Unterwegs mit dem Tatra-Sherpa

Die Packstation der Sherpas liegt gleich neben der Bergstation der Zahnradbahn auf dem Hrebienok. Stefan Backor will an diesem sonnigen Morgen wie fünf andere Sherpas sein Lastengestell aufbauen. Zunächst stellt er es auf eine Bank, von der er es später im Sitzen hochnehmen kann.
Dann packt der 43-Jährige äußerst sorgsam Paket für Paket übereinander, tauscht Kisten noch einmal aus, sorgt für sicheren Halt und bindet sie schließlich fest. So gewissenhaft wie ein Fallschirmspringer mit seinem Schirm umgeht. Oben auf die Kisten kommt schließlich noch ein Bierfass. Jetzt hat sein Gepäck etwa 75 Kilo Gewicht erreicht und eine beklemmende Höhe. Und damit will er die Berge hoch?
Und wie! Nur kurz balanciert er nach dem Aufstehen die Last aus, setzt das Stirnband und die Sonnenbrille auf, greift seine Stöcke und schon rast er los. Wir haben große Mühe, ihm zu folgen.
Übung hat er ja genug. Im Sommer trägt er solche Lasten täglich in die Berghütten der Umgebung, im Winter, wenn das Ganze im Schnee noch viel mühsamer ist, zwei bis dreimal die Woche. „Es ist nicht so sehr eine Kraftfrage, es ist eine Sache des Kopfes“, meint Stefan. Na ja. Unser Fotograf jedenfalls ging schon beim Aufstehen schwer in die Knie, schwankte gefährlich und war heilfroh, die Last nach wenigen Sekunden wieder los zu sein.
Etwa 50 Sherpas gibt es in der Hohen Tatra, alle kräftig und drahtig, aber keineswegs Mucki-Typen. Einige wenige werden wie Stefan von den Berghütten mit einem Gehalt bezahlt, andere, vor allem Studenten, bekommen einen Kilopreis fürs Schleppen. Sherpas werden eingesetzt, weil die Hohe Tatra ein Nationalpark ist, in dem Hubschrauberflüge vermieden werden sollen, und Lasttiere nur die Wanderwege vermisten.

Stefan und seine Kollegen sind freilich auch selbst eine Touristenattraktion. Kaum ein Wanderer, der nicht das Smartphone zückt und versucht, den vorbeijagenden Sherpa gerade noch aufs Foto zu bekommen. Stehenbleiben mag er freilich mit seiner Last ungern, auch wenn er immer wieder dazu aufgefordert wird. Auf der Strecke vom Hrebienok zur Zamkovskeho Hütte sind es an diesem Morgen Hunderte. In der Hochsaison sollen etwa 10.000 Touristen täglich mit der Bahn hier hochkommen. Die Wege sind im ersten Teil sogar rollstuhlgerecht ausgebaut.
Bei einer Rast an einem rauschenden Wasserfall erzählt Stefan Backor, wie sehr sich in den vergangenen Jahrzehnten die Zusammensetzung der Touristen verändert hat. „Früher kamen viele aus der DDR. Als Kind habe ich das noch erlebt, viele kannten meine Eltern und mich persönlich, weil sie jedes Jahr ihren Urlaub hier verbrachten.“ Nach der Wende blieben die Gäste aus Ostdeutschland fast schlagartig weg und fuhren lieber in die Alpen. Es war ein Schock für die Tatra.
Auch deshalb wurde in den 90er Jahren zunächst kaum investiert. Folglich kamen auch nur wenige her. Aber die Slowaken haben den Schock verdaut, sich nach Touristen anderswo umgeschaut und inzwischen kräftig investiert. Heute kommen neben Slowaken und Tschechen vor allem Polen, Ungarn und Österreicher und im Winter Russen und Ukrainer. Neuerdings reisen sogar Briten und Israelis mit Charterflügen direkt nach Poprad. Im Juli und August sowie im Winter ist die Hohe Tatra restlos ausgebucht. Am ehesten soll man hier noch im Juni und September ein Plätzchen finden.

Beim weiteren Aufstieg, Stefan geht mit uns prompt steile, steinige Abkürzungen, erleben wir dann die zweite große Veränderung in der Tatra in den vergangenen Jahrzehnten: das Waldsterben. Weite Flächen sind tot, viele Bäume kahl, überall stehen Stümpfe, liegen kahle, abgebrochene Bäume herum. Vor allem in den Gebieten oberhalb von Stary Smokovec und Tatranska Lomnica sieht es aus wie auf dem Erzgebirgskamm in den 80er Jahren. Es ist ein Trauerspiel.
Als wir nach eineinhalb Stunden in der Hütte angekommen sind, Stefan seine Last los wurde und wir einen sehr frühen Schnaps und ein Bier „auf's Haus“ geschluckt hatten, erzählt unser Sherpa von den drei Katastrophen des Tatra-Waldes. Die erste Katastrophe ereignete sich im November 2004. Ein Orkan mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 170 Stundenkilometern fegte über die Tatra hinweg und zerstörte etwa die Hälfte der Wälder. Besonders die Fichten knickten wie Streichhölzer, so fielen im Dominoeffekt ganze Waldgebiete. Die Slowaken sprechen heute von einer Jahrhundertkatastrophe.
Die Forstarbeiter hatten danach nicht viel Zeit, die Bäume aus dem Gebirge zu holen, weil Katastrophe zwei direkt danach folgte: ausgedehnte Waldbrände. Über mehrere Jahre hinweg ging das, die Feuerwehren waren im Dauereinsatz. Zurück blieben jetzt nicht nur kahle, sondern auch noch schwarze Flächen. Aber es kommt noch schlimmer: In den vergangenen Jahren setzte sich in den geschwächten Wäldern der Borkenkäfer fest und befiel auch Wälder, die die ersten beiden Katastrophen überstanden hatten.
Inzwischen tobt in der Tatra ein Grundsatzstreit, den die beiden Nationalparkverwaltungen führen, eine ist nur für den Wald zuständig. Sollen die kranken Bäume beräumt und neue Bäume gepflanzt werden? Oder soll man die Natur die Schäden selbst beheben lassen, mit viel Zeit und Geduld? Stefan Backor vertritt vehement die zweite Position. Er glaubt, auch wenn noch keine wissenschaftlichen Langzeit-Erkenntnisse vorliegen, dass sich der Wald allein erholen kann und die Touristen trotzdem weiter die Tatra besuchen werden.
Inzwischen ist es in der Tatra ein Glaubenskrieg geworden, der unerbittlich geführt wird und auch schon das slowakische Parlament beschäftigt hat. Dort wurde vorläufig entschieden, die Wälder zu beräumen und Bäume neu zu pflanzen, vorwiegend Mischwald. Stefan ist wütend über die Entscheidung.

Inzwischen haben die Mitarbeiter der Berghütte die Pakete und das Bierfass von seinem Tragegestell gelöst, im Lager verstaut und gleich die Pakete für den Rücktransport bereitgestellt: Müllsäcke, leere Kisten und Fässer. Stefan bekommt jetzt „nur“ 35 Kilo auf den Rücken gepackt. Folglich rast er die Geröllwege noch schneller und unglaublich trittsicher hinab.
Unten angekommen legt er sein Gepäck ab, fährt mit uns die Bergbahn runter nach Stary Smokovec und lädt uns in sein Café ein, das seine Frau führt. Angeschlossen ist ein „Sherpa-Museum“, in dem Ausrüstungsgegenstände der Träger, Fotos und Erinnerungsstücke ausgestellt sind. Etwa von den „Sherpa-Rallyes“, die jedes Jahr im Herbst stattfinden. Dann treffen sich die 50 Sherpas, sie laufen dann auf unserer gerade zurückgelegten Strecke um die Wette. Wir haben mehr als eineinhalb Stunden gebraucht, Stefans normale Zeit, ohne uns Großstädter, beträgt 1:13 Stunden. Der Rekord aber liegt bei 47 Minuten. Beinahe wichtiger als dieser Wettstreit ist die abendliche Zusammenkunft in der Hütte, bei der es außerordentlich feuchtfröhlich zugehen soll und wahrscheinlich niemand am Morgen Gepäcktouren unternehmen kann.
Stefan hat unterdessen seine Sachen gewechselt und trägt jetzt ein auffälliges Shirt mit dem Aufdruck „NoSkizone“ und einem rot durchgestrichenen Sessellift. Zum Spaß trägt er es nicht. Der zweite Grundsatzstreit, der gerade in der Tatra tobt, dreht sich nämlich darum, ob weitere touristische Einrichtungen im Nationalpark gebaut werden sollten, der auch Uno-Biosphärenreservat ist. Jetzt, wo der Wald kaputt ist und viele freie Flächen entstanden sind, wäre da ja eine gute Gelegenheit, meinen interessierte Investoren. Sie wollen gar zu gern neue Skilifte bauen, Skihänge anlegen und Hotels in die Berge betonieren.
Aber da versteht Stefan Backor, der selbst zehn Jahre als Nationalpark-Ranger gearbeitet hat, keinen Spaß. „Auch wenn der Bedarf besteht und das Geld für die Investitionen da sind: Wir dürfen uns die Tatra nicht endgültig kaputtmachen.“
Weitere Beiträge aus der Serie
Matthias Schumann, Fotograf für die SZ und in vielen Krisenländern mit der Kamera unterwegs, und Autor Olaf Kittel wollten wissen, wie es heute, 30 Jahre nach dem Umbruch, in den einstigen „Bruderländern“ aussieht. Alle Beiträge aus der Serie "Wie geht's, Brüder?" finden Sie unter folgendem Link:
WIE GEHT'S, BRÜDER?
Ost-Tour-Reporter laden Leser ein: Zum Abschluss der großen Serie „Wie geht's, Brüder?“ lädt die Sächsische Zeitung am 20. August um 19 Uhr zu einem Leserforum in den Kongresssaal im Dresdner Haus der Presse ein. Reporter Olaf Kittel und Fotograf Matthias Schumann berichten über ihre Erlebnisse, zeigen viele noch unveröffentlichte Fotos und beantworten Leserfragen. Die Veranstaltung wird gemeinsam mit dem Forum für zeitgenössische Fotografie Dresden veranstaltet. Der Eintritt ist frei.