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Wie lebt es sich zwischen Ruinen?

Vollsperrung, Lärm, Dreck: Die obere Jauernicker Straße kennt viele Probleme. Jetzt droht sogar ein Komplettabriss.

Von Ingo Kramer
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Michael Bech schaut aus seinem Fenster in der Jauernicker Straße 35. Gegenüber sind gleich vier Häuser in einem sehr schlechten Zustand. Eins davon droht einzustürzen.
Michael Bech schaut aus seinem Fenster in der Jauernicker Straße 35. Gegenüber sind gleich vier Häuser in einem sehr schlechten Zustand. Eins davon droht einzustürzen. © Nikolai Schmidt

Jenen 12. Juli des vergangenen Jahres wird Michael Bech so schnell nicht vergessen. Sein gerade dreijähriger Sohn wollte am Herd herumspielen. Der junge Vater schritt sofort ein mit den Worten: „Wenn Du das machst, dann kommt die Feuerwehr.“ Zehn Minuten später war die Feuerwehr tatsächlich da: Mit der Drehleiter, direkt vor dem Fenster von Familie Bech im dritten Stock der Jauernicker Straße 35. Mit dem Sohn und dem Herd hatte das aber gar nichts zu tun: Stattdessen waren im Haus gegenüber, in der Nummer 31, Decken über mehrere Geschosse eingestürzt.

Es war der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die das obere Ende der Jauernicker Straße seit Jahren prägt. Sechs Gründerzeitgebäude sind hier in einem sehr schlechten Zustand, mit Jauernicker Straße 29, 30, 31 und Reichertstraße 8 sogar vier Häuser am Stück. Familie Bech wohnt genau gegenüber und blickt jeden Tag auf die Ruinen. Seit jenem 12. Juli ist die Straße voll gesperrt, weil Haus 31 einzustürzen droht. Vor anderen Häusern gibt es halbseitige Sperrungen, unter anderem vor der Nummer 38, wo ein großer Baukran steht.

Eigentümer aus Freital saniert sein Haus

Es ist derzeit der einzige Lichtblick: Karsten Tobias aus Freital saniert dieses Haus vollständig. Eigentlich wollte er Mitte des Jahres fertig sein, aber weil die Bausubstanz schlechter ist als gedacht, dauert es länger: Alle Zwischendecken müssen ersetzt werden. „Ich denke, die Rohbauarbeiten werden bis Ende April in groben Zügen abgeschlossen sein“, sagt Dirk Illichmann, Inhaber der Firma Biehain Bau, die als Generalauftragnehmer tätig ist. Bis Ende des Jahres könnte alles geschafft sein: „Jedenfalls, wenn wir genügend Handwerker finden.“

Bauherr Karsten Tobias steht in seinem Haus Jauernicker Straße 38. Bis Ende des Jahres soll es fertig saniert sein - wenn alles gut geht.
Bauherr Karsten Tobias steht in seinem Haus Jauernicker Straße 38. Bis Ende des Jahres soll es fertig saniert sein - wenn alles gut geht. © Nikolai Schmidt

Dann wäre wenigstens eine der sechs Ruinen saniert. Von den anderen fünf befinden sich gleich drei im Besitz einer Berliner Firma, die sich derzeit nicht zur Jauernicker Straße äußern will. Es sind die 39, die bereits notgesichert wurde, die 30, wo die Notsicherung aktuell läuft, wo Decken eingezogen, ein neues Dach errichtet und der lose Putz an der Fassade abgeschlagen wird – und eben jenes akut einsturzgefährdete Haus Jauernicker Straße 31. Zu den Eigentumsverhältnissen darf Hartmut Wilke vom Amt für Stadtentwicklung nichts sagen, wohl aber zur aktuellen Lage: „Der Eigentümer hat die Sicherheit erst einmal hergestellt, indem er die Straße abgesperrt hat.“ Das sei zunächst das Wichtigste.

„Zur Sicherung der Bausubstanz sind wir noch mit ihm im Gespräch“, sagt Wilke. Das städtische Ziel lautet: Möglichst viel erhalten. „Wir können das aber nicht erzwingen“, erklärt er. Soll heißen: Auch ein Komplettabriss ist nicht ausgeschlossen. Für die obere Jauernicker Straße wäre das der Supergau: Einerseits, weil die Anwohner dann mit noch viel mehr Lärm und Dreck rechnen müssten, andererseits, weil die Straße bisher auf beiden Seiten mit Geschlossenheit besticht: In dem Gründerzeitensemble gibt es keine einzige Baulücke. Wilke sagt, die 31 sei innen extrem kaputt: „Wir diskutieren gerade mit dem Eigentümer, wie wir möglichst viel erhalten können.“ Doch es sei nichts entschieden, auch der Abriss sei nach wie vor eine Option: „Wenn ein Erhalt für den Eigentümer nicht zumutbar ist, kann es trotz Denkmalschutz eine Abbruchgenehmigung geben.“ Wie lange die Straße noch gesperrt bleiben muss, ist deshalb noch völlig unklar.

Das gelbe Haus in der Mitte droht einzustürzen: die Jauernicker Straße 31. Links die Nummer 30 wird derzeit gesichert. Beide gehören dem gleichen Eigentümer aus Berlin. Das Eckhaus Reichertstraße 8 (rechts) ist auch marode und leerstehend.
Das gelbe Haus in der Mitte droht einzustürzen: die Jauernicker Straße 31. Links die Nummer 30 wird derzeit gesichert. Beide gehören dem gleichen Eigentümer aus Berlin. Das Eckhaus Reichertstraße 8 (rechts) ist auch marode und leerstehend. © Nikolai Schmidt

Für die Anwohner in den sanierten Häusern sind das alles keine tollen Aussichten. Doch wie lebt es sich zwischen all den Ruinen? „Ich bin eigentlich nie zu Hause, denn ich arbeite in Dresden“, sagt eine junge Frau aus der Nummer 35. Außerdem sei ihre Wohnung zum Hof gelegen. „Nur die Parkplatzsituation ist nervig“, erklärt sie.

Sandra Büttner aus der Nummer 37 ist öfter zu Hause. „Das Fensterputzen habe ich seit vorigem Jahr aufgegeben, das bringt gar nichts mehr“, sagt sie. Es gibt hier nur noch Baustellen, Schmutz und Lärm. Zwei Häuser teilen sich mittlerweile den gleichen Kran: „Er schwenkt öfter mal auf die andere Straßenseite“, sagt Sandra Büttner. Eine Familie mit acht Kindern aus ihrem Haus wolle jetzt ausziehen, zwei andere Nachbarn ebenfalls: „Die Kinder können ja nicht mehr schlafen.“ Aus dem Nachbarhaus sei auch schon jemand ausgezogen. Sie selbst will aber hierbleiben. Andererseits freut sie sich, dass jetzt etwas passiert, wenigstens ein Haus saniert wird. Über die Bauarbeiter will sie keineswegs schimpfen: „Die sollen ihre Arbeit machen, bevor noch mehr kaputt geht“, sagt Sandra Büttner.

Eintrag beim Mängelmelder hat geholfen

Michael Bech arbeitet selbst auf dem Bau. Trotzdem: Was in seiner Nachbarschaft passiert, ging ihm manchmal zu weit: „Auf den Containern der einen Baustelle gab es keine Plane, die Autos sahen durch den Staub aus wie Sau.“ Wenn sie überhaupt parken konnten: Die Bauarbeiter hatten weitere Teile der ohnehin engen Straße für ihre eigenen Autos abgesperrt. Michael Bech wusste sich zu helfen: Über den Mängelmelder der Stadt. „Das hat etwas gebracht, der Zaun wurde reduziert“, sagt er. Aber sein Sohn kann nicht schlafen, wenn draußen der Blechzaun im Wind lärmt.

Die Jauernicker Straße 30 wird jetzt gesichert. An der Fassade sind schon die Hohlstellen im Putz farbig angezeichnet. Sie werden abgeklopft und mit Grundputz gesichert.
Die Jauernicker Straße 30 wird jetzt gesichert. An der Fassade sind schon die Hohlstellen im Putz farbig angezeichnet. Sie werden abgeklopft und mit Grundputz gesichert. © Nikolai Schmidt

Noch heftiger betroffen ist Marcel Hanisch im Parterre der 35: Der Fußgängertunnel steht vor seinem Wohnzimmerfenster. Viel Licht lässt er nicht hinein. Marcel Hanisch nimmt es gelassen: „Wenn die Fenster zu sind, hört man nichts.“ Tagsüber sei er ohnehin oft auf Montage oder in der Berufsschule. Und sein Schlafzimmer ist auf der Hofseite: „Das einzige, was wirklich nervt, ist der Blechzaun bei Wind.“ Deshalb habe er die Fenster meist geschlossen. Geputzt hat auch er sie schon lange nicht mehr. Ähnlich gelassen reagiert Volker Sielski aus der Nummer 36. Sein Haus hat einen Vorteil: Es gibt Parkplätze im Hof, sodass Sielski die Sperrung weniger stört. „Und gebaut werden muss nun einmal“, sagt er. Lärm und Dreck seien auszuhalten.

Warum ausgerechnet hier so viele Häuser in einem dermaßen schlechten Zustand sind, kann sich auch Wilke nicht schlüssig erklären: „Es sind Gründerzeithäuser mit guten Wohnungsgrundrissen und vernünftigen Innenhöfen, es ist nah zur Straßenbahn, zum Bahnhof, zu Ärzten, Apotheken, Schulen und Kitas.“ Zudem ist die Hofseite der Häuser die Sonnenseite – ideal für den Anbau von Balkonen. „In der Straße selbst fehlt aber Grün“, sagt Wilke. Und die Gegend war nie Sanierungsgebiet, somit stehen Eigentümern keine Fördermittel zur Verfügung. Allerdings gilt das für die gesamte Südstadt – und trotzdem sieht kaum eine Ecke so kaputt aus wie die obere Jauernicker Straße. „Eine wirkliche Erklärung haben wir auch nicht“, sagt Wilke.

Eigentümer wollen nicht verkaufen

Karsten Tobias, der Bauherr aus der 38, hatte voriges Jahr die Hoffnung geäußert, der Berliner Firma die Nummer 39 abkaufen zu können, um sie ebenfalls zu sanieren. Dieser Hoffnungsschimmer für die Jauernicker Straße hat sich inzwischen zerschlagen, sagt Illichmann: „Die Eigentümer verkaufen nicht.“ Michael Bech, der seit drei Jahren hier lebt, zeigt sich trotz allem entspannt: „Aufregen bringt nichts, wir können es sowieso nicht ändern.“ Ein Umzug kommt für ihn nicht infrage: „Vierraum-Wohnungen sind schwer zu finden.“

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