Warum treiben wenige Menschen im Osten Sport?

Es war ein rauschendes Fest und ein symbolträchtiges Ereignis. Als im Mai 2002 im noch nicht ganz fertiggestellten Umbau des Leipziger Zentralstadions das 31. Turnfest mit einer bunten Abschlussgala zu Ende ging, wurde das Event als erstes Sportgroßereignis im Osten des geeinten Deutschlands gefeiert. Die fröhliche Stimmung und die zufriedenen Turner schienen zu beweisen, dass die Wiedervereinigung im Sport abgeschlossen ist.
Doch man musste nur flüchtig hinschauen, um zu bemerken, dass dies nicht stimmte. Es genügte ein Blick in die Anmeldelisten: Die überwältigende Mehrheit der knapp 70.000 Teilnehmer kam aus dem Westteil der Bundesrepublik, exakt waren es 94,5 Prozent. Eklatanter kann ein Ungleichgewicht kaum ausfallen. Aber war Leipzig nur ein Einzelfall?
Wer 18 Jahre später in einer Karte der Bundesrepublik die Anteile der Bevölkerung, die Mitglieder in Sportvereinen sind, farblich abbildet, lässt zwangsläufig die DDR wiederauferstehen. In den neuen Bundesländern sind teilweise noch nicht einmal halb so viele Menschen organisiert wie in den alten. Leipzig war also kein Einzelfall, allerdings ein sehr prägnanter.
Die Zahlen verwundern, galt doch die DDR als Sportnation. „Jedermann an jedem Ort – einmal in der Woche Sport“, hatte der Partei- und Staatschef Walter Ulbricht bereits 1959 vorgegeben. Bei Olympischen Spielen mauserte sich das kleine Land bis zu dessen Ende hinter den Supermächten USA und UdSSR zur dritten Kraft. Und ausgerechnet in diesem Teil Deutschlands leben nun die Sportmuffel?
Geschönte Statistiken in der DDR?
Offiziellen Angaben zufolge hatte der Deutsche Turn- und Sportbund der DDR zuletzt 3,8 Millionen Mitglieder, dies entsprach 22 Prozent der Bevölkerung. Das ist mehr als jetzt, aber trotzdem deutlich weniger als im Westen. Hans Joachim Teichler, bis 2011 Sportwissenschaftler an der Uni Potsdam, zweifelt die DDR-Statistiken jedoch an. Angehörige der Volksarmee, des Ministeriums für Staatssicherheit, der Volkspolizei und zum Teil auch Studenten seien quasi zwangsläufig Mitglieder in Sportvereinigungen gewesen. Rechnet man diese „Karteileichen“, wie er sie nennt, ebenso heraus wie den im Sinne der „Planerfüllung“ nach oben korrigierten und damit vorgetäuschten Mitgliederbestand, den Teichler auf 20 bis 25 Prozent beziffert, würde der Anteil der freiwilligen Mitglieder dramatisch sinken.
Diese These ist jedoch umstritten. Petra Tzschoppe, Fachgebietsleiterin an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Uni Leipzig, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Phänomen der ungleichen Teilhabe im deutschen Sport. „Ich sehe nicht, dass die Statistiken gefälscht waren“, sagt sie. Unabhängig von den nüchternen Zahlen erkennt sie jedoch Unterschiede im Sportalltag der beiden deutschen Staaten. „In der DDR waren Erwachsene in den Vereinen nicht so stark vertreten wie im Westen“, erklärt die Sportsoziologin. „Und selbst der Breitensport war meist wettkampforientiert.“ So gab es schon für die Jüngeren und auf lokaler Ebene die Kinder-und Jugendspartakiaden. Frauen und Männer jenseits der 30 fanden Wettkampfformen nicht so attraktiv – und waren mangels anderer Angebote unterrepräsentiert.

Viel gravierender für die heutige ostdeutsche Sportlandschaft waren jedoch die Folgen des Umbruchs ab 1990. Viele Betriebe wurden abgewickelt oder stießen ihre Sportstätten einfach ab. „Nahezu die gesamte Sportinfrastruktur brach zusammen“, erklärt Tzschoppe. Hinzu kam, dass viele Schwimm- und Turnhallen marode waren. Der Goldene Plan Ost des Sportstättenbaus bezifferte den Bedarf zur Angleichung auf das Westniveau auf knapp 13 Milliarden Euro.
Viele Ostdeutsche verloren ihren Arbeitsplatz und mussten auf der Suche nach Arbeit ihre Heimat verlassen, wanderten ab. „Die erste Sorge galt damals ganz sicher nicht dem Sportverein“, so Tzschoppe. Von den 3,8 Millionen DDR-Sportlern blieben 1991 nur noch 1,1 Millionen in den neuen Bundesländern übrig. Ein gewaltiger Schwund. Der gerade gegründete Landessportbund Sachsen registrierte einen Anteil der in Sportvereinen Gemeldeten von unter sieben Prozent. In den drei Jahrzehnten danach stieg der Organisationsgrad schrittweise auf nun knapp 17 Prozent an, trotzdem ist er nur halb so hoch wie im Nachbarland Bayern. Die dort beliebten Schützenvereine können nicht die alleinige Erklärung für den großen Abstand sein. Und dass in Bayern viele Menschen lediglich passive Mitglieder sind, lässt Tzschoppe als Argument nicht gelten. „Deutliche Unterschiede bestehen schon bei Kindern und Jugendlichen“, erklärt sie. „Und die sind sicher im Verein, um tatsächlich Sport zu treiben.“

Das Problem liegt offensichtlich woanders – zum Beispiel in den kleinen Städten und Dörfern im Osten. Dort bekommen die Vereine die Folgen der Abwanderung mit voller Wucht zu spüren. Roßwein, etwa 50 Kilometer östlich von Dresden gelegen, verlor seit der Wende knapp die Hälfte der Einwohner, zählt jetzt dank Eingemeindungen noch 7.500. Der Roßweiner SV ist der einzige Verein im Ort, er hat 540 Mitglieder in acht Abteilungen und mit Jürgen Krondorf einen Präsidenten, der mit aller Macht versucht, sich gegen den Trend zu stemmen.
Das gelingt ihm nicht immer. Der Rentner spielte früher selbst Handball, führte dann 23 Jahre die Abteilung und ist noch immer Nachwuchs-Übungsleiter. „Wir kriegen nicht mehr in allen Altersklassen die Mannschaften voll, müssen mit Vereinen aus Nachbarorten Spielgemeinschaften bilden“, erzählt er. Bei den 14-jährigen Jungen gibt es noch einen einzigen Handballer aus Roßwein, ein Männerteam gar nicht mehr. Die Frauen überlegen noch, ob sie für nächste Saison melden.
Dabei war Roßwein mal eine Handball-Hochburg, Krondorf erzählt von Zeiten, als „die Halle regelmäßig kochte“. Da spielte er noch selbst, jetzt ist er 68. Auch die anderen Abteilungen leiden unter dem fehlenden Nachwuchs. Den Kreisliga-Fußballern des Vereins etwa wurden in dieser Saison sechs Punkte wegen Nichterfüllung des Schiedsrichtersolls abgezogen.

„Bei uns leben viele Berufspendler, die nur von Freitag bis Sonntag in Roßwein sind“, erzählt Krondorf. „Die können nicht zum Training kommen und deshalb auch nicht zu den Spielen.“ Die Gründe für die Nachwuchssorgen scheinen manchmal banal, stehen aber beispielhaft für die Sportabstinenz auf dem Land. Vor drei Jahren startete der Roßweiner SV ein Ganztagsangebot in der Schule. 40 Prozent der Mädchen und Jungen kommen aus umliegenden Orten, ihr Schulbus fährt 14 Uhr ab. Zu dieser Zeit beginnt auch das Training.
Solche Beispiele kennt Tzschoppe zur Genüge. „Im Westen sind bis heute Frauen oft nur halbtags oder gar nicht berufstätig. Sie haben Zeit, ihre Kinder zu chauffieren“, erklärt die Vizepräsidentin für Frauen und Gleichstellung im Deutschen Olympischen Sportbund. Und sie finden mehr Gelegenheiten, selber aktiv zu sein. In den alten Bundesländern gibt es selbst bei den Dorfvereinen Sportgruppen für Mädchen und Frauen, während sich im Osten das Angebot oft nur auf Fußball für Jungs und Männer beschränkt.
Je gebildeter desto sportlicher
„Bei den Löhnen und Lebensverhältnissen gibt es ebenfalls noch immer Unterschiede zwischen Ost und West. Untersuchungen zeigen, dass mittlere und höhere Sozialschichten Sportangebote mehr nutzen als die unteren. Bei sozial Benachteiligten ist oft auch das Wissen um die positiven Effekte des Sports nicht so ausgeprägt, außerdem fehlt bei vielen die wichtige Vorbildwirkung der Eltern“, so Tzschoppe.
Der Roßweiner SV hat eine Gymnastik-Abteilung, bietet einen Mutter-Kind-Kurs an und ein Schnupper-Balltraining ab fünf Jahren. „Wichtig ist, Kontakt zu den Eltern zu bekommen, damit sie sehen, was wir hier überhaupt anbieten“, erzählt Krondorf. Am Enthusiasmus und Optimismus mangelt es ihm nicht. Aber ob das reicht, um den Trend aufzuhalten?
Tzschoppe fände das extrem wichtig. Für sie sind die Ost-West-Unterschiede in Sport-Deutschland nicht nur Zahlen und Prozente. Sie glaubt, dass dies auch Auswirkungen auf Bereiche hat, an die man zunächst kaum denkt – bis hin zum Wahlverhalten. „Wer in einem Sportverein aktiv ist, hat eine Aufgabe, erfährt soziale Einbindung und Anerkennung“, erläutert sie, und schließt die Schlussfolgerung, dass solche Menschen womöglich weniger anfällig für politische Extreme sind, nicht aus.
Abgeschlossen ist die Vereinigung jedenfalls noch nicht – auch im Sport nicht.