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Sensationsfund: Farbfotos vom zerstörten  Dresden

Bisher galt: Der Krieg war schwarz-weiß. Jetzt wurden überraschende Aufnahmen aus dem Februar 1945 entdeckt. Sie stammen von einem Eisenbahnfotografen.

Von Karin Großmann
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Das Japanische Palais am Neustädter Elbufer beherbergte bis 1945 den bedeutendsten sächsischen Bücherschatz. Walter Hollnagel fotografierte das Feuer im großen Lesesaal des Westflügels.
Das Japanische Palais am Neustädter Elbufer beherbergte bis 1945 den bedeutendsten sächsischen Bücherschatz. Walter Hollnagel fotografierte das Feuer im großen Lesesaal des Westflügels. © Walter Hollnagel/BA Eisenbahnstiftung

Die Bilder vom zerstörten Dresden wirken oft seltsam aufgeräumt. Trampelpfade führen durch Trümmerlandschaft. Menschen hantieren mit Schaufeln. Auch der berühmte Blick vom Rathausturm auf die Ruinenskelette zeigt die Straßen wie frisch gefegt. Diese Fotos entstanden lange nach den Bombenangriffen vom Februar 1945, als es nicht mehr nur ums Überleben ging. Manche Aufnahmen wurden hundertfach reproduziert und gehören zum historischen Gedächtnis der Stadt.

Umso mehr überrascht ein Fund, den Mitarbeiter der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek machten – und dabei war er nicht mal besonders geheimnisvoll versteckt.

Ulf Matzat – er arbeitet in der Restaurierungswerkstatt der Slub – entdeckt beim Stöbern im Internet bei einem Freund die Fotografie eines imposanten brennenden Gebäudes in Dresden. Er wird stutzig. Die Spur führt ihn zu einem Eisenbahnarchiv und zu einer Publikation über die Eisenbahn. Matzat erinnert sich zwar, dass er als Kind mit einer Modellbahn spielte. Doch heute interessiert ihn am Zugverkehr höchstens die Pünktlichkeit. Das scheint manchen seiner Kollegen ähnlich zu gehen, die in den Bibliotheksbeständen immer mal nach ungehobenen regionalen Schätzen fahnden. Ein Bildband mit dem Titel „Eisenbahnraritäten. Von den zwanziger Jahren bis 1945“ muss nicht zwangsläufig die Neugier wecken. Querformat mit Dampflok ist was für wirkliche Liebhaber.

In der  Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek steht das Buch mit den Farbfotos aus den Dresdner Kriegstagen seit zehn Jahren im Regal. 
In der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek steht das Buch mit den Farbfotos aus den Dresdner Kriegstagen seit zehn Jahren im Regal.  © Christian Juppe

Doch das Buch, das seit zehn Jahren in der Slub im Regal steht, enthält einige unverhoffte Kostbarkeiten. Ziemlich weit hinten sind Farbfotos aus den Dresdner Kriegstagen abgebildet, darunter auch die Aufnahme von dem brennenden Haus. Flammen schlagen aus dem ersten Stockwerk. Der Bildtext meint, es sei die Reichsbahndirektion Dresden. Sie steht immer noch schräg gegenüber vom Hauptbahnhof und verfällt seit fast zwanzig Jahren. Das Haus befindet sich im Besitz des Bundeseisenbahnvermögens, der Denkmalschutz redet ein Wörtchen mit, all das macht den Stadtplanern wenig Freude.

Der Bau im Foto ist freilich ein anderer. Restaurator Ulf Matzat hat es gleich erkannt. Es ist das Japanische Palais am Neustädter Elbufer. „Das Unmittelbare an diesem Bild hat mich fasziniert“, sagt er. „Es sieht verblüffend lebendig aus, als sei das Feuer gerade erst ausgebrochen.“ In dem Palais sind heute die Naturhistorischen Sammlungen und das Völkerkundemuseum untergebracht.

Matzat zeigte die Aufnahme einer Kollegin, die sich just mit diesem Bau auskennt wie wenige. Katrin Nitzschke hat einige Publikationen über Dresden veröffentlicht, sie leitet das Buchmuseum der Slub und macht dort bei jeder neuen Ausstellung eine neue Entdeckung. „Aber so was hab ich noch nicht gesehen“, sagt sie angesichts der Fotografie. Am Computer hat sie die Aufnahme Millimeter für Millimeter erforscht. „Das Dach wurde durch die Nachtangriffe am 13. Februar 1945 zerstört. Aber offenbar verhinderten die verstärkten Decken, dass sich das Feuer nach unten ausbreitete. Den Brand im ersten Stock könnte ein Querschläger beim Angriff am Mittag des 14. Februar ausgelöst haben. Darauf deutet der aufgeplatzte helle Sandstein hin.“ Hinter den Flammen sind sogar Regale erkennbar. Hinter den kahlen Bäumen der Feuerschein vom Palaisplatz.

Das Japanische Palais heute. 
Das Japanische Palais heute.  © SZ/Karin Großmann

Für Katrin Nitzschke und Ulf Matzat ist die Fotografie in vielerlei Hinsicht sensationell. Denn aus den Tagen der Angriffe auf Dresden sind kaum Fotos überliefert – und schon gar nicht in Farbe. „Für uns findet der Bombenkrieg in Schwarz-Weiß statt“, sagt Katrin Nitzschke.

Für sie ist das Foto besonders berührend, denn sie fühlt sich dem Haus verbunden. Dort arbeiteten ihre Vorgänger und deren Vorgänger. 1786 war die kurfürstliche Bibliothek aus den völlig überfüllten Zwingerpavillons auf die andere Elbseite umgezogen, und schnell entwickelte sie sich zu einer der bedeutendsten Einrichtungen im deutschsprachigen Raum: eine Schatzkammer für sämtliche Wissensgebiete. Die großen Sammlungen der Grafen Bünau und Brühl kamen hinzu. Kostbare Landkarten und Notenhandschriften, frühe Drucke und ein sagenhafter Fundus an barocker Literatur – all das fand im Japanischen Palais Platz. 1935 wurde dort das Buchmuseum gegründet. Ein Teil des knapp zwei Millionen Bände umfassenden Bestandes wurde im Zweiten Weltkrieg ausgelagert in Schlösser, Forsthäuser und Herrensitze der Region.

Ein anderer Teil kam in den Tiefkeller des Palais. Auf dem Farbfoto sind Holzkisten vor den Kellerfenstern zu sehen. „Sie dienten als Splitterschutz“, sagt Katrin Nitzschke. „Dahinter war zum Beispiel die Maya-Handschrift gelagert.“ Die Fotografie weckt Erinnerungen. Die Bibliothekarin erzählt von ihrer Kollegin Dorothea Löffler, Schwester des Kunsthistorikers Fritz Löffler, die der Ehefrau eines Bibliotheksmitarbeiters die Nachricht von dessen Tod im brennenden Dach des Japanischen Palais überbringen musste und nie darüber hinwegkam. Solche Geschichten vererben sich von einer Generation zur nächsten. Und wie oft hat Katrin Nitzschke später ein schwer versehrtes Buch aus dem Japanischen Palais in eine Ausstellungsvitrine gelegt. Mancher Band ist fast mit fortgeschwommen, als das Grundwasser in die Tiefkeller drang.

Doch wie kommt dieses Foto in das Buch aus dem Eisenbahn-Kurier-Verlag in Freiburg? Und wer ist der Fotograf?

Der Verlag hat sich aufs Bahnwesen spezialisiert und mehrere Bücher mit Aufnahmen von Walter Hollnagel herausgebracht. Der Name ist bestenfalls für Eisenbahnhistoriker ein Begriff. Hollnagel, 1895 im brandenburgischen Alt Ruppin geboren und 1983 in Hamburg gestorben, war so etwas wie der Hoffotograf der Deutschen Reichsbahn. Er hatte Maurer gelernt und diente sich schnell hinauf zum Technischen Zeichner und weiter bis zum Obersekretär und zum Inspektor. 1922 wurde er Beamter. Als kurz darauf bei der Reichsbahndirektion Magdeburg ein hauptamtlicher Fotograf ausfiel, sprang Hollnagel ein – und blieb. Das Handwerkszeug hatte er als Autodidakt gelernt. Anfangs arbeitete er mit einer Plattenkamera, später mit einer Leica. Schon ab 1938 benutzte er Agfacolor-Farbfilme. Oft setzte er mehrere Kameras gleichzeitig ein. Offenbar war er mit Material bestens versorgt.

Er fotografierte Bahnhöfe, Züge und Gleisanlagen und porträtierte die Direktoren. Das setzte sich in der NS-Zeit fort. Nach Auskunft seines Biografen gehörte Hollnagel dem Beamtenbund und der Volkswohlfahrt an und nicht der NSDAP. Auf dem Kragen seiner Bahnuniform trug er das Hakenkreuz.

Das Kreuz taucht auch auf etlichen Abbildungen im Buch „Eisenbahnraritäten“ auf. Denn der Fotograf sollte den siegreichen Einsatz der Reichsbahn im Zweiten Weltkrieg zu Propagandazwecken dokumentieren. Doch immer seltener hielt er den Sieg fest und immer häufiger das Scheitern des Systems: feststeckende Munitionszüge, gesprengte Brücken, zerstörte Gleise. Manchmal sind Eisenbahner zu sehen, die den Betrieb irgendwie am Laufen halten, und schwer arbeitende Kriegsgefangene. Keine Lazarettzüge, keine Toten. Es gibt Bilder mit Sonnenblumenfeldern und Bauernmärkten auf der Krim – eine gespenstische Normalität. Als sei sonst nichts gewesen.

Walter Hollnagel fotografierte im Krieg im Auftrag des Reichsverkehrsministeriums.
Walter Hollnagel fotografierte im Krieg im Auftrag des Reichsverkehrsministeriums. © Bildarchiv der Eisenbahnstiftung

Walter Hollnagel war mit Auto und Chauffeur unterwegs in der Ukraine und in Italien. Im Januar 1945 arbeitete er am Eisenbahnknotenpunkt Jünkrath in der Eifel. Von dort sollte er quer durch Deutschland nach Oberschlesien. Er machte einen Umweg durch Dresden. Es war nicht sein erster Besuch. 1939 war er mit seiner Frau hier auf Hochzeitsreise, im Spätsommer 1944 besuchten sie den Zwinger. Nun fotografierte er die rauchenden Trümmer. Der Rauch ist tatsächlich zu sehen.

Oft suchte Hollnagel die außergewöhnliche Perspektive. Er montierte die Kamera im Gleis oder bestieg einen Lichtmast. Das Feuer im Japanischen Palais fotografierte er vom kleinen Hügel dahinter. Von dort hielt er auch den Blick über die Stadt fest. In der Aufnahme fehlt der Schlossturm, und es fehlt die Kuppel der Frauenkirche. Sie stürzte am 15. Februar 1945 in sich zusammen. „Hollnagel muss kurz danach in Dresden gewesen sein“, sagt die Bibliothekarin Katrin Nitzschke. „Anhand der Fotos lässt sich sein Weg durch die Stadt verfolgen.“

Die Aufnahmen zeigen fast unwirkliche Szenen aus der Neustadt. Menschen irren durch Trümmer. Die Ziegelwand eines Hauses stürzt ein. Dachsparren spießen auf die Fritz-Reuter-Straße hinab. In der Körnerstraße unweit vom Japanischen Palais retten Einwohner ein Sofa und anderes Möbel auf die Straße. Von der Eisenwarenhandlung „Hecker’s Sohn“ ist bizarrerweise nur die Laterne am Eingang heil geblieben. Das Museum am Kohlmarkt nebenan, das an Theodor Körner und dessen Vater Christian Gottfried Körner erinnerte, Schillers Mäzen, steht völlig zerstört.

So hat man den Dresdner Zwinger noch nicht gesehen:  Walter Hollnagel  hielt die Trümmer kurz nach dem Bombardement 1945 in Farbe fest.
So hat man den Dresdner Zwinger noch nicht gesehen: Walter Hollnagel hielt die Trümmer kurz nach dem Bombardement 1945 in Farbe fest. © Walter Hollnagel/Bildarchiv der Eisenbahnstiftung

Schließlich fotografierte Walter Hollnagel auch den schwer getroffenen Zwinger, kletterte hinein in den Pavillon des Mathematisch-Physikalischen Salons. Ein kaputter Fensterrahmen, Stuhl und Heizung, mehr war nicht geblieben.

Die Aufnahmen gehören zum Nachlass des Fotografen. Er hatte sein Archiv in den letzten Kriegsjahren aus Hamburg fortgebracht zu Verwandten in Süddeutschland. Dort lag es lange noch nach seinem Tod. Heute gehört es zu einer privatrechtlichen Eisenbahnstiftung, die ihre Fotos online zugänglich macht. „Es ist kaum zu glauben“, sagt die Bibliothekarin Katrin Nitzschke, „dass man nach so vielen Jahren noch Entdeckungen machen kann.“

Dresden kurz nach dem Bombenangriff im Februar 1945: Blick aus dem Mathematisch-Pysikalischen Salon in den Zwingerhof (l.). An der Ecke Körnerstraße/Palaisgäßchen retten Einwohner ein paar Möbel.
Dresden kurz nach dem Bombenangriff im Februar 1945: Blick aus dem Mathematisch-Pysikalischen Salon in den Zwingerhof (l.). An der Ecke Körnerstraße/Palaisgäßchen retten Einwohner ein paar Möbel. © Walter Hollnagel/Bildarchiv der Eisenbahnstiftung