Radeberg
Merken

"Sie hatte eigentlich schon mit allem abgeschlossen": Transfrau stirbt nach bewegtem Leben in Radeberg

Einst wurde ihr Leben in einem Kurzfilm gewürdigt, nun ist die Radeberger Transfrau Evi Broszeit gestorben. Ihr Großneffe, der Filmemacher Erik Lemke, erinnert sich.

Von Verena Belzer
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Evi Broszeit in ihrer Wohnung in Radeberg - sie war jahrzehntelang starke Raucherin.
Evi Broszeit in ihrer Wohnung in Radeberg - sie war jahrzehntelang starke Raucherin. © privat/Erik Lemke

Radeberg. Als die Beine amputiert werden mussten, kamen auch die Freunde nicht mehr. Was blieb, war ein Leben in "Isolationshaft". So hat Evi Broszeit ihr Dasein selbst bezeichnet. Eingesperrt in die kleine Wohnung. Unmöglich, im Rollstuhl in einem Haus ohne Fahrstuhl raus an die frische Luft zu fahren. Nicht einmal der Balkon war erreichbar - die Schwelle war zu steil.

"Mich vermisst keiner!" - so drastisch hat sie es vor vielen Jahren ihrem Großneffen Erik Lemke vor laufender Kamera gesagt. Der Kontakt zur Familie: abgebrochen. Die Beziehung zur erwachsenen Tochter: abgebrochen. Als Erik Lemke sie damals aufspürte, war Evi Broszeit schon viele Jahre allein. Ihm, dem Dresdner Filmemacher, gewährte sie dann aber doch sehr intime Einblicke in ihr Leben.

Und das, man muss es so sagen, ist doch ein außergewöhnliches gewesen. Das einer Transfrau, geboren 1957 als Ekkehard in Radeberg. Das eines Menschen, der nach der Wende viel verloren hat. Nicht nur die Arbeit. Und das einer im falschen Körper geborenen Person, die sich vor über 20 Jahren dafür entschied, eine Frau zu werden. Zu einer Zeit, als über das Thema Transgender noch kaum gesprochen wurde. Erst recht nicht in Evis Heimat. In Radeberg.

"Mit 18 war ihr klar, dass sie sich als Frau fühlte"

Als Ekkehard Broszeit 1957 zur Welt kam, war die Welt noch eine andere. Die DDR existierte, die Mauer war noch nicht gebaut. "Evi hat früh bemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmt", erinnert sich Erik Lemke, der Evi nur als Frau kennengelernt hat. Sie hat ihm ihre Lebensgeschichte bei vielen Treffen in Radeberg erzählt. "Mit 18 war ihr klar, dass sie sich nicht als Mann, sondern als Frau fühlte."

Freunde und Familie zog sie nicht ins Vertrauen, "ihr Vater hätte es nie verstanden, da war sie sich sicher", berichtet der Filmemacher. "Und im Alltag hat sie sich nichts anmerken lassen." Nach dem Abschluss an der Ludwig-Richter-Oberschule arbeitet Evi Broszeit bei Robotron. "Sie hat schon früh eigene Radioempfänger gebastelt", erzählt ihr Großneffe. "Bis zur Abwicklung des Betriebs durch die Treuhand hat sie in der Abteilung Fernsehgeräte gearbeitet."

Intimer Austausch mit einer Amateurfunkerin

Und es war auch ihre Leidenschaft zur Technik und zum Funken, die ihr eine ganz besondere Bekanntschaft ermöglichte. "Evi hat über das Amateurfunken eine andere Frau kennengelernt, die ebenfalls im falschen Körper geboren wurde und den langen Prozess der Geschlechtsumwandlung gegangen war", erzählt Erik Lemke.

"Die beiden haben sich nie gesehen, haben immer nur gefunkt. Diese Anonymität hat ihnen einen intimen Austausch ermöglicht." Doch bis sie selbst so weit war, das sollte noch lange dauern.

Geschlechtsumwandlung mit 44 Jahren

Nach der Wende wurde Evi Broszeit wie so viele arbeitslos. Mit einer eigenen Videokamera dokumentierte sie die letzten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, bevor das alte Robotron-Werk für immer seine Tore schloss. "Evi hat danach nie wieder Arbeit gefunden", erzählt Lemke.

Sie nutzte die Zeit, sich einem anderen Projekt zu widmen. Einem, das ihr so viele Jahre auf dem Herzen gelegen hatte. "Sie hat dann eine Hormontherapie begonnen", berichtet Erik Lemke. "Ich finde das schon erstaunlich, damals gab es noch kaum Beratungsangebote für Transgender, schon gar nicht in Radeberg."

Dennoch holte sie zwei unabhängige Gutachten ein, damit die Krankenkasse auch den letzten Schritt bezahlte: die geschlechtsangleichende Operation. 2001 war das. "Ich finde, man sieht daran auch, wie groß ihr Bedürfnis nach einem Leben im richtigen Körper war", sagt Erik Lemke. "Sie hat das trotz aller Widrigkeiten gemacht."

Evi Broszeit auf einem undatierten Foto - damals noch als Mann.
Evi Broszeit auf einem undatierten Foto - damals noch als Mann. © privat/Erik Lemke
Evi Broszeit als Kind.
Evi Broszeit als Kind. © privat/Erik Lemke
Evi Broszeit mit Perücke und Kette.
Evi Broszeit mit Perücke und Kette. © privat/Erik Lemke
Der Dresdner Filmemacher Erik Lemke hat den Film "Mich vermisst keiner" über das Leben von Evi Broszeit gedreht.
Der Dresdner Filmemacher Erik Lemke hat den Film "Mich vermisst keiner" über das Leben von Evi Broszeit gedreht. © Frederike van der Straeten

Ein Kurzfilm über ein außergewöhnliches Leben

Fortan lebte sie ganz offiziell als Evelin Broszeit, so ist es auch auf ihrem Ausweis notiert. Doch die glücklichen Jahre als Frau waren nur von kurzer Dauer. Wenige Jahre später folgte die Amputation eines Beines, das zweite musste ebenfalls abgenommen werden. "Sie hat jahrzehntelang stark geraucht", erzählt Erik Lemke.

2015 tauchte er bei ihr auf. "Sie hatte eigentlich schon mit allem abgeschlossen", berichtet Erik Lemke. "Aber ich war hartnäckig. Ich wollte sie unbedingt kennenlernen." Und die beiden bauten dann doch schnell eine enge Verbindung auf - und Evi Broszeit gestattete es, dass Erik Lemke ihre Gespräche aufzeichnete. "Ich glaube, sie hat sich sehr gefreut, dass da wieder jemand war, der sich für sie interessiert hat."

So entstand der Kurzfilm "Mich vermisst keiner!". Darin ist in einer knappen halben Stunde zu sehen, wie die Radebergerin lebte. Wie sie über ihr Leben spricht. Wie sie mit den Tränen kämpft, als sie alte Filmaufnahmen ihrer Familie sieht, die sie einst selbst aufgenommen hat.

Der Film wurde auf dem DOK Leipzig - dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilme - gezeigt, bei der Mitteldeutschen Filmnacht in Dresden wurde er mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Und dann lief er später auch im MDR. "Evi hat das alles mit Interesse verfolgt", sagt Erik Lemke. "Aber sie hat den Film nie gesehen. Ihr war immer vieles peinlich."

Ende Februar ist Evi Broszeit im Alter von 66 Jahren in Radeberg gestorben. "Sie ist viel älter geworden, als sie selbst dachte", erzählt ihr Großneffe. "Sie hatte immer so schlimme Probleme mit der Luft." Sie beide, sagt er, hätten zu Lebzeiten über alles gesprochen, alles geklärt. "Es kann jederzeit vorbei sein."

Haben Sie Anregungen, Wünsche oder Themen, die Sie bewegen? Dann kontaktieren Sie uns gerne per E-Mail [email protected].