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Die letzten Geheimnisse um Schabowskis Zettel

Schabowskis Maueröffnungszettel für die Pressekonferenz am 9. November 1989 war lange verschollen. Nun ist er in Berlin zu sehen. Wir zeigen ihn.

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Günter Schabowski bei der Pressekonferenz am 9. November 1989, bei der er die sofortige Öffnung der Mauer verkündete.
Günter Schabowski bei der Pressekonferenz am 9. November 1989, bei der er die sofortige Öffnung der Mauer verkündete. © dpa/ Zettel: Stiftung Haus der Geschichte

Von Ingrid Müller

Solch einen Auftrag hat Volker Thiel nicht alle Tage. Der leitende Registrar des Bonner Hauses der Geschichte musste dafür sorgen, dass das dünne, aber für die Welt doch bedeutende Papier heil vom Rhein an die Spree gekommen ist: der Schabowski-Zettel.

Die handschriftlichen Notizen des Politbüromitglieds Günter Schabowski für die legendäre Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 in der Ost-Berliner Mohrenstraße, in deren Verlauf er verkündete, DDR-Bürger dürften „ab sofort, unverzüglich" ausreisen, sind für Thiel „was ganz Tolles“. Weil nicht zuletzt dank ihnen „aus Versehen die DDR aufgelöst wurde“. Der Registrar, Jahrgang 1962, erinnert sich noch gut daran, wie er damals die Abendnachrichten gesehen hat, im Westen.

Seit 2015 ist das graubraune Papier aus einer Kladde im Besitz des Hauses der Geschichte – und trotz eines Rechtsstreits auch dort geblieben. In Bonn liegt der Zettel in einer Vitrine, am Ende einer rund sechs Meter langen Wandpräsentation, die mit einer Szene am Grenzzaun in Ungarn beginnt und mit Mauerrelikten endet, durch die ein Trabi fährt.

Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls kommt das Dokument zu der Szene, die sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt hat, zurück nach Berlin: Vom 8. November bis 12. Januar ist der Zettel erstmals im Tränenpalast zu sehen. Wir zeigen ihn an dieser Stelle mitsamt den dazugehörigen Dokumenten.

Neben dem Originalzettel, auf dem nichts zum Zeitpunkt der Neuregelung steht, gehört dazu die Reiseregelung des Ministerrats, aus der Schabowski wörtlich zitierte. Allerdings hätte sie erst tags darauf über die DDR-Nachrichtenagentur ADN öffentlich gemacht werden sollen. Sie sah die Ausgabe von Visa vor, erst dann hätten die DDR-Bürger ihre neue Freiheit genießen können. Doch das war nach Schabowskis Ankündigung Makulatur.

1. Der Notizzettel

Eine klare Struktur hatte SED-Politbüromitglied Günter Schabowski sich für die Pressekonferenz auf seinen Zettel geschrieben. Sie sollte vor den Abendnachrichten um 19 Uhr enden – die Reiseregelung des Ministerrats wollte er „kurz vor Schluß“ verlesen. Wenn Sie auf die Bilder klicken, können sie Zettel und Transkription in voller Größe ansehen.

© Stiftung Haus der Geschichte
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2. Die Reiseregelung

Ab sofort“ gelte die Reiseregelung, las Schabowski wörtlich aus der Vorlage für den Ministerrat vor.

© BSTU/Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen

Er übersah, was auf der nächsten Seite stand: Der Beschluss zur Ausgabe von Visa sollte erst am 10. November über die staatliche Nachrichtenagentur ADN veröffentlicht werden.

© BSTU/Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen

„Zeitweilige Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreise aus der DDR“ steht auf dem Deckblatt für die „Beschlußvorlage“, die die Mitglieder des Ministerrats bis zum 9. November um 18 Uhr im Umlaufverfahren bestätigen sollten. Es folgt die Vorlage mit der zwei Seiten langen Reiseregelung, aus der Schabowski zitierte (siehe oben). 

© BSTU/Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen

3. Die Reise des Zettels nach Berlin

Wie verschickt man solcherart Weltgeschichte in DIN-A4-Format? Bestimmt nicht per Post oder mit einem Kurierdienst. Fünf Mitarbeiter in Bonn legten am Rhein Hand an. Registrar Volker Thiel und Restaurator Norbert Schmitt öffneten gemeinsam die Vitrine, zu der nur wenige Menschen einen Schlüssel haben, erläutert Thiel.

© Stiftung Haus der Geschichte

Mit Handschuhen legten sie das mit kleinen Haftstreifen auf Museumspappe montierte Blatt vom Ständer auf einen Handwagen. In der Vitrine befindet sich nun „ein Vertreter“ (eine Kopie) samt Hinweis auf Berlin.

© Stiftung Haus der Geschichte

Eine Etage tiefer, in der Restaurierung, wurde Schabowskis Zettel auf Schäden gecheckt und ein Abgangsprotokoll erstellt. Keine Reise ohne Kontrolle. Die leitende Restauratorin Iris Lasetzke hüllte ihn in Seidenpapier, bevor die kostbare Fracht erst in einer Mappe und dann in einem speziellen Koffer verschwand.

© Stiftung Haus der Geschichte

Andere Leihgaben kommen per teurem Kunsttransport ans Ziel. Aber das Exponat ist unterwegs auch sicher, wenn der eigene Fachmann es im Auge behält. Und es ist „sehr viel billiger für den Steuerzahler“. Volker Thiel reiste unauffällig mit Bahncard im ICE als Kurier in besonderer Mission am Mittwoch zur Friedrichstraße.

© Stiftung Haus der Geschichte

„Wenn was passiert, wäre es arg doof. Aber es passiert einfach nichts“, sagte er vor der Abreise, als müsse er sich ein wenig Mut zusprechen. Die Verantwortung nimmt ihm am Ende niemand ab, auch wenn der Staat rein formal für das Dokument haftet. Ein Kurzstreckenflug stand nicht nur wegen der Klimabilanz außer Frage: Keiner wollte riskieren, dass der empfindliche Zettel das Scannen bei der Sicherheitskontrolle übelnimmt.

In Berlin nahmen Museumsleiter Mike Lukasch und seine Leute den Schatz in Empfang. Auch hier: Übergabeprotokoll! Erst danach kam der Zettel in die eigens für die Ausstellung im Tränenpalast angefertigte Vitrine.

© Stiftung Haus der Geschichte

In der Ausreisehalle des Bahnhofs Friedrichstraße mussten sich einst die Bürger der Hauptstadt der DDR von ihren Westbesuchern verabschieden. So bekam sie im Volksmund ihren Namen.

Seit 2011 zeigt das Haus der Geschichte im Tränenpalast die Ausstellung „Alltag der deutschen Teilung“. Jetzt enthält sie bis Januar 2020 ein zentrales Dokument der deutschen Einheit.