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Damit Kinder nicht ins Heim müssen

Im Landkreis Meißen gab es 2022 einen sprunghaften Anstieg der Inobhutnahmen. Die Kinderarche macht in Radebeul ein neues Hilfsangebot, damit Familien zusammenbleiben.

Von Silvio Kuhnert
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Katharina Liebich (r.) leitet die Integrative Familienbegleitung (IFB) der Kinderarche Sachsen in Radebeul. Zu diesem Angebot der Familien- und Jugendhilfe gehören intensive Gespräche.
Katharina Liebich (r.) leitet die Integrative Familienbegleitung (IFB) der Kinderarche Sachsen in Radebeul. Zu diesem Angebot der Familien- und Jugendhilfe gehören intensive Gespräche. © Arvid Müller

Radebeul. Wenn es mit der Familie so einfach wäre, wie sie Matthias Lang von der Kinderarche Sachsen definiert: "Die Frau ist die Regierung, der Mann ist das Volk, die Kinder sind die Opposition." Doch nicht immer folgen letztere der Chefin und manche ist mit ihrer Rolle auch überfordert. Denn eine Schule, wie Erziehung und ein glückliches Familienleben funktioniert, gibt es nicht.

Nicht zuletzt hat die Corona-Pandemie Probleme im familiären Miteinander verschärft. So ist laut dem jüngsten Jugendhilfebricht des Landkreises Meißen die Zahl der Kindeswohlgefährdungsmeldungen von 675 (2020) auf 725 (2021) gestiegen. Durch Kita- und Schulschließungen gerieten ohnehin belastete Familien in Bedrängnis. "Eltern baten um Hilfe, da sich Kinder und Jugendliche zurückzogen, Ängste und Vermeidungsstrategien (auch hinsichtlich eines Schulbesuchs) entwickelten oder depressive Züge zeigten", heißt es dort. Die Eltern selbst fühlten sich insgesamt stärker durch die allgemeine Situation belastet. Zum Vergleich: Im Vor-Corona-Jahr 2019 gab es im Kreisgebiet 312 Kindeswohlgefährdungsanzeigen.

Steigende Nachfrage nach Familienhilfe

Ein drastischer Anstieg ist bei den sogenannten Inobhutnahmen zu verzeichnen. Im vergangenen Jahr musste das Jugendamt in 256 Fällen Kinder aus der Familie holen. 2021 geschah dies 123 Mal, im Jahr davor 111 und 2019 gab es 63 Fälle. Als Gründe für Inobhutnahmen nennt das Jugendamt unter anderem Drogen gebrauchende Eltern, die die Betreuung und Versorgung ihrer Kinder nicht mehr sicherten, psychisch kranke Eltern, die akut einer Behandlung bedurften, in der Erziehung überforderte Eltern, die keinen Einfluss auf ihre Kinder mehr hatten und sich selbst meldende Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren mit gestörten Beziehungen zu ihren Eltern.

Im Obergeschoss eines Hauses an der Bennostraße ist die Wohnung der Integrativen Familienbegleitung untergebracht. Dort verbringen Eltern mit ihren Kindern einige Zeit mit Sozialpädagogen.
Im Obergeschoss eines Hauses an der Bennostraße ist die Wohnung der Integrativen Familienbegleitung untergebracht. Dort verbringen Eltern mit ihren Kindern einige Zeit mit Sozialpädagogen. © Arvid Müller

Angesichts dieser Entwicklung verwundert es nicht, dass immer mehr Familien Hilfe suchen. Zum Jahresende 2022 verzeichnete das Landratsamt in Meißen 377 Fälle, Tendenz steigend, wie Behördensprecherin Anja Schmiedgen-Pietsch mitteilte.

Damit Kinder nicht von ihren Eltern getrennt werden müssen, hat die Kinderarche ein neues Angebot in Radebeul geschaffen. In der Bennostraße gibt es eine Integrative Familienbegleitung (IBF). Es ist der dritte Standort dieser Art der Kinderarche nach Bautzen und Kamenz. „Wir freuen uns, nun auch im Landkreis Meißen dieses besondere Angebot zu machen, das Familien die Chance auf Entwicklung und eine gemeinsame Zukunft ermöglicht“, sagt Kinderarche-Vorstand Lang.

Stärkung der Erziehungskompetenz

In der IBF bekommen Familien eine intensive Betreuung und Unterstützung im Familienleben sowie bei der Erziehung. Die Ausgangsprobleme sind vielfältig. Es sind Eltern mit ihren Kindern in schwierigen Lebenslagen, sie haben Schulden oder es gibt eine Suchtproblematik aktuell oder in der Vergangenheit. Mitunter waren Mutter und Vater selbst noch Teenager, als sie Nachwuchs bekamen. Oft kommen sie selbst aus problematischen Verhältnissen, haben die Rolle fürsorgender Eltern nicht erlebt. "Die elterliche Kompetenz ist geschwächt", sagt Einrichtungsleiterin Katharina Liebich. Ziel der IBF ist es, Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken, um ein Zusammenleben der Familie auf Dauer zu ermöglichen und eine Fremdunterbringung der Kinder zu vermeiden.

Wer an dieser Jugend- und Familienhilfe teilnehmen kann, entscheidet das Kreisjugendamt. Den Mitarbeitern des Landratsamtes sind ihre Klienten bereits einen längeren Zeitraum bekannt, haben mit ihnen oft schon mehrere Hilfsangebote durchlebt. Auch wenn diese noch nicht weiter Erfolg zeigten, ist weiterhin die Hoffnung da, dass das Familienleben funktionieren kann. "Die Eltern wollen es auch. Sie möchten, dass Familie harmonisch gelebt wird", sagt Liebich.

Zwei Familien nehmen derzeit an dieser intensiven Betreuung teil. Diese ist auf sechs bis neun Monate zeitlich begrenzt. In dieser befristeten Zeit nehmen Liebich und drei Mitarbeitende die Familie unter ihre Fittiche. Familien werden in wechselnden Phasen stationär in der Einrichtung und ambulant im eigenen Wohnumfeld begleitet.

Kinderarche hat bereits 117 Familien begleitet

Die Familienbegleiter sind alle Sozialpädagogen mit Zusatzqualifikationen in Therapie und Beratung. In einem Wohnhaus in bester Lage haben sie an der Bennostraße ihr Quartier aufgeschlagen. Neben ihrem Büro und einem Therapieraum stehen Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, zwei Kinderzimmer, Bad und Küche zur Verfügung. Auch wenn das Haus von Villen des Stadtteils Oberlößnitz umgeben ist, wirkt die Einrichtung spartanisch und ist einfach und auf das Wesentliche beschränkt, wie Betten, Kleiderschränke, Tische, Stühle und eine große Couch.

Zu Beginn der Familientherapie ziehen die Klienten für eine Woche in diese Wohnung ein. "Mit der Wohnwoche wollen wir die Familien aus ihrem Alltagstrott herausnehmen", berichtet Liebich. In dieser Woche fahren die Begleiter mit ihnen zur Schule, gehen gemeinsam spazieren, kochen und essen zusammen. Zwischendurch gibt es viele Gespräche, Tipps und Ratschläge. Es schließt sich eine fünfwöchige ambulante Betreuung an. Danach folgt wieder eine Familienwoche in der Wohnung in der Bennostraße.

Über die Kosten der mehrmonatigen Rundumbetreuung wird geschwiegen. Sie ist nicht billig, sei aber nicht so kostenintensiv, die das Unterbringen im Kinderheim zur Folge hätte. In den Integrativen Familienbegleitungen in Bautzen (mit zwei Angeboten) und Kamenz (mit einem Angebot) sind seit 2008 insgesamt 117 Familien begleitet und unterstützt worden.