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Leben mit drei Sinnen

Eine Oase - und das mitten in Radeberg: Der Taubblindendienst unterhält an der Pillnitzer Straße einen deutschlandweit einzigartigen Botanischen Blindengarten. Ein Besuch.

Von Verena Belzer
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Weich und samtig fühlen sich die Rispen des Hasenschwanzgrases an. Gerold Augart, Verwalter des Radeberger Taubblindendiensts, hilft der Reporterin beim Ertasten der Natur.
Weich und samtig fühlen sich die Rispen des Hasenschwanzgrases an. Gerold Augart, Verwalter des Radeberger Taubblindendiensts, hilft der Reporterin beim Ertasten der Natur. © René Meinig

Radeberg. Hasenschwanzgras. Der Name ist Programm. Ganz weich und samtig, irgendwie kugelig und fluffig. Die Finger tasten über die Rispen dieser Pflanze. Spüren, wie sich das Gras im Wind wiegt. Die Augen sehen nichts. Das Ohr nimmt die Umwelt noch wahr: das Knirschen des Kieses unter den Füßen, das klangvolle Singen der Vögel, das Lärmen der Stadt, die hupenden Autos.

Für einen Selbstversuch ist die Reporterin in den Taubblindengarten in die Pillnitzer Straße gekommen - Augenmaske inklusive. Einmal auch nur ansatzweise fühlen, wie sich Blinde fühlen. Verstehen, wie sie mit ihrer Einschränkung zurechtkommen. Lernen.

Gerold Augart, Leiter des Taubblindendienstes, führt durch den Botanischen Blindengarten auf dem großen Areal der Einrichtung. Seit 1989 hat der Dienst hier seinen Sitz. Die Villa Storchennest, in der einst Kinder zur Welt kamen, dient heute als Begegnungszentrum für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen aus ganz Deutschland.

Etwa 200 Betroffene kommen jährlich nach Radeberg, um hier Urlaub zu machen oder Seminare zu besuchen. In das Gebäude gegenüber kommen regelmäßig Hör- und Sehbehinderte aus Radeberg und Umgebung, um hier Sport zu treiben oder zu basteln. "Tagesstruktur" nennt sich das. "Hier können die Betroffenen einer für sie sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen", erklärt Augart. "Das stärkt das Selbstbewusstsein und hilft gegen die Isolierung, in der sich Betroffene oft befinden."

Einmal nicht auf fremde Hilfe angewiesen sein

Mit dem Bau des Botanischen Blindengarten wurde 1992 begonnen. Auf 20.000 Quadratmetern haben hier mittlerweile etwa 10.000 verschiedene Pflanzen ihren Platz gefunden, davon sind 700 Duftpflanzen.

Riechen, tasten, fühlen - Sinneswahrnehmungen, die den Taubblinden geblieben sind. Mithilfe eines Handlaufs rund um den Garten können sie sich hier ganz alleine fortbewegen und die Natur in ihrer Schönheit und Anmut erleben. Die Reporterin kann das nicht. Zumindest nicht alleine. Zu groß die Angst zu stolpern, irgendwo dagegen zu laufen. Zu stürzen, sich zu verletzen. Gerold Augart hilft, reicht den Arm als Stütze.

Der Großteil der Pflanzen wächst in Hochbeeten, damit sich die Betroffenen nicht knien müssen. Freies Erleben und Erfahren, nicht auf Hilfe angewiesen sein, das ist für die Taubblinden ein ganz besonderes Erlebnis, weshalb sich der Garten auch größter Beliebtheit erfreut. In dieser Art ist er einzigartig in Deutschland. "Hier wird Stress abgebaut, das ist ganz wichtig", erklärt Augart. "Denn Stress haben die Betroffenen ständig. Außerhalb ihrer eigenen vier Wände droht beispielsweise permanent Verletzungsgefahr."

Es duftet nach Schokolade und Vanille

Schokolade? Riecht diese Pflanze wirklich nach Schokolade oder ist das eine Sinnestäuschung? An einem anderen Hochbeet strömt der Geruch von Vanille in die Nase. Thymian oder Minze - das sind Kräuter und Gerüche, die man kennt. Aber tatsächlich: Auch nach Schokolade und Vanille kann es duften. Oder nach Gummibärchen. Zumindest riecht für Gerold Augart eine bestimmte Sorte Gras so. Die Handläufe sind mit der Braille-Schrift versehen, sie erklären, welche Pflanzen hier zu fühlen oder zu riechen sind. Manche sind groß, stachelig und piksig, andere klein, rund und weich. Und alle sind einzigartig.

Eine weitere Art der Kommunikation für Taubblinde ist das Lorm-Alphabet, bei dem Buchstaben in die Hand "geschrieben" werden. Gehörlose verständigen sich mithilfe der Gebärdensprache. "Der Großteil der 25 Mitarbeiter beherrscht eine oder mehrere dieser Kommunikationsmethoden", sagt Augart. "Bei uns arbeiten unter anderem Heilpädagogen oder Physiotherapeuten, aber auch Hauswirtschaftspersonal und Gärtner."

Nass. Wasser. Die Hände tasten sich langsam und ganz behutsam voran. Die Wasserhochbeete fühlen sich angenehm kühl an, während die Sonne den Nacken wärmt. "Ohne Gefahr zu laufen, in einen Teich zu fallen, können Betroffene hier auch einmal ganz entspannt Wasserpflanzen erfühlen und erleben", sagt Gerold Augart. Und auch die Reporterin ist dankbar, hier nicht knien zu müssen.

Der Taubblindendienst lädt am Sonntag zum Gartenfest

Wer einmal selbst den Botanischen Blindengarten erleben möchte, kann dies am kommenden Wochenende tun. Der Taubblindendienst lädt anlässlich seines 30-jährigen Bestehens zum Gartenfest. Beginn ist am Sonntag, 4. September, um 11 Uhr. Es gibt Angebote für Familien und Kinder, gemeinsames Bäumebewässern, Livemusik, einen Basarverkauf mit Produkten taubblinder Menschen und natürlich auch Essen und Trinken.

Der Eintritt ist frei. Über Spenden freut sich der Taubblindendienst sehr - denn das denkmalgeschützte Storchennest muss aufwendig saniert werden.