur Altenpflegerin machen. Zwölf Jahre arbeitete sie dann noch in ihrem Beruf. Später kamen Wolfgang und sie zurück nach Sachsen. Sie zogen auf einen Bauernhof bei Döbeln.

Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? Noch als junge Frau wurde Christel Müller im Heim festgehalten und gedemütigt. Später flüchtete sie gegen ihren Willen in den Osten. 
Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? Noch als junge Frau wurde Christel Müller im Heim festgehalten und gedemütigt. Später flüchtete sie gegen ihren Willen in den Osten.  © privat

Inzwischen sind die beiden seit mehr als 50 Jahren verheiratet und wollen das auch bleiben. Zusammen wohnen sie allerdings nicht mehr. Vor einem Jahr zog Christel Müller in eine Wohnung in der Dresdner Albertstadt. „Er wollte nicht mitkommen“, sagt sie trocken. Immerhin, das letzte Weihnachten hätten sie zusammen in Dresden gefeiert.

An der Wand hängt hier ein gerahmtes Foto von ihrem Sohn Richard. Er starb mit 40 an einem Tumor in Kopf. Wie viel Unglück kann ein Mensch ertragen? Christel Müller hat darauf keine Antwort. Liebevoll pflegt sie die Orchideen auf ihrer Fensterbank. Die Blüten machen ihr Freude. Das Schicksal hat sie nie gebrochen.

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