SZ + Feuilleton
Merken

Als Christus die Arme verlor: Angriffe auf christliche Wegkreuze in der Lausitz

In der Lausitz werden christliche Wegkreuze gestohlen, gestürzt und geschändet. Das sind keine Dummejungenstreiche. Und das beunruhigt nicht nur die sorbischen Pfarrer.

Von Karin Großmann
 9 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Unbeschädigtes Wegkreuz nahe Wittichenau. In der Gegend gibt es viele davon. Nachdem einige davon zerstört wurden, ermittelt nun der Staatsschutz. Noch gibt es keine Erkenntnisse.
Unbeschädigtes Wegkreuz nahe Wittichenau. In der Gegend gibt es viele davon. Nachdem einige davon zerstört wurden, ermittelt nun der Staatsschutz. Noch gibt es keine Erkenntnisse. © Jürgen Lösel

Man müsse das sehr vorsichtig formulieren, sagt der Pfarrer. Aber er frage sich schon, warum die öffentliche Empörung bei Hakenkreuzschmierereien an Synagogen groß sei, und zu Recht groß – warum sie aber nicht gleichermaßen spürbar sei bei Angriffen auf christliche Symbole.

Wolfgang Kresak, Pfarrer an der katholischen Kirche St. Mariä Himmelfahrt in Wittichenau, kann nicht begreifen, was in der Nacht zum 22. Oktober geschah. „Was stört euch am Kreuz?“, fragt er. Doch die Frage geht ins Leere. Die Täter sind nicht gefasst. Niemand hat sich zur Tat bekannt. Natürlich nicht. Falls die Spurensuche etwas gebracht hat, behält es die Polizei vorerst für sich. Der Staatsschutz ermittelt, heißt es. Vier Wegkreuze mit Christusfiguren wurden in jener Oktobernacht bei Wittichenau im Umkreis von wenigen Kilometern beschädigt, zerstört, gestohlen. Sie wurden geschändet, sagt Kresak. Sogar das Wort Gotteslästerung fällt.

Sonntags scheint die Welt noch in Ordnung zu sein im Land der tausend Kreuze. So wirbt die Gegend der sorbischen Katholiken zwischen Bautzen und Hoyerswerda für sich. Wo sonst sieht man so viele Menschen mit Gesangbuch in der Hand auf den Straßen? Anderswo laufen sie dem Glauben davon. Etwa 360.000 Menschen haben 2021 die katholische Kirche verlassen. „Wir sind eine Insel“, sagt Pfarrer Gabriel Nawka. Die vier Seelsorger von St. Mariä absolvieren an einem Sonntag bis zu zehn Dienste auf Sorbisch und Deutsch. Im roten Glasschirm leuchtet das ewige Licht. Milder Schein fällt auf das Altarbild von Marias Himmelfahrt. Es ist eine der prächtigsten Hallenkirchen der Oberlausitz, eben erst restauriert bis hinauf ins Sterngewölbe.

Was stört euch am Kreuz? Pfarrer Wolfgang Kresak in der Kirche St. Maria Himmelfahrt in Wittichenau. Er kann nicht begreifen, was in der Nacht zum 22. Oktober geschah.
Was stört euch am Kreuz? Pfarrer Wolfgang Kresak in der Kirche St. Maria Himmelfahrt in Wittichenau. Er kann nicht begreifen, was in der Nacht zum 22. Oktober geschah. © Archivfoto: Jürgen Lösel

Trügt die Idylle? „Im Moment erleben wir vieles, was Angst und Bange machen kann, was traurig stimmt“, sagt Pfarrer Gabriel Nawka in seiner Sonntagspredigt. Die schwer ramponierten Wegkreuze stehen an Straßenrändern außerhalb der Dörfer Saalau und Sollschwitz. Von einem blieb nur der Granitsockel übrig mit der vergoldeten Jahreszahl 1857 und den Initialen P.P. In den trockenen Eichenblättern raschelt der Wind. Bei einem anderen wurde das komplette Kreuz auf den Kopf gestellt. Die Schellen zur Befestigung lagen daneben. Bei einem dritten fehlt die ovale Platte mit der Aufschrift „Credo“, ich glaube.

Einen umgeworfenen und demontierten Sockel hatte ein Arbeiter vom Bauhof auf dem Radweg entdeckt. Er rief sofort seinen Chef an, der die Polizei alarmierte und die Eigentümer. Die Wegkreuze gelten zwar als geistig-kulturelles Erbe der Lausitz. Doch die meisten sind seit Generationen in Privatbesitz.

Tiefere gesellschaftliche Konflikte?

Wer nach Ursachen forscht für die Zerstörung, stößt womöglich auf tiefere gesellschaftliche Konflikte. Es sei auch nicht der erste Fall, sagt Pfarrer Kresak. Kaum einer werde aufgeklärt. Vor Jahren fand sich ein gestohlenes Wegkreuz beim Ablassen eines Teiches im Schlamm wieder. Ein andermal wurde eine Kapelle am Wegrand verwüstet. Sie wurde nach der Restaurierung bei einer Sühneprozession neu geweiht.

Hinter der Kapelle leuchtet das Weidegrün wie im Mai. Es ist eine weite, flache, offene Landschaft. Hier und da grasen Pferde. Gänse schnattern um Futternäpfe. Am Ufer der Schwarzen Elster warten zwei Angler auf Fisch. Akkurate Rechenspuren durchziehen den Kies vor den Hoftoren, wie sich das am Wochenende gehört.

Und überall funkelt das Gold. Denn nicht nur Feuerwehrhaus, Spielplatz und Storchennest gehören zur Grundausstattung der Ortschaften rund um Wittichenau. Vor beinahe jedem Haus steht ein Wegkreuz. Der Fühler zum Himmel. Symbol zwischen Glauben, Brauchtum und Kunst. Manches Kreuz trägt ein Spitzdach über der Christusfigur, zeigt daneben Maria und den Evangelisten Johannes, einen sorbischen oder deutschen Spruch. „Leiden und Sterben Jesu Christi.“

Sockel mit fehlendem Kreuz nahe Wittichenau.
Sockel mit fehlendem Kreuz nahe Wittichenau. © Jürgen Lösel

Die Kreuzgrößen variieren. Vielleicht haben Nachbarn schon im 19. Jahrhundert gewetteifert um die prächtigste Wirkung wie heute um den perfekten Grill oder den handrasierten Vorgarten. Doch nicht der Mensch sei das Maß aller Dinge, sagt Pfarrer Gabriel Nawka in seiner Predigt. „Es wird sich zeigen, dass alles, was Menschen schaffen, von heute auf morgen hinfällig sein kann.“ Orangerote Rosen trumpfen ein letztes Mal auf. Sogar vor einem Neubau, der noch keinen Garten hat und noch nicht mal eine richtige Haustreppe, steht ein blank poliertes, goldfunkelndes, altehrwürdiges Kreuz.

Die Nachricht von jener Oktobernacht habe sich wie ein Lauffeuer verbreitet, sagt Pfarrer Kresak, und damit die Frage: Warum, warum diese Zerstörungswut? Die Betroffenen sind sich einig: Ein Dummejungenstreich war das nicht. Man kippt nicht in bierseliger Laune fest verankerte Kreuze um. Man führt nachts nicht zufällig eine Leiter und passendes Werkzeug spazieren. Und man hat auch nicht mal eben eine Akku-Säge dabei, um Granitstein zu zerlegen.

„Das sieht alles nach Vorsatz aus“, sagt Matthias Zomack. Ihm gehört eines der demolierten Wegkreuze mit dem Feldstück dahinter. Es überstand mehr als hundert Jahre, zwei Kriege und den Wechsel der politischen Jahreszeiten. Sein Vater, erzählt Zomack, hat das Gusseisen restauriert und instand gesetzt. Jetzt liegen die Überreste zu Hause. Die abgebrochenen Arme der Christusfigur.

„Die Hemmschwelle der Gewalt sinkt"

„Die Hemmschwelle der Gewalt sinkt, es wird schneller zugeschlagen, und das Aggressionspotenzial steigt mit der allgemeinen Unzufriedenheit“, sagt Matthias Zomack. „Im Dorf funktioniert das Miteinander vielleicht noch eher als in der Großstadt. Sonst aber geht die Nächstenliebe verloren. Wir leben in einer Ich-Gesellschaft. Jeder ist sich selbst der Nächste. Und jeder will recht haben.“ Als Erzieher in einer katholischen Kindereinrichtung in Hoyerswerda erklärt er seinen Schützlingen, dass man anderen zuhören, Kompromisse eingehen und tolerant sein sollte. Auch dann, wenn einem die Meinung anderer nicht passt. „Die Überheblichen und die Frevler werden zu Spreu“, warnt Pfarrer Gabriel Nawka in seiner Predigt.

Toleranz ist das Letzte, was die Täter von Wittichenau im Sinn hatten. Sybille Eiselt erzählt, dass vor dem Wegkreuz ihrer Familie schon mal die 666 auf die Straße gesprüht war, Symbol für den Teufel. Aber mit Satanismus hat es wohl nichts zu tun, meint sie, wenn jetzt die ovale Platte mit dem „Credo“ fehlt. Die Täter dürften auch keine Schrottsammler sein. Sonst hätten sie Unterlegscheiben und Muttern mitgenommen. Die fand sie im Gras.

Sybille Eiselt erzählt, dass sie beim Spaziergang mit ihren Kindern an dem Kreuz stehenbleibt und ihnen die Geschichte dazu erzählt. „Manchmal legen wir ein Sträußel hin. Und an jedem Kreuz sagen wir: Gelobt sei Jesus Christus.“ Ihr Vater, sagt sie, bringt karfreitags immer ein rotes Licht an mit Batterie, Erinnerung an das Blut Jesu, an den Tod am Kreuz. Auch sie beobachtet die Veränderungen in der Gesellschaft mit Sorge. „Wer die Ellenbogen ausfährt und große Reden schwingt, setzt sich durch.“ Mit der Prahlerei in den sozialen Netzwerken wachse der Neid. Sie nennt es eine „Ich-will-Gesellschaft“.

Gelten die Angriffe der Kirche oder den Sorben?

Für die Pflegehelferin Sabine Retschke ist das Verschwinden von Kreuz und Christusfigur so unvorstellbar, dass sie es im Vorbeifahren gar nicht wahrhaben wollte. „Ich dachte, ich hab mich geirrt.“ Jetzt überlegt sie, den Sockel umzusetzen, „heimzuholen“, sagt sie, damt er dann mit einem neuen Kreuz in einem Garten hinterm Zaun sicherer steht. Dann wäre das Glaubenszeichen aus der Öffentlichkeit verschwunden.

„Ist das nicht traurig?“, fragt Pfarrer Kresak. „Wo sind wir nur hingeraten? Gibt es denn keine Achtung und Ehrfurcht mehr? Kommt es nicht im Ethikunterricht vor, dass man sich an religiösen Symbolen nicht zu vergreifen hat?“ Eine ganze Industrie verdiene an der Übertretung der christlichen Gebote: Anwälte, Scheidungsrichter, Jugendhelfer, Sozialarbeiter und auch die Hersteller von Bewegungsmeldern. Du sollst nicht stehlen.

Wolfgang Kresak meint, dass sich die Angriffe gegen die katholische Kirche richten und nicht gegen Sorben. Die Polizei hält neben Diebstahl beides als Tatmotiv für denkbar. In der Vergangenheit registrierte sie immer wieder kriminelle sorbenfeindliche Akte. Zweisprachige Ortsschilder wurden beschmiert. An Wänden und Brückengeländern fanden sich Sprüche wie „Sorben raus“. Die Wurzeln liegen weit in der Geschichte. Die katholische Kirche spielte dabei keine rühmliche Rolle. Religiosität war ihr zeitweise wichtiger als Nationalität.

Kaum noch jemand kennt den Anlass für das Kreuz

In Wittichenau wird das eine wie das andere in großer Selbstverständlichkeit gelebt. Wenn sonntagmorgens der Nebel über den Wiesen hängt und das Kopfsteinpflaster feucht glänzt vom Reif der Nacht, sind die Kirchgänger längst unterwegs. Sechzig, siebzig Leute kommen zur ersten Andacht um sechs. In anderen Gotteshäusern wäre man über eine solche Zahl glücklich. Es könnten mehr sein, meint Pfarrer Gabriel Nawka, zuständig vor allem für die Verkündigung in sorbischer Sprache. Doch er hat Verständnis: Am Abend zuvor war Kappenball. Erst kurz vor Mitternacht wurde das Geheimnis um das Prinzenpaar der neuen Faschingssaison gelüftet. Eine Prinzessin ist auch dabei. Nach einem solchen Fest schläft mancher länger.

Umso mehr füllt sich die Kirche halb neun zur Messe. Babys, Greise und jedes Alter dazwischen. „Wir erleben alle Sorgen, die auch unsere Mitmenschen erleben“, sagt Pfarrer Nawka vor dem Altar. Er spricht von Corona, vom Krieg in der Ukraine, vom Klimawandel. Der persönliche Schlamassel komme dazu: zerbrochene Beziehungen, gescheiterte Pläne …

Um dem Schlamassel vorzubeugen, wurden christliche Wegkreuze einst errichtet. Sie sollten vor Feuer, Krankheit oder Missernte schützen. Die Menschen glaubten, mit diesem Zeichen ihren Gott gnädig zu stimmen. Andere Kreuze wurden aus Dankbarkeit aufgestellt, weil ein Sohn heil aus dem Krieg zurückkam oder der Hagel das Getreide verschonte. Heute kennt kaum noch jemand den Anlass für das Kreuz am Wegrand oder im Vorgarten. Die Pfarrchronik gibt keinen Aufschluss darüber. „Es wäre Anlass, sich mal damit zu beschäftigen“, sagt Sabine Retschke.

Die Polizei schätzt den Schaden der zerstörten Kreuze auf 8.000 bis 10.000 Euro. Matthias Zomack sagt: „Mich ärgert der materielle Verlust, aber der ideelle Verlust beunruhigt mich viel mehr.“ Er überlegt noch, ob er das verschwundene Kreuz durch ein ähnliches ersetzt oder etwas Modernes sucht. Und ob er überhaupt noch mal in den Platz am Straßenrand investiert.