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Wenn Angst vor Putin das Denken bestimmt

Verteidigung oder Unterwerfung? Ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine macht sich in Deutschland Ängstlichkeit breit – wie vom Kreml gewollt. Ein Kommentar vom ehemaligen Moskaukorrespondenten der SZ.

Von Uwe Peter
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Die Gründe für diesen Krieg liegen nicht in der Ukraine oder im Westen. Sie sind im Kreml ganz einfach ausgedacht, sagt SZ-Redakteur Uwe Peter.
Die Gründe für diesen Krieg liegen nicht in der Ukraine oder im Westen. Sie sind im Kreml ganz einfach ausgedacht, sagt SZ-Redakteur Uwe Peter. © Pool Sputnik Kremlin/AP

Seit einem Jahr haben wir wieder einen Krieg in Europa, näher an unseren Grenzen als je zuvor seit 1945. Einen Krieg, der auch uns betrifft, allein schon wegen der Zehntausenden Kriegsflüchtlinge in unserem Land. Auch wegen energiepolitischer Verwerfungen, die spürbar höhere Preise für fast alles nach sich ziehen. Und auch wegen der Frage, wie wir uns in und zu diesem Krieg verhalten sollen.

Ist es unerlaubte Einmischung, wenn wir dem Überfallenen helfen – auch mit Waffen zur Selbstverteidigung? Wenn ja, war es auch unzulässige Einmischung, als die Amerikaner der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg Kriegsmaterial im Wert von rund elf Milliarden Dollar zur Verfügung stellten, um den Größenwahn Nazi-Deutschlands aufzuhalten? War es unbotmäßige Einmischung, als die UdSSR und China in der 1960er- und 1970er-Jahren Nordvietnam in großem Stil Waffen lieferten, um die US-Aggressoren aus ihrem Land zu vertreiben?

Jetzt aber stellt zumindest ein Teil der Menschen hierzulande die Sinnhaftigkeit solcher Hilfe an die Ukraine, die sich gegen einen brutalen Angriffskrieg wehrt, infrage. Verständlich oder befremdlich?

Natürlich darf sich jeder wünschen, dass der russische Krieg gegen die Ukraine so schnell wie möglich mit Verhandlungen beendet wird. Natürlich kann man – nicht in Russland zwar, aber in einem Land mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung – auch in offenen Briefen seine Ansichten kundtun und Forderungen stellen.

So wie das Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer mit inzwischen rund 400.000 Unterzeichnern mit ihrem „Manifest für den Frieden“ gerade getan haben. Nur: Wer Verhandlungen will, sollte auch sagen, mit wem und worüber. Wer da vergisst, Herrn Putin zu erwähnen, muss sich schon eine gewisse politische Einseitigkeit vorwerfen lassen. Erst recht, wenn man dabei übersieht, dass die so heftig kritisierten Panzer nicht auf russischem Territorium rollen, keine zivile russischen Einrichtungen zerstören, keine russischen Zivilisten töten – sondern nur das eigene Land gegen brutale Invasoren verteidigen sollen.

Wer Kriege beginnt, indem er andere Länder und Völker überfällt, wird gemeinhin als Aggressor bezeichnet. Wer einen solchen Krieg vor allem gegen die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur des überfallenen Landes führt, macht sich zum brutalen Kriegsverbrecher. Wer solche Verbrechen gutheißt oder herunterzuspielen versucht, macht sich daran mitschuldig. Und wer das Recht des überfallenen Staates auf Selbstverteidigung und dessen Bitten um Hilfe in Frage stellt, macht sich zumindest indirekt zum Helfer des Aggressors.

Gründe für Krieg sind im Kreml ausgedacht

Die Berichte, die Bilder aus der Ukraine lösen bei wohl jedem Empörung aus, auch Wut – und Angst. Angst davor, dass unser friedliches, vergleichbar beschauliches Leben bedroht sein könnte, dass auch uns droht, was die Ukraine derzeit erleiden muss. Eine Angst, mit welcher der Aggressor sehr bewusst spielt, um ganz bestimmte Reaktionen hervorzurufen. Denn Angst löst im Wesentlichen zwei Reflexe aus: Flucht oder Verteidigung. Ja, uns allen wäre Frieden lieber. In erster Linie natürlich den Ukrainern.

Aber Frieden unter allen Bedingungen? Der Bedingung, auf das eigene Land zu verzichten? Der Bedingung, auf eigene Nationalität, Geschichte, Traditionen und Sprache zu verzichten? Der Bedingung, nicht mehr selbst über sein eigenes Leben entscheiden zu können? Genau das sind die Bedingungen, die Russland der Ukraine stellt. Nicht verhandelbar und nicht verhandlungswillig – jedenfalls nicht, solange man sich stark genug dafür fühlt.

Die Gründe für diesen Krieg liegen nicht in der Ukraine oder im Westen. Sie sind im Kreml ganz einfach ausgedacht. Wer – wie jüngst passiert – den russischen Nazi Michail Turkanow, dessen Oberkörper diverse Hakenkreuze und ähnliche Symbole „zieren“, mit dem Mut-Orden für „Erfolg bei der Entnazifizierung“ auszeichnet, sollte nicht mit einem „Kampf gegen Nazis“ in der Ukraine hausieren gehen. Für Putin und seine Vasallen sind längst alle Ukrainer Nazis, die sich einen eigenen souveränen Staat wünschen, die Ukrainisch sprechen möchten und die nicht schon wieder gewaltsam russifiziert werden wollen.

Wer nun ein „Manifest für den Frieden“, das sich weder an den Aggressor richtet noch ihn und seine Verbrechen klar benennt, schreibt oder unterschreibt, muss sich damit auch den Vorwurf von Egoismus gefallen lassen. Denn er geht mit seinen Worten oder seiner Unterschrift ohne Bedenken über die eigentlichen Opfer hinweg.

Umfragen ganz verschiedener Institute belegen, dass die Ukrainer heute weitaus weniger gewillt sind, Russland für einen „Frieden“ erhebliche Teile ihres Territoriums zu überlassen. Über 90 Prozent der Ukrainer sind dagegen. Vor dem Krieg waren es noch zehn Prozent weniger. Bei den wirklich Betroffenen hat der Reflex „Verteidigung“ also noch zugenommen.

Hierzulande findet hingegen der Reflex „Angst“ offenbar immer mehr Anhänger – genau wie vom Kreml gewollt und forciert. Angst fressen Seele auf? Gar nicht böse, sondern auch angesichts des Inhalts ganz realistisch betrachtet, haben Verfasser und Unterzeichner hier leider ein Manifest der Unterwerfung fabriziert.