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Kretschmer zur Asylpolitik: „Wir können nicht immer sagen, wir sind machtlos“

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und der Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, zu neuen Regeln in der Asylpolitik und einer Reform des Bürgergeldes.

Von Karin Schlottmann
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Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hält die Aufnahmekapazitäten bei 50.000 Flüchtlingen bundesweit für erschöpft.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hält die Aufnahmekapazitäten bei 50.000 Flüchtlingen bundesweit für erschöpft. © Archivbild: dpa/Robert Michael

Herr Kretschmer, seit 16. Oktober finden auch in Sachsen stationären Grenzkontrollen statt. Nun kommt es zu Warteschlangen und Klagen über fehlendes Personal bei der Bundespolizei. Ist die Idee genügend durchdacht?

Kretschmer: Es ist eine bittere Maßnahme auch für jemanden wie mich, der aus Görlitz kommt und froh war über die Abschaffung der Grenzkontrollen. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Es kommen hier Tausende Menschen ins Land, von denen keiner weiß, wer sie sind. Sie müssen so schnell wie möglich registriert werden. Polen und Tschechien verfahren genauso gegenüber der Slowakei und die Slowakei gegenüber Ungarn. Alle übernehmen jetzt wieder mehr Verantwortung. Die Flüchtlinge werden nicht mehr einfach durchgewunken.

Das hat zwei Effekte: Der Schengen-Raum wird stärker geschützt und illegale Migration wird erschwert. Es geht darum, das Signal in die Welt zu senden, dass es keinen Sinn hat, nach Deutschland zu kommen. Es ist eine sehr unangenehme, aber aktuell notwendige Maßnahme.

Sind die Grenzkontrollen gut organisiert?

Kretschmer: Die Bundespolizei arbeitet derzeit unter abenteuerlichen Bedingungen. Wir haben die Kontrollen schon lange gefordert, es wäre seitens des Bundesinnenministeriums genug Zeit gewesen, die logistischen Voraussetzungen zu schaffen. Das ist alles nicht passiert. Und jetzt muss es holterdiepolter gehen. Aber es wird sich alles einspielen. Die Bundespolizisten erkennen sehr schnell, wen sie anhalten müssen und wen nicht. Und sie retten Leben. Wir haben es doch erlebt, dass 15 bis 20 Flüchtlinge in einem Kastenwagen den Gummi aus den Türen kratzen, um Luft zu bekommen. Auch schon deswegen muss intensiver kontrolliert werden.

Hat es Zurückweisungen gegeben?

Kretschmer: Ja, sie finden jeden Tag statt. Es ist keine große Anzahl. Aber es ist ein Instrument und das wird auch angewandt. Bis die Sicherung der EU-Außengrenzen wirksam erfolgt, sind diese inneneuropäischen Maßnahmen notwendig. Dort liegt doch das eigentliche Problem.

Am Montag beraten die 16 Ministerpräsidenten mit Bundeskanzler Olaf Scholz über die Asylpolitik. Die Länder fordern unter anderem eine Abkehr von Bargeldzahlungen an Asylbewerber. Was versprechen sich die Kommunen davon? Und bekommen Flüchtlinge überhaupt kein Bargeld mehr?

Landsberg: Ein Taschengeld in bar wird es immer geben müssen. Je nach familiärer Situation beträgt es zwischen 115 und 180 Euro monatlich. Meiner Meinung nach ist die Chipkarte allein nicht die Lösung. Der Städte- und Gemeindebund plädiert für einen digitalen Flüchtlingsausweis. Er sollte Angaben enthalten über Namen, Herkunftsland und Aufenthaltsstatus. Dieser Ausweis könnte ergänzt werden um eine Bezahlfunktion. Wir können uns vorstellen, dass bei Personen, die überhaupt keine Bleibeperspektive haben, die Bezahlfunktion eingeschränkt wird und sie nur Dinge des täglichen Bedarfs bekommen.

Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen. Weil wir wollen, dass die Menschen perspektivisch schneller in Arbeit kommen, könnten auch ihre Kenntnisse und Fähigkeiten dort registriert werden.

Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes.
Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. © dpa

Angesichts der Defizite in den Ausländerbehörden bei der Digitalisierung ist das doch Zukunftsmusik....

Landsberg: Ja, ich weiß, dass wir alle im Bereich der Digitalisierung nicht die Schnellsten sind. Aber da der Bund über die Aufnahme von Flüchtlingen entscheidet, ist es seine Aufgaben, diese Karte einzuführen, und zwar bundeseinheitlich.

Kretschmer: Ich finde den Gedanken eines digitalen Flüchtlingsausweises sehr klug. Es ist eine zentrale Forderung, dass wir bei den finanziellen Leistungen stärker differenzieren sollten zwischen denen, die anerkannt sind als Flüchtlinge und denen, die nur eine Duldung haben. Es wird bei diesem Thema immer das Verfassungsgerichtsurteil zitiert, mit dem das Existenzminimum garantiert wird. Aber die 16 Ministerpräsidenten sind sich einig, dass es Unterschiede zwischen anerkannten und abgelehnten Flüchtlingen geben muss. Wir wollen auch versuchen, Überweisungen in die Heimatländer zu erschweren. Es gibt nicht die eine Maßnahme, Migration zu reduzieren. Wir müssen sehr viele Maßnahmen gleichzeitig ergreifen, um dieses Ziel zu erreichen.

War es richtig, die Vertriebenen aus der Ukraine sofort mit Bürgergeld zu unterstützen?

Landsberg: Wir haben damit ein deutliches Signal der Humanität und Solidarität gesendet. Dieser Personenkreis verfügt über enorme Qualifikationen. Etwa 19 Prozent der Ukrainer, die in Deutschland leben, arbeiten hier. In anderen EU-Ländern ist die Quote mit etwa 60 Prozent aber deutlich höher. Woran liegt das? Sie bieten ihnen stärkere Anreize, vom ersten Tag an zu arbeiten. Sie kombinieren Sprachkurse mit Erwerbstätigkeit. Da hat Deutschland Nachholbedarf. Wir brauchen die Arbeitskräfte. Das Potenzial ist da und die meisten wollen ja auch arbeiten.

Kretschmer: Ich sehe das auch so. Wir sollten künftig zu einem anderen System übergehen. Die Ukrainer, die schon hier leben, erhalten weiterhin Bürgergeld. Für die, die künftig kommen, sollten ab 1. Januar andere Regeln gelten. Die Zahlen des Bundesarbeitsministers über die Erwerbsquote der Ukrainer ist der sichtbare Beweis, dass wir nicht die Regeln haben, die ein Zuwanderungsland braucht. Es gilt für Deutsche wie für Zugewanderte, dass in unserem Sozialsystem Anreize und ihre Wirkung, das heißt Leistung und Gegenleistung, offensichtlich nicht austariert sind.

Das Bürgergeld muss reformiert werden. Der sogenannte Vermittlungs-Turbo, den der Bundesarbeitsminister ins Leben gerufen hat, ist im Grunde genommen nichts anderes, als den Menschen hinterher zu rennen. Das ist die falsche Herangehensweise. Und deswegen muss man zwei Dinge tun: die Leistungen drastisch reduzieren und den Zugang zum Bürgergeld reformieren. Dann werden alle, ob Deutsche oder Migranten, ganz anders bereit sein, arbeiten zu gehen.

Experten sagen, Flüchtlinge kommen nicht in erster Linie wegen der Sozialleistungen nach Deutschland, sondern weil sie hier auf Angehörige und Landsleute treffen.

Landsberg: Das ist zweifellos richtig. Flüchtlinge suchen in erster Linie Sicherheit und schauen nicht, ob sie Geld oder Sachleistungen erhalten. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie, wenn sie in der EU angekommen sind, die für sich günstigste Umgebung suchen. Aber es spielt auch die eigene Community, also Bekannte und Verwandte, eine große Rolle. Ich halte es bei allem Verständnis aber für falsch, das für alle Zeiten so weiterlaufen zu lassen.

Kretschmer: Wenn ich an der deutsch-polnischen Grenze den Menschen begegne, die hier angekommen sind, dann erlebe ich erleichterte Menschen. Sie sind sehr froh, dass die Bundespolizei mit den zumeist jungen Männern sehr anständig umgeht. Deswegen ist es mir wichtig, dass man auch jetzt die Diskussion über die Rückführung und Begrenzung mit Anstand und Würde führt. Diese Menschen wollen ein besseres Leben, das ist nachvollziehbar. Aber wenn wir sagen, nein, das geht hier nicht, dann müssen wir, die bürgerliche Mitte, dies in einem anständigen Ton machen. Es ist eine schwierige und unangenehme Aufgabe, aber sie ist zwingend.

Aber Ihr Ziel ist in erster Linie eine Begrenzung?

Kretschmer: Ja. Allerdings ist seit der Ankündigung des Bundeskanzlers, einen Pakt für Deutschland zu schmieden, der auch Migration betrifft, nach über 50 Tagen nichts passiert. Womöglich war das doch nicht so ernst gemeint. Er darf die Bevölkerung nicht enttäuschen. Ich rate allen, sich aus dem parteitaktischen Klein-Klein einer Regierung zu befreien und in eine größere gesellschaftliche Debatte auch unter Einbeziehung der Kirchen und Flüchtlingsorganisationen einzutreten. Die Zahlen müssen für die nächsten Jahre drastisch sinken. In diesem Jahr werden rund 300.000 neue Asylbewerber erwartet. Im Grunde genommen können wir in den nächsten Jahren nicht mehr als 50.000 Menschen aufnehmen, weil die Kapazitäten nicht da sind.

Erwarten Sie, dass sich die Ministerpräsidenten und der Bundeskanzler am 6. November auf Maßnahmen einigen, die eine Begrenzung bewirken?

Kretschmer: Die Bundesländer haben zahlreiche Vorschläge unterbreitet und sind inzwischen sehr ernüchtert darüber, dass der Bundeskanzler bisher nichts vorgelegt hat. Warum hat der Kanzler die Länder und den Chef der Oppositionspartei, Friedrich Merz, eingeladen? Den braucht er ja eigentlich nur, wenn er das Grundgesetz ändern will. Aber wo ist jetzt der Vorschlag zu einer Änderung des Grundgesetzes oder zu einem großen Wurf? Wir brauchen einen Plan und der muss im Wesentlichen von der Bundesregierung kommen.

Landsberg: Wir können den Menschen, die Schutz brauchen, viel besser helfen, wenn nicht mehr so viele Wirtschaftsflüchtlinge nach Deutschland kommen. Wir brauchen endlich eine Zeitenwende nicht nur in der Sicherheits-, sondern auch in der Migrationspolitik.

Unterstützen Sie die Vorschläge der Bundesregierung für schärfere Abschiebungsregeln?

Kretschmer: Wir lösen das Problem nicht allein mit Abschiebungen, wir lösen es dadurch, dass der Zustrom nach Deutschland reduziert wird. Das Recht muss auch bei Abschiebungen durchgesetzt werden. Aber vor allem muss der Schutz der EU-Außengrenzen verbessert werden, damit nicht mehr so viele Menschen kommen. Die Bundesregierung geht übrigens selbst davon aus, dass ihr Gesetzentwurf die Zahl der Abschiebungen höchstens um 600 jährlich erhöhen wird. Das ist verglichen mit der Ankündigung des Kanzlers nahe an einer Veralberung der Bevölkerung.

Ich möchte vor allem erreichen, dass wir Flüchtlingen, die Straftaten begehen, schneller ihren Aufenthaltstitel entziehen können. Das gilt zum Beispiel für jene, die das Existenzrecht Israels leugnen oder sich an antisemitischer Hetze beteiligen. In diesen Fällen ist die Integration gescheitert. Das muss Folgen haben für das Bleiberecht in Deutschland. Das Existenzrecht Israels ist Teil unserer kulturellen Identität und von allen zu akzeptieren, die hier leben wollen. Ein weiteres Beispiel: Denken Sie an den Lokführer im Erzgebirge, der einen Streit schlichten wollte und von einem jungen Schutzsuchenden krankenhausreif geprügelt wurde. Diese Tat würde nicht reichen, dem Täter den Aufenthaltstitel zu entziehen. Das wird von den meisten Menschen hier nicht akzeptiert.

Menschen aus Syrien oder Afghanistan können nicht in ihre Heimat abgeschoben werden.

Kretschmer: Darüber wird zu reden sein. Wir können doch nicht immer sagen, wir sind machtlos. Wer jetzt aus Syrien kommt, hat zuvor in der Regel in der Türkei gelebt.

Landsberg: Die Mehrheit der EU-Staaten vertritt im Rahmen des geplanten Gemeinsamen Asylrechts anders als Deutschland die Position, dass ein Asylbewerber, der vor seiner Ankunft in der EU drei oder vier Monate in der Türkei gelebt hat, aus einem sicheren Drittstaat kommt und damit auch dorthin abgeschoben werden kann.

Länder und Kommunen geben für die Unterbringung und Versorgung 2023 rund 23,3 Milliarden Euro aus. Mit welchen Forderungen gehen die Länder in die Debatte mit dem Bund?

Landsberg: Auch wenn die Kommunen an der Ministerpräsidentenkonferenz nicht teilnehmen, ist es aus unserer Sicht das zentrale Thema. Wenn wir heute den Bau einer Unterkunft für Flüchtlinge in Auftrag geben, wissen wir nicht, wer bei der Fertigstellung im Februar die Rechnung bezahlen wird. Deswegen stehen wir wie ein Mann hinter dem Beschluss der Ministerpräsidenten, dass die Finanzierung der Integration und der Unterbringung von Flüchtlingen keine kommunale Aufgabe ist. Wir fordern eine Pauschale von 1,25 Milliarden sowie mindestens 10.000 Euro pro Person und Jahr sowie die Übernahme der Unterkunftskosten. Ich weiß, das ist eine Menge Geld, aber wie wollen wir die Lage beherrschen, wenn wir das nicht bezahlen können.