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Lottogewinn: Wohnen am Sachsenplatz

Anfangs ging es für die Leisniger Familien durch den Schlamm. Außenputz zierte die Wände innen. Trotzdem waren die ersten Mieter mächtig stolz.

Von Heike Heisig
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Der Sachsenplatz ist Leisigs größtes Wohngebiet. Es gibt Mieter, die wollen dort nicht weg, sind mit ihren Wohnungen verwurzelt.
Der Sachsenplatz ist Leisigs größtes Wohngebiet. Es gibt Mieter, die wollen dort nicht weg, sind mit ihren Wohnungen verwurzelt. © Dietmar Thomas

Leisnig. Wer jetzt über den Sachsenplatz läuft, kann sich folgendes Bild sicher kaum vorstellen: überall Erd- und Dreckberge, alles grau. Zu den Hauseingängen mussten die Mieter über schmale Holzbretter balancieren. „Sogar noch mit dem Kinderwagen“, erinnert sich Renate Fischer.

Sie und Hildegard Börner gehörten zu den ersten neun Familien, die ab März 1970 in die Zweieinhalbzimmer-Wohnungen an der damaligen Karl-Liebknecht-Straße 4 bis 6 einziehen durften. Die Zwei-Zimmer- und alle Wohnungen im Erdgeschoss waren den Männern vorbehalten, die die nahegelegene Autobahn 14 von Grimma bis zum Dreieck Nossen mitbauten. Erst als die Trasse fertig war und die Bauleute weiterzogen, konnten auch dort Familien aus Leisnig einziehen.

Hildegard Börner und Renate Fischer (von links) gehören zu den verbliebenen Erstmietern im heutigen Wohnblock Sachsenplatz 7 bis 9. Petra Schulze und Dieter Groß von der Leisniger Wohnungsbau- und Verwaltungsgesellschaft (LWVG) kümmern sich seit Jahren um
Hildegard Börner und Renate Fischer (von links) gehören zu den verbliebenen Erstmietern im heutigen Wohnblock Sachsenplatz 7 bis 9. Petra Schulze und Dieter Groß von der Leisniger Wohnungsbau- und Verwaltungsgesellschaft (LWVG) kümmern sich seit Jahren um © Dietmar Thomas

Für die meisten, davon sind Renate Fischer und Hildegard Börner überzeugt, war es ein Fünfer im Lotto, eine Neubauwohnung zu ergattern – nach jahrelanger Suche. „Fast alle wohnten vorher noch bei den Eltern, manchmal sogar mit Kindern, oder hatten viel zu kleine Wohnungen“, erzählt Renate Fischer.

 Die heute 80-Jährige war vorher in der Scheunengasse 5 daheim. Hildegard Börner wohnte an der Schlossstraße 9, „in einem zwar schönen Haus, aber noch bei den Eltern“, sagt die 78-Jährige. Als sie dort auszog, waren ihre beiden Kinder schon zwei und fünf Jahre alt, ähnlich wie bei Fischers.

Zwar mussten die ersten Bewohner des heutigen Sachsenplatzes noch ihre Wohnungen selbst mit Öfen heizen. „Aber es gab schon einen Gasdurchlauferhitzer fürs Warmwasser“, erinnern sich die beiden Frauen. Außerdem berichten sie davon, dass es womöglich der einzige Block war, in dem es damals einen Rauputz innen gab – versehentlich. „Das hatten die Lehrlinge, die hier gebaut haben, verwechselt“, sagt Hildegard Börner.

Ihre Einbauküche von damals nutzt Hildegard Börner noch. Mit ein paar kleinen Renovierung genügt sie ihr nach 50 Jahren im Gebrauch nach wie vor.
Ihre Einbauküche von damals nutzt Hildegard Börner noch. Mit ein paar kleinen Renovierung genügt sie ihr nach 50 Jahren im Gebrauch nach wie vor. © Dietmar Thomas

Stolz waren die Frauen nun aber nicht nur auf die für damalige Verhältnisse modernen Wohnumstände. Eine Einbauküche, die gibt es heutzutage nicht einmal in jedem Fall – am Sachsenplatz gehörte sie zur Ausstattung. „Ich habe meine mit ein paar kleinen Veränderungen immer noch“, erzählt Hildegard Börner. Die genüge ihr vollkommen. „Wir durften auch in dem Laden einkaufen, den es für die Autobahner gab“, berichten die Frauen. 

Die Versorgung mit Lebensmitteln sei in dieser Ecke der Stadt zunächst wenig befriedigend gewesen. Das änderte sich erst, als die Kaufhalle am Rande des Wohngebietes öffnete.

Weniger Miete nach zwei Jahren

Obwohl auf den Balkonen anfangs noch die Abdeckungen fehlten, zahlten die Neumieter für ihre Neubau-Wohnung 65,35 Mark Miete im Monat. Zumindest die ersten zwei Jahre. Dann sorgte eine „Verordnung zur Verbesserung der Wohnverhältnisse der Arbeiter, Angestellten und Genossenschaftsbauern“ dafür, dass nur monatlich 51,55 Mark Miete fällig waren.

Das Geld haben die Familien Börner und Fischer gern aufgebracht. Sie fühlten und fühlen sich wohl am Sachsenplatz. Für die Kinder sei es eine glückliche Kindheit gewesen. Wann immer es ging, seien sie draußen spielen gewesen, zu Anfang noch im Baudreck. So manche Anekdote fällt den Müttern ein.

Viele Jahre haben Hildegard Börner sowie Renate und Horst Fischer das Wohnen ganz oben im vierten Stock genossen. Auf ihren Balkonen schauten sie die erste Zeit noch auf Obstplantagen, wohin das Auge reicht. Zehn Jahre nach ihrem Wohnblock folgten die ersten Mehrfamilienhäuser, die zur heutigen Meline gehören.

Wer als Kind auf den späteren Lenin- und heutigen Sachsenplatz ziehen durfte, der hatte einige Spielkameraden und auf der Baustelle anfangs noch einen Abenteuerspielplatz vor der Haustür.
Wer als Kind auf den späteren Lenin- und heutigen Sachsenplatz ziehen durfte, der hatte einige Spielkameraden und auf der Baustelle anfangs noch einen Abenteuerspielplatz vor der Haustür. © Dietmar Thomas

Ob sie je überlegt haben, auszuziehen oder wenigstens etwas weiter nach unten? Beide Frauen schütteln gleichzeitig mit dem Kopf. „Solange wir das aus gesundheitlichen Gründen nicht müssen, tun wir das auch nicht.“ Beide geben gern zu, dass es ihnen bisweilen schwerfällt, die vielen Treppenstufen zu bewältigen, meist mehrfach am Tag.

 Trotzdem wollen sie ihre vier Wände nicht missen. „Wir haben einen Trockenplatz hinterm Haus, einen Keller und einen Dachboden. Wer hat das heute noch?“, fragt Renate Fischer.

Von den sieben Familien, die mit Börners und Fischers vor 50 Jahren in moderne Wohnungen an den Stadtrand gezogen sind, gibt es derzeit noch vier weitere, die zu den „Ureinwohnern“ gehören. Von deren Zusammenhalt untereinander schwärmen die meisten nach wie vor.

Mittlerweile ist es anstrengend

„1996 haben wir dann angefangen, hier zu bauen“, erinnert sich Dieter Groß. Er hat bei der Leisniger Wohnungsbau- und Verwaltungsgesellschaft (LWVG) die Sanierungen von Dach, Fenstern und Fassade geplant und begleitet.

 Er und auch Geschäftsführerin Nicole Hirsch wissen, dass sich die meisten älteren Mieter aus gesundheitlichen Gründen noch den Anbau eines Aufzuges wünschen. Doch das ist bei dem Minus, das die LWVG  im Vorjahr  erwirtschaftet hat, einfach nicht drin.

Eine kleine Feier aus Anlass „50 Jahre Sachsenplatz“, die hätte die LWVG ihren fast 200 Mietern an diesem Standort schon gern ausgerichtet. Doch wegen Corona wird daraus nichts. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. „Das holen wir in zwei Jahren nach“, verspricht Nicole Hirsch. Dann stehen die Wohnblöcke auf der gegenüberliegenden Seite 50 Jahre.

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