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Riesa: Wie lebt es sich im Obdachlosenheim?

Die Tage für die Einrichtung am Standort Klötzerstraße sind gezählt. Eine Weile müssen Mitarbeiter und Bewohner dort aber noch bleiben. Ein Besuch.

Von Sarie Teichfischer
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Lisa Smyrek ist seit vier Jahren Leiterin des Obdachlosenheims der DRK.
Lisa Smyrek ist seit vier Jahren Leiterin des Obdachlosenheims der DRK. © Sebastian Schultz

Riesa. Es war ein Aufschub quasi in letzter Sekunde: Eigentlich hatte das Deutsche Rote Kreuz die Betreibung der Riesaer Obdachlosenunterkunft der Stadt bereits gekündigt. Zu lange hatte sich die Suche nach einem neuen Standort hingezogen. Dann ließ sich die Organisation auf Bitten der Kommune doch darauf ein, die Notunterkunft an der Klötzerstraße weiterzubetreiben – zunächst bis Ende Juni dieses Jahres. Nun ist wieder Winter und die Probleme im Gebäude sind die altbekannten: Die Fenster, die Elektro-Leitungen, die Abwasserrohre – alles ist alt und marode. Erst kürzlich seien wieder Reparaturen am Dach nötig gewesen.

Das Heim an der Klötzerstraße. Fürs Außengelände sind vorrangig die Bewohner zuständig.
Das Heim an der Klötzerstraße. Fürs Außengelände sind vorrangig die Bewohner zuständig. © Sebastian Schultz

18 Bewohner, Platz für 40

Von den drei Etagen im Haus sind zwei bewohnt, erzählt Leiterin Lisa Smyrek. Die ausgebildete Sozialpädagogin arbeitet seit fast vier Jahren hier. Sie führt uns durchs Haus: In jedem Geschoss gibt es zehn Doppelzimmer. Ausgestattet mit zwei Betten, zwei Schränken, einem Tisch und Stühlen. Einziger Farbtupfer: die lila Fenstervorhänge. Derzeit leben 18 Menschen hier – einige schon seit vielen Jahren. Ausgelegt sei die Unterkunft für maximal 40 Leute. „Gerade sind wir sehr wenige, weil wir in den letzten Monaten fünf Auszüge hatten“, so die Leiterin. Das seien vor allem junge Leute gewesen.

Die Zimmer sind jeweils um die 12 Quadratmeter groß und werden in der Regel von zwei Leuten bewohnt.
Die Zimmer sind jeweils um die 12 Quadratmeter groß und werden in der Regel von zwei Leuten bewohnt. © Sebastian Schultz

Lisa Smyreks Büro liegt im Erdgeschoss. Fast daneben der Aufenthaltsraum, der auch als Speisesaal dient. Den großen Bildschirm an der Wand dort „haben wir mal gespendet bekommen“, erzählt Smyrek. Der Raum wird auch für Veranstaltungen wie die Weihnachtsfeier genutzt. Für Grillfeste im Sommer werden Stühle vors Haus getragen. „Wir sind nicht für die Freizeitgestaltung zuständig, versuchen aber, kleine Highlights zu setzen.“ Das Abendessen wird geliefert, Frühstück bereiten die ehrenamtlichen Helfer zu.

Fotos an der Wand zeigen eine besondere Veranstaltung. „Ich wollte Fachleute aus der Sucht- und Schuldnerberatung sowie der gesetzlichen Betreuung mit aktuellen und ehemaligen Bewohnern zusammenbringen“, erzählt Lisa Smyrek von dem Projekt. „Mir war wichtig, dass Leute aus eigener Erfahrung berichten, wie sie es aus der Wohnungslosigkeit rausgeschafft haben, um bei den anderen den Motor wieder anzuschmeißen.“ Der Besuch von Ehemaligen sei für sie jedes Mal ein Erfolgserlebnis: „Und wenn sie nur für fünf Minuten vorbeischauen und kurz erzählen, was sie jetzt machen.“

Vielleicht wird auch Ralf (Name geändert) bald zu den Ehemaligen gehören. Der 34-jährige Riesaer wohnt seit vier Jahren hier. Wegen Mietschulden konnte er seine Wohnung nicht halten. Gerade hat er diese Schulden abbezahlt, von Bürgergeld, wie er erzählt. „Ich will unbedingt wieder in eine eigene Wohnung ziehen“, sagt er und lächelt. Vorher steht aber eine stationäre Alkohol-Entzugskur an. In seiner Zeit hier hat er ehrenamtlich den Vorplatz der Arena saubergemacht und auch auf dem Heimgelände geholfen: Rasen mähen, Straße saubermachen, Müll wegräumen. Die Tätigkeiten hat er jetzt an seinen Zimmernachbarn übergeben.

„Am Anfang war es schwer für mich, die Kontakte hier zu nutzen und Hilfe anzunehmen“, erinnert sich der 34-Jährige. Es sei ein Prozess gewesen, auch mit Rückschritten – aber er sei drangeblieben. Und habe die Vorteile in der Notunterkunft zu schätzen gelernt: „Ich bin hier unter Leuten - die mir im Notfall in den Hintern treten können“, sagt er mit einem dankbaren Blick auf Lisa Smyrek und ihre Kollegin. Dass er sich das Zimmer mit jemandem teilen muss, störe ihn nicht. Was er vermisse, sei, zu kochen. In die hauseigene Küche darf der gelernte Beikoch trotz seines Berufs und seines Hygiene-Ausweises nicht – die ist laut Vorschrift Mitarbeitern vorenthalten. Nach seiner Zeit in der Obdachlosenunterkunft will Ralf wieder als Koch arbeiten.

Fester Tagesablauf

Die Geschichten der Menschen, die hier landen, seien sehr unterschiedlich, erzählt die Leiterin. Viele hätten Mietschulden. Manche kämen direkt von der Wohnungs-Zwangsräumung (die ihnen in Rechnung gestellt wird, was wieder Schulden macht). „Manche stranden einfach, waren in verschiedenen Städten schon wohnungslos. Andere sind vorher bei Freunden untergekommen.“ Für viele sei es „ein Riesenschritt“, in die Obdachlosenunterkunft zu kommen. Oft hätten die Betroffenen schon lange Zeit keine Post mehr geöffnet und sich keine Hilfe geholt. „Manche bringen ihre persönlichen Sachen mit. Andere kommen mit nix, da müssen wir erst mal Wechselsachen organisieren.“ Es gebe Bewohner mit viel Anbindung und Kontakten „nach draußen“. Andere hingegen seien einsam und fürchteten deshalb einen Auszug.

Im Aufenthaltsraum werden auch gemeinsam die täglichen Mahlzeiten eingenommen.
Im Aufenthaltsraum werden auch gemeinsam die täglichen Mahlzeiten eingenommen. © Sebastian Schultz

In der Obdachlosenunterkunft gibt es einen festen Tagesablauf. „Wir versuchen, eine Struktur vorzugeben, zum Beispiel mit Essenszeiten“, sagt Lisa Smyrek. „Allein das fehlt ja vielen sonst.“ Auch die Bürozeit der beiden hauptamtlichen Mitarbeiterinnen sorge für einen gewissen Rhythmus. „In dieser Zeit schreiben wir mit den Bewohnern an Behörden oder ordnen Unterlagen.“ Morgens gehöre für das Personal auch ein Blick in die Zimmer dazu, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Manche Bewohner verlassen dann das Haus, um zur Arbeit zu gehen. Auch die Reinigungsarbeiten sollen möglichst vormittags erledigt werden - dafür gibt es Wochenpläne, die ausgehängt werden. „So müssen die Leute hier Verantwortung übernehmen und merken außerdem, dass sie schon etwas geschafft haben.“

Neue Wohnung kein Allheilmittel

Auf Leute, die in Schichten arbeiten gehen, werde Rücksicht genommen. Sie bekommen ein Zimmer im Haus für sich. „Es gibt einige, die arbeiten gehen und wohnungslos werden und nicht so schnell eine neue Wohnung finden“, sagt Lisa Smyrek. „Oder sie haben hohe Schulden und nutzen ihr Gehalt, um diese über lange Zeit abzuzahlen.“ Arbeiten zu gehen und in einem Obdachlosenheim zu leben, sei kein Widerspruch: „Manche sind auf Arbeit beflissen, vermüllen aber ihre Wohnung, aus der sie deshalb rausfliegen.“

Die Hausordnung in der Klötzerstraße besagt, dass ein ruhiges Zusammenleben möglich sein soll. Respekt, gegenseitige Rücksichtnahme und Beteiligung sollen Grundpfeiler sein. Sanitäranlagen und Aufenthaltsraum müssen die Bewohner saubermachen. Im Gebäude gilt ein generelles Alkohol- und Drogenverbot. „Die meisten versuchen, sich an die Regeln zu halten, weil sie die Unterkunft schätzen“, so Smyrek.

Auch für die Beschäftigten im Haus gibt es Regeln – eine Art Leitfaden im Umgang mit den Bewohnern. „Man muss schauen: Was gibt man hier von sich preis und was nicht“, so Lisa Smyrek. Das sei wichtig, um eine gesunde Distanz zu wahren, „gerade für die vielen ehrenamtlich Beschäftigten, die uns hier unterstützen“. Momentan gebe es fünf Ehrenamtler plus mehrere Bundesfreiwilligendienstler.

Der Weg aus der Obdachlosigkeit heraus ist für viele Bewohner alles andere als leicht, weiß Lisa Smyrek. „Vielen fehlt eine Familie im Hintergrund oder ein zuverlässiger Partner als Unterstützung.“ Man müsse die Bewohner auch von Illusionen befreien: „Eine neue Wohnung allein löst nicht plötzlich alle Probleme.“ Im Gegenteil: "Man ist auf sich selbst gestellt, muss seinen Verpflichtungen nachkommen und, wenn notwendig, Hilfe annehmen können." Darüber hinaus bliebe man teilweise als ehemaliger Wohnungsloser stigmatisiert und bekomme schwerer einen Job. Es gäbe durchaus Fälle, die dann wieder hierherkämen.