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Kulturschock in Riesa

Im hiesigen Azurit-Seniorenzentrum arbeiten zwei Pflegerinnen aus Mexiko. Wie haben sie sich hier eingelebt? Was lieben sie an Riesa? Was ist ihnen fremd?

Von Jörg Richter
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Melissa Aguilera (rechts) und Ivette Velázquez (Mitte) kümmern sich gern um Heimbewohnerin Erika Sacher.
Melissa Aguilera (rechts) und Ivette Velázquez (Mitte) kümmern sich gern um Heimbewohnerin Erika Sacher. © Sebastian Schultz

Riesa. Erika Sacher lässt sich gern von den beiden jungen Damen aus Mexiko den Puls messen. Sie seien freundlich und lieb. Und auch, wenn die Krankenpflegerinnen eine Mund-Nasen-Maske tragen müssen, kann man an ihren Augen sehen, wenn sie lachen. 

Ivette Velázquez (29) kam bereits im Februar nach Riesa und lernte im Azurit Seniorenzentrum die hiesige Pflegewelt kennen. Die 26-jährige Melissa Aguilera folgte ein paar Wochen später. "Sie haben beide eine sehr gute medizinische Ausbildung", sagt Hausleiter Stefan Lux. "Ich bin froh, dass sie bei uns sind." 

Immerhin fünf Jahre haben sie in ihrer Heimat gelernt, um Krankenpflegerin zu werden. Trotzdem mussten sie in Deutschland noch mal die Schulbank drücken, um als Pflegekraft nach hiesigen Maßstäben anerkannt zu sein und auch die Sprache zu lernen. Nun sind sie fertig und haben die Arbeitserlaubnis endlich in der Tasche.

Deutsche Sprache, schwere Sprache

Die Arbeit mit den älteren Menschen bereitet ihnen Freude. "Ich liebe unsere Heimbewohner", sagt Melissa. Sie und Ivette würden sich gern mehr mit ihnen  unterhalten, um sie besser kennenzulernen. "Aber Deutsch ist nicht einfach", sagt Ivette. Vor allem die Grammatik sei schwierig und viele Wörter ganz anders als im Spanischen. 

Ursprünglich hatten sie Englisch gelernt, um sich auf eine Arbeitsstelle in den USA und Kanada vorzubereiten. Doch dann wurden an ihren Schulen verstärkt Absolventen für Deutschland gesucht. Seit September 2019 gibt es zwischen dem lateinamerikanischen Land und der Bundesrepublik eine Vereinbarung , die es  qualifizierten, mexikanischen  Pflegekräften ermöglicht, schneller eine Arbeitserlaubnis in Deutschland zu erhalten. 

Der Riesaer Azurit-Hausleiter Stefan Lux ist froh, dass die beiden freundlichen Mexikanerinnen zu seinem Team gehören.
Der Riesaer Azurit-Hausleiter Stefan Lux ist froh, dass die beiden freundlichen Mexikanerinnen zu seinem Team gehören. © Sebastian Schultz

Mexiko ist ein relativ junges Land. Das Durchschnittsalter liegt bei 29 Jahren. Die Pflegeschulen dort haben einen hervorragenden Ruf. Sie bilden aber deutlich über Bedarf aus. Zudem liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei rund sieben Prozent. Viele junge Mexikaner lassen sich deshalb zum Krankenpfleger ausbilden, um sich in einem anderen Land ein besseres Leben aufbauen zu können. 

Auch Ivette und Melissa sind so nach Deutschland gekommen. Genauer gesagt in die sächsische Provinz, ins beschauliche Riesa. Hier erlebten sie in mancher Hinsicht einen Kulturschock. Schon die "Größe" der Kleinstadt machte sie sprachlos.

Ivette stammt auch Guadalajara, das in ihrem Land auch die "Perle des Westens" oder das "Silicon Valley" von Mexiko genannt wird. Mit 1,5 Millionen Einwohner ist es die zweitgrößte Stadt Mexikos. Melissa ist sogar in einer der größten Metropolregionen der Welt aufgewachsen: In der Hauptstadt Mexiko-City und dem angrenzenden Ballungsraum leben 21 Millionen Menschen. 

Klein, aber sicher

Im Vergleich dazu muss Riesa mit seinen 30.000 Einwohnern für die beiden Mexikanerinnen wie ein Dorf vorkommen. "Riesa ist sehr klein. Hier gibt es keinen Stress", drückt es Melissa diplomatisch aus. Ivette ergänzt: "Wir fühlen uns aber hier sehr sicher." Das sei tatsächlich ein sehr großer Vorteil. 

Dass Frauen nachts allein durch die Stadt gehen können, kennen sie aus ihren Heimatstädten nicht. Dort gebe es viel mehr Kriminalität und Gewalt. Frauen würden sich abends ohne männliche Begleitung nicht aus dem Haus trauen. 

Etwas ist und bleibt für sie aber befremdlich, auch wenn es ihnen eine Arbeitsstelle in Deutschland ermöglicht. "Hier gibt es so viele Senioren- und Pflegeheime", wundert sich Ivette. "Bei uns helfen alle in der Familie den Alten." Selten würde jemand in ein Pflegeheim abgegeben, nur, wenn eine Krankheit sehr fortgeschritten sei. 

Bedarf nach wie vor hoch

"Grundsätzlich ist es gut, wenn die Leute länger in den Familien bleiben und dort ihren Lebensabend bestreiten können", sagt Stefan Lux. Im Gegensatz zu Mexiko wird die Bevölkerung in Deutschland immer älter. Deshalb ist der Bedarf an Seniorenhäusern nach wie vor hoch. Die Azurit-Gruppe betreibt bundesweit 57 Senioren- und Pflegezentren. In Sachsen sind es neben Riesa auch Häuser in Kamenz, Borna, Hartmannsdorf, Aue/Bad Schlema, Thalheim/Erzgebirge, Gersdorf, Chemnitz (2 Stück) und Leipzig (2). Ein drittes entsteht derzeit in der Messestadt. 

Wie Lux bestätigt, verstärke sich allerdings auch ein anderer Trend. Die Verweildauer in den Heimen würde immer kürzer. Das sei ein Hinweis, dass auch hierzulande die Menschen ihre älteren Angehörigen, so lange es geht, zuhause pflegen wollen. 

"Wir vermissen unsere Familien sehr", sagen die beiden Mexikanerinnen. Übers Wochenende mal schnell nach Hause fliegen, funktioniert leider nicht. Guadalajara ist knapp 10.000 Kilometer Luftlinie von Riesa entfernt. Direktverbindungen ab Flughafen Dresden gibt es nicht. Von hier ist man mehr als 35 Stunden unterwegs, um über Amsterdam und Mexiko-City in Ivettes Heimatstadt zu fliegen. Zurück die gleiche Tortur.

Doch bald ist es soweit. Im Dezember haben beide Urlaub und fliegen für drei Wochen nach Mexiko. Dann werden sie ihre Liebsten wiedersehen und ihnen berichten von ihrem Leben, von ihrer Arbeit und von den Leuten im fernen Deutschland. Und dass es dort eine winzige Stadt namens Riesa mit vielen alten Menschen gibt.

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