SZ + Riesa
Merken

Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain: Herr Nagel, vermissen Sie die Russen?

Nachfahren sowjetischer Kriegsgefangener interessieren sich mehr für den Ehrenhain Zeithain als die Deutschen selbst. Ab April soll sich das ändern.

 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Jens Nagel, Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain, hofft, ab April wieder Besucher aus der Region zur Sonntagsführung begrüßen zu können. Besucher aus Russland sind dagegen selten geworden.
Jens Nagel, Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain, hofft, ab April wieder Besucher aus der Region zur Sonntagsführung begrüßen zu können. Besucher aus Russland sind dagegen selten geworden. © Sebastian Schultz

Zeithain. Vor dem Ukraine-Krieg hatte die Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain oft Besucher aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Vor allem viele Russen suchten hier nach Spuren ihrer vermissten Väter und Großväter, die im hiesigen Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht ums Leben kamen. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind diese Besucher weniger geworden.

Sächsische.de sprach darüber mit Gedenkstättenleiter Jens Nagel und über die Sonntagsführungen, die ab 7. April wieder angeboten werden.

Herr Nagel, vermissen Sie die Russen?

Ja, die Angehörigen vermissen wir schon. Es ist schon ein Problem, dass wir durch den Ukraine-Krieg vom einwohnerstärksten Land der früheren Sowjetunion abgeschnitten sind.

Wie viele Besucher aus der Russischen Förderation kamen so durchschnittlich im Jahr?

Vor der Corona-Pandemie 2020 hatten wir die höchste Besucherzahl. Das waren etwas mehr als 200 Personen, die oft auch in Gruppen da waren. Trotz des Krieges in der Ukraine hat das Interesse an unserer Einrichtung nicht nachgelassen. Wir erhalten nach wie vor Anfragen aus der Russischen Förderation, die wir auch beantworten. Wir informieren auch wieder über die Gedenkfeier am 23. April zum 79. Jahrestag der Befreiung des hiesigen Kriegsgefangenenlagers, obwohl wir auch wissen, dass die Angehörigen aus Russland nicht kommen können.

Wie sieht es mit Besuchern aus der Ukraine aus?

Wenn Ukrainer zu uns kommen, dann sind es meistens Flüchtlinge. Wir hatten aber auch im letzten Jahr zwei Familien, die extra aus der Westukraine angereist waren.

Haben die Besuche von Angehörigen in den letzten zwei Jahren, seit Beginn des Ukraine-Krieges, abgenommen?

Ja, sicher. Die Russen waren bis dahin die größte Gruppe unserer ausländischen Besucher.

Wie wichtig waren und sind die Besuche aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion?

Sie sind schon sehr wichtig für unsere Arbeit. Die Angehörigen ehemaliger Kriegsgefangener können über russische Internet-Datenbanken, die nach wie vor funktionieren, Informationen über den Verbleib ihrer Väter, Großväter und mittlerweile auch schon Urgroßväter erhalten. Aber wir können anhand der Wehrmachtsdaten genauere Informationen über Arbeitseinsätze, Erkrankungen und Lazarettaufenthalte geben.

Jetzt ist der Krieg ja fast 80 Jahre vorbei. Werden es nicht immer weniger Anfragen?

Das hatte ich auch gedacht. Aber die Anzahl der Anfragen ist in den letzten Jahren ziemlich gleich geblieben.

Welches Alter haben die Besucher aus dem Ausland?

Als wir 2006 zum ersten Mal unsere Informationen über das Kriegsgefangenenlager Zeithain im Internet verbreitet haben, kamen häufig Anfragen von Kindern der Soldaten. Die waren zu diesem Zeitpunkt auch schon alt. Das ist mittlerweile die Ausnahme.

Die letzte Besucherin aus der Kriegsgeneration war eine Tochter, die uns kurz vor der Pandemie besuchte. Ich erinnere mich noch gut daran, denn das erste Foto, das sie von ihrem Vater hatte, war ein Wehrmachtsfoto aus Zeithain, das sie hier zum ersten Mal sah. Bis dahin wusste sie gar nicht, wie ihr Vater ausgesehen hatte.

Um aber bei Ihrer Frage zu bleiben: Mittlerweile besuchen uns auch die Enkel und Urenkel. Innerhalb der Familien scheint es ein Bewusstsein zu geben, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Im Mai will uns zum Beispiel eine Russe besuchen, dessen Urgroßvater hier liegt.

Also kommen Russen nach wie vor nach Zeithain?

Ja, es gibt auch Russen, die in Westeuropa leben. Zur Gedenkfeier wollen zwei Frauen aus Russland kommen, die ein Dauervisum haben. Da bin ich gespannt drauf.

Das Interesse der Russen an Zeithain scheint nicht zu verblassen, oder?

Ja, das ist so. Und auch die Ukrainer sind sich dieses besonderen Ortes bewusst. Von den Kriegsgefangenen, die hier starben, waren mindestens 20 Prozent Ukrainer.

Haben Russen und Ukrainer mehr für die hiesige Gedenkstätte übrig als wir Deutschen?

Ja, das glaube ich schon. Aber das betrifft auch andere osteuropäische Länder. Auch die Polen haben ein größeres Interesse und Bewusstsein. Ich glaube, was in Deutschland das Problem ist, dass sich viele gar nicht im Klaren sind, wie lange die deutsche Besatzungszeit über Generationen nachwirkt.

Würden Sie sich wünschen, dass auch mehr Menschen aus der Region diesen Ort besuchen?

Natürlich, vielen ist gar nicht bewusst, dass Zeithain in Sachsen der Ort mit den meisten Opfern des Nationalsozialismus war. Hier sind rund 30.000 Kriegsgefangene ums Leben gekommen. Das ist vergleichbar mit den Opferzahlen in den Konzentrationslagern.

Ab dem 7. April lädt das Ehrenhain Zeithain immer am ersten Sonntag im Monat ab 14 Uhr zu Rundgängen ein. Warum sollten nicht nur Schulklassen, sondern auch Erwachsene den Ehrenmal Zeithain besuchen?

Vorab, man kann den Ehrenhain immer besuchen. Die Sonntagsführungen sind aber dazu da, den Leuten diesen Ort vorzustellen. Nationalsozialismus verbinden alle mit KZ. Aber das ist einer der Orte, wo die Wehrmacht an einem der größten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges teilnahm. Über drei Millionen tote sowjetische Kriegsgefangene kommen ja nicht von irgendwoher.

Außerdem wollen wir diesen merkwürdigen Ort näherbringen. Der Ehrenhain ist ja eigentlich was Komisches. Wer setzt mitten auf den Acker so eine parkähnliche Anlage hin? Sie war ja nicht da, um auf das Schicksal der Kriegsgefangenen aufmerksam zu machen, sondern die Sowjetunion als Siegermacht und die Soldaten der Roten Armee als Helden zu ehren. Das hat sich geändert.

  • Das Gespräch führte Jörg Richter.