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Wie ein Bundeswehrsoldat im Obdachlosenheim landete

Paul stürzte nach einer Armeekarriere in ein tiefes Loch. Der 53-Jährige ist nun einer von zurzeit 30 Wohnungslosen in Görlitz. Wie die Stiftung Lichtblick den Obdachlosen hilft.

Von Olaf Kittel
 10 Min.
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Paul Reever hat 20 Jahre in der Bundeswehr gedient.. Dann kam der Absturz und er landete im Obdachlosenheim, wo er jetzt auch beim Schneeschippen hilft.
Paul Reever hat 20 Jahre in der Bundeswehr gedient.. Dann kam der Absturz und er landete im Obdachlosenheim, wo er jetzt auch beim Schneeschippen hilft. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Er hat es sich in seinen bösesten Alpträumen nicht vorstellen können, mal in einem Obdachlosenheim zu leben. Er hatte doch Karriere gemacht, ihm ging es gut, er hatte sicheren Halt in der Familie. Aber Paul Reever (Name geändert) hat es trotzdem getroffen. Zu viel lief mitten in seinem Leben schief. Dem jahrelangen Aufstieg folgte ein jahrelanger Abstieg.

Der gelernte Landmaschinenschlosser aus der Oberlausitz absolvierte in den 1990er-Jahren seinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr und muss sich dabei gut angestellt haben. Anschließend verpflichtete er sich längerfristig, wurde bald in ein Nato-Einsatzkommando aufgenommen, stieg zum Zugführer einer ziemlich geheimen Luftlandeeinheit auf, ausgerüstet mit deutscher Uniform und amerikanischem Dienstgrad. Er wurde mit seiner Einheit zu vielen Auslandseinsätzen gerufen. Sie sprangen mit dem Fallschirm hinter feindlichen Linien ab, wurden in Kämpfe verwickelt, beseitigten Minenfelder.

Posttraumatische Belastungsstörung nach Auslandseinsatz

Doch mit Mitte 40 begann sein Leben zu kippen. Damals wurde er nach fast 20 Jahren Dienst altersbedingt aussortiert – und verließ das Militär mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Eine Erkrankung, über die beim Bund niemand gern redet, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, und über die viele Soldaten klagen, die in Auslandseinsätzen waren. Die Körper reagieren dabei übel auf unverarbeitete Gefahrensituationen.

Zunächst versuchte er sich nach der Bundeswehr als selbstständiger Autoglaser. Das ging nicht lange gut, er musste aufgeben. Als Selbstständiger hatte er aber Anspruch auf soziale Leistungen verloren. Dann warf ihn seine Frau aus der Wohnung, weil er nicht mehr der Mann war, den sie einst geheiratet hatte: krank und total verschlossen.

"Nur mit Hilfe kommt man wieder raus"

Seine Ersparnisse waren weitgehend aufgebraucht, er hatte sie in die gemeinsame Wohnung und in die Kinder gesteckt, sagt er. Die nächsten Jahre überstand er irgendwie mit Hilfe von Familienmitgliedern. Als die aber nicht mehr länger helfen konnten oder wollten und Rückzahlungen staatlicher Leistungen fällig wurden, musste er kapitulieren. Kein Geld mehr da.

Er verbüßte deshalb 2023 zwei Monate Haft und wurde im Oktober schließlich in die Obdachlosigkeit entlassen. Seither lebt er in der Wohnstätte der Wohnungslosenhilfe. „Ich bin jetzt ganz unten angekommen“, sagt Paul Reever.

In den wenigen Wochen in dieser Einrichtung hat er schon erkannt: „Nur mit Hilfe kommt man wieder raus.“ Bisher war er viel zu stolz, um Hilfe anzunehmen und auch nur Bürgergeld zu beantragen.

Wie Sie über Lichtblick weiterhin Menschen in Not helfen können

Die Stiftung Lichtblick sammelt das gesamte Jahr hindurch für in Not geratene Menschen in unserer Region, die keine andere Unterstützung finden. Die Spenden werden das ganze Jahr über vergeben. Die Spenden können Sie auch online überweisen unter www.lichtblick-sachsen.de/jetztspenden

Hilfesuchende wenden sich bitte an Sozialeinrichtungen ihrer Region wie Diakonie, Caritas, DRK, Volkssolidarität, Jugend- und Sozialämter.

Erreichbar ist Lichtblick telefonisch dienstags und donnerstags von 10 bis 15 Uhr unter 0351/4864 2846, [email protected] ; Stiftung Lichtblick, 01055 Dresden. www.lichtblick-sachsen.de

Bankverbindung: Ostsächsische Sparkasse Dresden, IBAN: DE88 8505 0300 3120 0017 74

Im Obdachlosenheim aber gibt es zwei junge Sozialarbeiterinnen, Franka Bergmann und Laura Lehfeld, die sich den ganzen Tag um ihn und die etwa 20 anderen Bewohner kümmern. Die lange Gespräche mit allen führen, Kontakte zu Behörden anbahnen, Leistungen beantragen, mit den Wohnungslosen persönliche Strategien entwickeln, damit sie möglichst rasch wieder selbstständig leben können.

Gemeinsam mit drei weiteren Mitarbeitern des Heims organisieren sie den Tagesablauf. Die Bewohner müssen sich zwar selbst versorgen, aber es gibt wöchentlich ein gemeinsames Frühstück, es gibt einen freundlichen, warmen Aufenthaltsraum mit Kaffeemaschine. Aber allzu sehr wohlfühlen sollen sich Obdachlose gar nicht, denn manche könnten sich durchaus vorstellen, hier ständig zu leben. Aber das ist nicht vorgesehen, die Plätze werden immer wieder für neue Fälle gebraucht.

Strenge Regeln im Obdachlosenheim

Deshalb müssen die jungen Frauen manchmal auch härtere Maßnahmen ergreifen. So hat zum Beispiel ein junger Bewohner vormittags Hausverbot, damit er sich mal aus dem Bett erhebt. Probleme gibt es mit Alkohol und – zunehmend – mit Drogen, meist hinter den Rücken der Betreuerinnen, die ahnen, dass für die Beschaffung Straftaten verübt werden. „Wir können reden, wir wollen Vertrauen schaffen, wir können Therapien anbieten“, erklärt Franka Bergmann, die gerade erst ihr Studium abgeschlossen hat. Mehr können sie aber auch nicht.

Paul Reever ist beeindruckt: „Die Frauen machen das richtig gut, Männer könnten das wahrscheinlich so gar nicht. Die Bewohner haben Respekt.“ Gemeinsam haben die Sozialarbeiterinnen mit ihm einen Weg entwickelt, wie er hier wieder rauskommen kann.

Das Jobcenter erstellt gerade ein Praktika-Programm, nach dem er klarer sehen kann, welchen Beruf er künftig ausüben will. Es könnte danach eine Umschulung anstehen. Dann folgt die Jobsuche. Schließlich werden sie gemeinsam eine Wohnung für ihn finden.

Franka Bergmann glaubt, dass Reever es Mitte 2024 geschafft haben könnte und für ihn ein neues Leben beginnt. Mitnehmen von hier wird er, ist er sicher, Freundschaften, die es seiner Meinung nach „draußen“ so nicht gibt. Wirklich Freundschaften? „Na ja, vielleicht eher Zweckgemeinschaften mit Respekt und Toleranz“, präzisiert er. Auf jeden Fall eine starke Erfahrung, viele erleben sie zum ersten Mal.

Klaus-Dieter Schröter fand mit Unterstützung der Sozialarbeiter in Görlitz. eine Wohnung, nachdem er obdachlos geworden war. Mit Hilfe von Lichtblick konnte er sich eine Waschmaschine kaufen.
Klaus-Dieter Schröter fand mit Unterstützung der Sozialarbeiter in Görlitz. eine Wohnung, nachdem er obdachlos geworden war. Mit Hilfe von Lichtblick konnte er sich eine Waschmaschine kaufen. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Manche wirft der Jobverlust aus der Bahn

Wer gerade die Wohnung verloren hat oder wem die Wohnungskündigung droht, der meldet sich in Görlitz im Büro der Wohnungslosenhilfe, eine Einrichtung der AWO Oberlausitz. Bei Doris Hotho, stellvertretende Leiterin und seit 25 Jahren dabei, melden sich junge Leute, die sich im Konsumrausch verschuldet haben und nicht weiter wissen. Es kommen Familien, denen manchmal erst hier im Büro tränenreich bewusst wird, was die Wohnungslosigkeit für sie konkret bedeutet, für die Erwachsenen, gerade aber auch für die Kinder. Es kommen viele Ältere, oft ist zuvor der stärkere Partner verstorben. Und es kommen psychisch kranke Menschen. Manche wirft der Jobverlust aus der Bahn, oft sind Betroffene nicht in der Lage, selbst Hilfen zu beantragen, schon gar nicht digital. Der Frauenanteil ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.

Doris Hotho berät etwa 150 Personen im Jahr, vielen kann sie weiterhelfen, nicht allen. In seltenen Fällen gelingt es ihr sogar, drohende Wohnungskündigungen rückgängig zu machen, wenn die Mietschulden nicht zu hoch sind. Auch die Stiftung Lichtblick konnte da schon mithelfen.

Wer obdachlos geworden ist, kann einen Platz in der Wohnstätte bekommen, die Stadt Görlitz hat zudem zehn kleine Wohnungen zur Verfügung gestellt, in die vorwiegend Familien und Betroffene einziehen, die einer geregelten Arbeit nachgehen. Um die zehn Obdachlose lassen sich nicht helfen und leben auf der Straße, sie treffen sich meist auf dem Marienplatz.

Doris Hotho muss in fast jedem Fall schnell handeln, um Schlimmeres zu vermeiden. Dabei hilft ihr ein Nothilfefonds, über den sie verfügen kann. Daraus kann sie Bedürftigen, die kein Geld haben, ein paar Lebensmittel bezahlen, mal eine Fahrkarte zum Arzt oder eine einfache neue Brille. Sie gibt Notrationen aus und übernimmt die Kosten für einen neuen Ausweis. Maximal 75 Euro pro Person kann sie im Jahr ausgeben.

Diesen Nothilfefonds füllt jährlich die Stiftung Lichtblick aus Spendengeldern der Leser der Sächsischen Zeitung. Doris Hotho ist sehr dankbar dafür. Quittungen und Belege hebt sie gewissenhaft auf.

Den Erfolg ihrer Arbeit messen Doris Hotho und ihre Kolleginnen vor allem daran, ob es gelungen ist, Menschen wieder in eine feste Bleibe zu vermitteln - und daran, dass sie später nicht doch wieder in der Beratungsstelle auftauchen.