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Von Moskau über Dresden nach Wimbledon

Sie ist 22, verheiratet, hat 18 Halbgeschwister und große Pläne. Doch noch fehlt etwas zum Glück. Die außergewöhnliche Karriere von Varvara Flink.

Von Michaela Widder & Alexander Hiller
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In Wimbledon kassierte sie nach dem Aus in Runde zwei ihr bislang größtes Preisgeld – knapp 80.000 Euro.
In Wimbledon kassierte sie nach dem Aus in Runde zwei ihr bislang größtes Preisgeld – knapp 80.000 Euro. © Shutterstock

Ihre Antworten gibt Varvara Flink noch in flüssigem Englisch. Das muss nicht mehr lange so bleiben. Denn die russische Tennisspielerin will sich langfristig eine zweite Heimat aufbauen – in Dresden. 

Damit würde die 22-jährige Moskauerin für einen Qualitätssprung im Dresdner Tennis sorgen. Sie wäre die erste Profispielerin mit bedeutsamer Weltranglistenplatzierung, die sich in der sächsischen Landeshauptstadt niederlässt. In diesem Jahr hat sich Flink bereits auf Platz 122 vorgearbeitet – Tendenz deutlich steigend.

Dass sich Flink auf diese Lebenssituation einlassen will, hat viel mit ihrer außergewöhnlichen Biografie und der ihres Mannes zu tun. Ja, Varvara Flink ist bereits verheiratet. Im letzten Jahr schloss sie mit ihrem gleichaltrigen Lebenspartner Dietrich Dernowski den Bund fürs Leben. Und das, obwohl Flink selbst Scheidungskind ist. 

Von ihrer Mama und deren zweitem Mann hat sie noch zwei Halbschwestern – von ihrem Papa, einem Geschäftsmann, sage und schreibe 16 Halbgeschwister. „Von ziemlich vielen Frauen“, sagt sie. Glücklich schaut sie dabei nicht.

Ihr Mann wurde im kasachischen Almaty geboren, wuchs aber in Miami auf, weil seine Familie nach Florida gezogen ist. Dernowski besitzt deshalb den amerikanischen Pass – und den deutschen. „Seine Großmutter und Tante sind Deutsche, wurden während des Zweiten Weltkriegs nach Kasachstan und Russland vertrieben“, erzählt Flink. „Danach sind sie wieder zurück nach Deutschland gegangen. Deshalb ist Dietrich als Kind fünf Jahre in Deutschland aufgewachsen, ehe die Familie nach Florida übergesiedelt ist“, verdeutlicht sie.

Dernowskis Familie lebt zum Großteil in den USA, Tanten und Onkel in Düsseldorf und Stuttgart, seine Oma Zina Rath in der Nähe von Dresden-Prohlis. „Wir waren im letzten Jahr bei Dietrichs Oma – und das ist schon das ganze Geheimnis, weshalb wir hier leben wollen“, sagt Varvara Flink.

Auch in Prohlis gibt es Tennisplätze

Das Paar hat sich in die Heimat der 83-jährigen Großmama verliebt. In Prohlis entdeckte Flink auch Tennisplätze. „Junge Leute haben uns auf die Anlage gelassen, aber uns gleich erzählt, dass es in Dresden noch viel, viel bessere Bedingungen gibt“.

Gemeint war der Waldpark des TC Blau-Weiß Blasewitz. Dort, mitten im Stadtwald, war das Frauenteam gerade in die 1. Bundesliga aufgestiegen. Flink, die 2018 die Leipzig Open gewonnen hatte, passte perfekt ins Anforderungsprofil – und steht nach dem gesicherten Klassenerhalt auch für die nächste Spielzeit unter Vertrag.

Dabei soll es nicht bleiben. „Wir mögen es wirklich sehr hier“, sagt Flink, die während der Aufenthalte mit ihrem Mann in einem Zimmer in Omas Wohnung lebt. Die junge Frau, in Wimbledon als beste Spielerin ihres Vereins bis in die zweite Runde vorgedrungen, möchte Deutsche werden. „Im Moment“, sagt sie nachdenklich, „sehe ich aber nicht wirklich einen schnellen Weg. Wir haben den Prozess gestartet. Wir wollen hier leben, ich hoffe das sehr“. Das Problem: Flink braucht zunächst einmal eine permanente Aufenthaltserlaubnis. Bisher ist sie mit einem russischen Touristenvisum unterwegs. „Mein Problem ist, dass ich damit nur sechs Monate pro Jahr hier sein darf. Hoffentlich schaffen wir es – vielleicht bekommen wir die entsprechenden Dokumente“, sagt die Athletin.

Varvara Flink überzeugt auch im Abendkleid. Zuletzt lieferte die 22-Jährige vor allem sportliche Schlagzeilen. 
Varvara Flink überzeugt auch im Abendkleid. Zuletzt lieferte die 22-Jährige vor allem sportliche Schlagzeilen.  © Knut Zyball

Allerdings ist sie ohnehin fast nur unterwegs – immer mit dabei: Dietrich, der auch ihr Trainer ist. Bukarest, Jurmala lauteten die letzten Turnierziele, Washington und Cincinnati sind demnächst dran, dann Asien und Europa. „Ich möchte wirklich gern Deutsch lernen – habe das dieses Jahr für Monate ernsthaft probiert. Aber wir reisen sehr viel, es ist schwierig“, sagt sie.

Sie führt ein Leben zwischen Flughäfen, Hotels und Tennisplätzen. Und das als Ehepaar. Flink verdreht gespielt die Augen, sie weiß, was jetzt kommt. Ist es nicht hin und wieder schwierig, sich ständig auf der Pelle zu hängen, 24 Stunden am Tag? „Yes“, sagt sie, „yes, yes“ – und grinst. „Wir versuchen, das private Leben vom beruflichen zu trennen. Das klappt manchmal, manchmal nicht. Wir sind ein gutes Team, es ist okay, dass wir uns manchmal zoffen“, betont sie. „Es ist ein guter Deal“. Das klingt nicht gerade romantisch. Aber vielleicht ist das auch nur die berufliche Antwort.

Dabei hat sie ihrem Mann jede Menge zu verdanken – eigentlich, dass sie erfolgreicher denn je Tennis spielt. Dietrich Dernowski hat sie mit viel Lebensmut, Humor, Zähigkeit und familiärer Energie aus einer tiefen Krise geführt. Flink hatte 2013 eines der weltweit wichtigsten Juniorinnen-Turniere gewonnen: Den Orange Bowl in Key Biscaine. Zuletzt trug sich der US-Teenager-Star Cori Cuff in die Siegerliste ein.

Flinks Karriere schien vier Jahre später bereits am Ende zu sein. „Ich wollte mit Tennis aufhören“, sagt sie. Nach einer schweren Knöchelverletzung hatten sich hartnäckige Schulterschmerzen im jungen Körper eingenistet. „Ich konnte neun Monate nicht spielen, habe alles versucht – Physiotherapie, Fitness, Massage, Injektionen. Aber es wurde nicht besser“, sagt sie und klingt dabei noch immer verzweifelt.

Dernowski und seine Familie waren ihr großer, vielleicht der einzige Halt. „Sie rieten mir: Gib deinem Körper Zeit, sei nur Patient – das ist okay.“ Dietrich spielte damals noch Tennis – auf bescheidenem internationalen Niveau. Als seine Trainingspartnerin wurde Flink zunächst schmerzfrei – und dann immer besser. Seither ist ihr Mann ihr Trainer. Das spart auch Geld. „Ich denke, er mag es, mir dabei zu helfen, noch besser zu werden“, sagt sie. Von Dresden aus in die Top 100 der Welt. „Das will ich schaffen“. Und vielleicht kann sie dann auf Deutsch erklären, wie ihr das gelungen ist.