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So lebte es sich im Bautzener Hexenhäusel

Weshalb der Weihnachtsbaum unter der Decke hing und warum eine Bewohnerin einen Fotografen verklagte – zwei Nachfahrinnen haben es der SZ erzählt.

Von Theresa Hellwig
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Für Ingeborg Günther bedeutet Bautzens Hexenhaus Wärme - in ihrer Familie wurde ständig darüber geredet. Deshalb hängt dieses geschnitzte Bild direkt gegenüber von ihrer Wohnungstür.
Für Ingeborg Günther bedeutet Bautzens Hexenhaus Wärme - in ihrer Familie wurde ständig darüber geredet. Deshalb hängt dieses geschnitzte Bild direkt gegenüber von ihrer Wohnungstür. © Matthias Rietschel

Bautzen. Es ist das erste, was Ingeborg Günther sieht, wenn sie ihre Wohnung im Dresdener Stadtteil Strehlen betritt: das Bautzener Hexenhäusel, in Holz geschnitzt. Ein Erbstück der Familie. „Das Hexenhäusel bedeutet für mich Wärme“, sagt die 86-Jährige, nimmt das Bild ab und schiebt ihren Rollator in Richtung Wohnzimmer. „Ich habe nie in dem Haus gelebt“, sagt sie, „trotzdem bedeutet es für mich Zuhause. Zum Beispiel meine Urgroßmuttel hat dort aber gewohnt.“

Bautzens wohl ältestes Haus – es war lange im Besitz der Familie Lissack, den Vorfahren von Ingeborg Günther. Und bis heute hat sie die Geschichten im Kopf, die um das kleine Häuschen ranken – die über die Jahre in der Familie weitererzählt wurden. Nein, das Hexenhaus ist für die 86-Jährige nicht nur ein Ort, an dem eben einmal die Familie gelebt hat – es ist „ein Fixpunkt in meinem Leben“, sagt sie.

Das Hexenhäusel in Bautzen gilt als ältestes Haus der Stadt.
Das Hexenhäusel in Bautzen gilt als ältestes Haus der Stadt. © SZ/Uwe Soeder

Auf ihrem Wohnzimmertisch hat sie alles ausgebreitet: den Holzschnitt und etwa zehn Postkarten. Einige sind schwarz-weiß, andere farbig. Einige sind Fotografien, andere gemalt. Was aber alle eint, ist das Motiv des Hexenhauses. Als sie davon erzählt, gestikuliert Ingeborg Günther mit ihren Armen. Sie hebt ihre zarte Stimme, nur um sie dann wieder zu senken – oder zu einem fröhlichen Lachen anzusetzen. „Wir können heute nicht mehr so genau sagen, was wahr ist, und was Fantasie“, sagt Ingeborg Günther – erzählen will sie die Geschichten dennoch.

Da ist zum Beispiel die Geschichte ihrer Ururgroßmutter – zweimal zählt sie nach, dann ist sie sicher: zweimal „Ur“ ist richtig. „Meine Ururgroßmuttel“, so nennt Ingeborg Günther sie, „war eine intensive Frau.“ Resolut, so erzählt man sich das in ihrer Familie. 

Es ist die Frau, die um 1900 einen Fotografen verklagte, weil er eine Postkarte herausbrachte, auf der das Haus zu sehen war – er hatte es erstmals als „Hexenhaus“ betitelt. „Meine Ururgroßmutter wurde dann Hexe genannt“, erzählt Ingeborg Günther, „das war schlimm zu dieser Zeit. Deshalb ist sie sehr energisch gewesen.“ Tatsächlich gewann sie den Prozess – und die Karten wurden erst nach ihrem Tod veröffentlicht.

Sahne vom Kannenrand genascht

Aber noch mehr Geschichten ranken um diese Zeit. „Meine Ururgroßmuttel hat eine tolle Sahne gemacht“, erzählt Ingeborg Günther. Warum ausgerechnet diese Sahne eine so große Rolle spielte? Das weiß sie nicht – aber diese Sahne gab es zu der Zeit, als ihr Großvater als Kind noch in der Spree spielte, und Ärger bekam, als seine Strümpfe nass wurden. Und die Sahne, die lockte immer wieder alle Kinder im Umfeld an. „Mit den Fingern haben die Kinder dann immer das Fett vom Rand der Kanne genascht.“

Viele Kinder lebten zu dieser Zeit im heutigen Hexenhaus. „Meine Ururgroßmuttel hatte acht bis zehn Kinder, auch einige Ziehkinder.“ In Büchern ist von zwölf Kindern die Rede, die zu dieser Zeit in dem Haus groß geworden sind. Es ist eine Zeit, über die auch Gisela Lissack, die Tante von Ingeborg Günther und Schwester der Harfenisten Jutta Zoff, einiges weiß. Auch sie kennt die Geschichte von der Sahne. Und sie erinnert sich an die Erzählungen, dass einige Kinder unter dem Dach schliefen – denn das Hexenhäusel ist klein und eng.

Gisela Lissack bewahrt es auf: Das Lissack'sche Familienfoto und die Ansicht des Hexenhäusels in Bautzen.
Gisela Lissack bewahrt es auf: Das Lissack'sche Familienfoto und die Ansicht des Hexenhäusels in Bautzen. © SZ/Uwe Soeder

100 Jahre ist Gisela Lissack jetzt alt, aber die Feier zu ihrem großen Tag fiel wegen der Coronapandemie flach. Trübsal blasen will sie trotzdem nicht – und erzählt lieber von den Weihnachtsfesten zu dieser Zeit damals. „Bei so vielen Kindern gab es in dem kleinen Haus natürlich nicht viel Platz“, sagt sie, für den Weihnachtsbaum musste deshalb eine besondere Lösung her. „Der hing an einem Haken unter der Decke.“

Und auch andere Geschichten, die noch weiter zurückliegen, erzählt man sich in der Familie. Zum Beispiel die des Feuersegens, die auch heute noch einigen Bautzenern bekannt ist. „Das war zu Zeiten der Pest in Bautzen“, erzählt Ingeborg Günther – um 1600. „Damals wurde niemand in die Stadt gelassen, aber es kam eine Zigeunerin – die war schwanger.“ Im Hexenhaus ist sie aufgenommen worden.

Feuerzauber schützte bei Stadtbränden

Als Dank, so ist es bekannt, soll die Frau einen Feuersegen auf das Haus gesprochen haben. So soll es die Stadtbrände überstanden haben. In der Familie gibt es aber noch mehr Details: „Die Frau hat den Bewohnern des Häusels eine Flüssigkeit gegeben“, sagt Ingeborg Günther. „Diese sollten die Bewohner auf das Dach gießen, um es vor den Flammen zu schützen.“

Und auch zu der Zeit danach kennt Ingeborg Günther noch eine Sage. „Es soll ein Nachtwächter in dem Haus gewohnt haben, ein wohlhabender Mann“, sagt sie. Nach der polnischen Teilung soll ein verarmtes polnisches Adels-Ehepaar ihm den Adelstitel verkauft haben – und gegen das Hexenhaus getauscht. So ganz eindeutig überliefert ist das nicht.

Fest steht: Die Erzählungen, die über die Jahre in der Familie weitergegeben wurden, haben es Ingeborg Günther angetan. „Vielleicht habe ich deshalb Geschichte studiert“, sagt sie – „auch, wenn es mich dann mehr in Richtung Antike verschlagen hat.“ So sehr hat sie sich dafür interessiert, dass sie bis vor etwa 40 Jahren selber Stadtführungen gegeben hat – und dabei Freunden immer wieder gerne das Hexenhäuschen zeigte.

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