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„Wir hatten den Himmel auf Erden“

Zum Tag des offenen Denkmals erinnern sich ehemalige Mitarbeiter und Kunden der Fleischfabrik „Vorwärts“.

Von Andreas Weller
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Rico Gießmann hat in dem großen Fleischverarbeitungsbetrieb „Vorwärts“ 1989 seine Ausbildung zum Fleischer begonnen. Nun kehrte der jetzige Dachdecker in seinen Lehrbetrieb zurück.
Rico Gießmann hat in dem großen Fleischverarbeitungsbetrieb „Vorwärts“ 1989 seine Ausbildung zum Fleischer begonnen. Nun kehrte der jetzige Dachdecker in seinen Lehrbetrieb zurück. © Marion Döring

Die meisten, die dort gearbeitet haben, sahen das Gebäude an der Fabrikstraße nie wieder von innen. Auch deshalb dürfte der ehemalige Fleischverarbeitungsbetrieb „Vorwärts“ an diesem Sonntag völlig überrannt worden sein. Die Veranstalter rechneten zum Tag des offenen Denkmals mit mehreren Dutzend Besuchern. Bereits gegen 9.30 Uhr waren es mehrere Hundert.

Unter ihnen auch Rico Gießmann. Der Mann, der heute in Freital lebt, hat dort 1989 seine Lehre begonnen. „Wir dürften der letzte Jahrgang gewesen sein und konnten unsere Lehre dort nicht mehr beenden“, erinnert er sich. Denn dazwischen kam die Wende, seit 1991 stehen die denkmalgeschützten Gemäuer leer.

Gießmann hat seine Lehre bei einem privaten Fleischer in Freital beendet und arbeitet mittlerweile als Dachdecker. „Als ich gelesen habe, dass man sich meinen Lehrbetrieb an diesem Tag ansehen kann, musste ich einfach hin.“ Obwohl es drinnen nicht mehr so aussieht wie damals, weil Fließbänder und sämtliche Geräte längst nicht mehr stehen, kamen die Erinnerungen bei Gießmann.

Dort wo gerade neu angebaut wird, standen zwei Garagen, in denen Teile der Verwaltung saßen. Im Keller war die Zerlegung, dort hat Gießmann am Lehrlingsband gestanden und Schweine zerlegt. Die wurden als Hälften geliefert und dort weiterverarbeitet. „Einmal im halben Jahr haben wir Schweinehälften für die Staatsregierung in Berlin zerlegt. Da haben wir dann auch die Haut komplett abgezogen“, erzählt er. Wie viele es waren, daran erinnert sich der gelernte Fleischer nicht mehr.

In der Zerlegeabteilung des Betriebes wurde sogar gelegentlich für das Berliner Politbüro produziert.
In der Zerlegeabteilung des Betriebes wurde sogar gelegentlich für das Berliner Politbüro produziert. © Repro: Marion Doering

ießmann hat über die Lehre zum Beruf gefunden, wie er sagt. Eigentlich wollte er gar nicht Fleischer werden, hatte gar keine konkreten Vorstellungen. Aber die Arbeit habe auch Spaß gemacht. „Von der Mangelwirtschaft war nichts zu spüren“, berichtet er. Es gab vergünstigt Fleisch und Wurst und durch den angrenzenden Handelsversand und die Salatproduktion im ersten Stock des Hauses waren selbst Pistazien, die beispielsweise für die Lyoner benötigt wurden, Mandarinen, Rettich und Möhren zu haben. „Als Lehrlinge hatten wir den Himmel auf Erden.“

Die alte Wirkungsstätte noch mal sehen zu können, sei schon beeindruckend. Ulrich Engel schwärmte dagegen von den Wiener Würstchen, die man damals im Konsum kaufen konnte und die im „Vorwärts“ hergestellt wurden. „Wenn man welche bekommen hat, haben die sehr gut geschmeckt“, erinnert sich der 69-Jährige. „Weihnachten, zum Kartoffelsalat, das war immer lecker. Deshalb musste ich mir das Gebäude unbedingt ansehen“, so Engel.

Zum bundesweiten Tag des offenen Denkmals wurden diesmal rund 60 Programmpunkte in Dresden geboten. Ins Motto „Modern(e) – Umbrüche in Kunst und Architektur“ passte auch „Vorwärts“ sehr gut. Das Gebäude wurde 1927 bis 1930 nach Plänen von Kurt Bärbig errichtet. Der Auftrag kam vom Konsumverein Vorwärts.

Jahrelang war der Komplex dem Verfall preisgegeben. 2017 kaufte es die Berliner Genesis Macellum GmbH & Co. KG. Seit vergangenem Jahr wird der Sechsgeschosser samt Turm denkmalgerecht saniert. Künftig soll der Bau Platz für Büros bieten, die Eigentümer denken an IT-Firmen und junge Kreative. Der markante rote Klinker bleibt selbstverständlich erhalten. Mit dem hatte Architekt Bärbig den dynamischen Funktionalismus aufgenommen.