Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
Sachsen
Merken

Die Pilgermütter von Crostwitz

Monika Gerdes und Maria Meyer führen in der Lausitz eine Pilgerherberge. Sie kümmern sich um Essen, Blasen und viele Seelennöte.

Von Christina Wittig-Tausch
 9 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Monika Gerdes und Maria Meyer vor ihrer Pilgerherberge in Crostwitz bei Kamenz.
Monika Gerdes und Maria Meyer vor ihrer Pilgerherberge in Crostwitz bei Kamenz. © Matthias Rietschel

Manche Pilger laufen und laufen und kommen irgendwie doch nicht an. Maria Meyer brauchte nur 60 Kilometer durch Ostsachsen, um zu finden, worauf sie hoffte: eine sinnvolle Tätigkeit, Freundschaft, eine neue Perspektive. Gefunden hat sie es im Dorf Crostwitz in der Lausitz, in der Pilgerherberge von Monika Gerdes.

Acht Jahre ist das jetzt her. Seither wohnt Maria Meyer hier und ist als Hausdame und Köchin tätig. Und als Seelsorgerin. Nein, geplant war es so nicht. „Das war ein Gottesgeschenk, dass ich in Crostwitz gelandet bin“, sagt die 73-Jährige. Sie sagt es ohne Pathos. Für sie ist es einfach so. Monika Gerdes nickt. Sie sieht das genauso.

Das alte Haus mit den weißen Sprossenfenstern und einer großen Pilgerfigur aus Holz davor ist das Elternhaus von Monika Gerdes. Ein Schild weist den Weg zur „Pilgeroase“. Sie liegt direkt an der Hauptstraße und zugleich am Ökumenischen Pilgerweg, einem der sächsischen Jakobswege. Seit dem Mittelalter zogen hier, auf der Via Regia, Händler, Krieger und Könige entlang. Außerdem Pilger auf dem Weg ins spanische Santiago de Compostela. Nur wenige Autos fahren an diesem Feiertag-Vormittag vorbei. Man hört Vogelgesang und den Glockenschlag der nahen Kirche.

Maria steht im Garten der Pilgerherberge und stellt Getränke und Kuchen auf einen Tisch. Monika verteilt Kissen auf den vielen Stühlen. Auch tagsüber ist immer ein Tisch gedeckt für Menschen, die nicht über Nacht bleiben, sondern einfach rasten wollen. Bevor Maria weitererzählt, muss es dem Gast von der Zeitung erst bequem gemacht werden. Maria rückt den Sonnenschirm zurecht. Monika sucht den schattigsten Platz aus. Maria bringt Tee, Monika Wasser. Diese Fürsorge läuft in großer Ruhe und ohne lange Absprache ab.

„Möchtest du etwas essen?“, fragt Monika. Die 63-Jährige entschuldigt sich für das schnelle Du. „Das ist so hier im Haus. Wir duzen jeden. Egal, was die Gäste sonst in ihrem Leben machen, woran sie glauben, wo sie herkommen: Wenn sie pilgern, spielt es keine Rolle. Jeder, der hier klingelt, hat Durst und Hunger. Jeder schwitzt gleich.“

Manche wollen sich finden, andere Gott

Diese Form der Gleichheit klingt nach einem interessanten gesellschaftlichen Gegenentwurf. Monika lacht. Auch Pilger seien sehr unterschiedliche Charaktere. Aber die Bereitschaft zu Wortgefechten sei eher gering, wenn man abends nach dem Gehen in Hitze oder Regengüssen eine Dusche genießt, Blasen verarztet und am Esstisch den Schicksalen der anderen lauscht.

Nach einem Tag Pilgern durch Regen müssen Füße versorgt und Schuhe getrocknet werden.
Nach einem Tag Pilgern durch Regen müssen Füße versorgt und Schuhe getrocknet werden. © Matthias Rietschel

„Und warum pilgerst du?“, fragt Monika Gerdes jeden Gast, außer an Tagen, an denen die Herbergsmutter selbst pilgert oder zu Kindern und Enkeln fährt. Manche Menschen sind zu müde, um darauf zu antworten, oder wollen nicht darüber sprechen. Das seien aber die wenigsten. Oft ist die Frage Auftakt für intensive Gespräche. Das heißt: Meist sprechen die Pilger, und Monika und Maria hören zu.

Die einen wollen sich finden, andere wollen Gott finden. Oder zumindest Abstand zur lauten, temporeichen Welt mit ihrem Konsum und ihren Konflikten. Manche gehören einer Kirche an oder bezeichnen sich als spirituell. Aber es pilgern auch Menschen, die sich als atheistisch sehen. Sorbin Monika ist katholisch, Maria evangelisch. „Wir Herbergseltern sind keine Missionare“, sagt Monika. „Über unseren Glauben reden wir nur, wenn wir gefragt werden. Wenn jemand wissen will, was mir Kraft gibt und Trost.“

Mit dabei ist oft ein Seelenrucksack

Die meisten Gäste hätten nicht nur einen Rucksack mit Wechselsachen und Sonnencreme dabei, sondern zusätzlich einen „Seelenrucksack“. Eine Leidenserfahrung, Fragen an das Leben oder „eine innere Sehnsucht, die viele gar nicht genau benennen können“, sagt Monika. Da war die Frau, deren 15-jährige Tochter bei einer Geburtstagsfeier wegen eines Blutgerinnsels im Kopf zusammenbrach und starb. Der junge Pole, der mitten im schneereichen Winter aufgebrochen war, um die Trennung von Frau und Kindern zu verarbeiten. Ein Mann pilgerte aus Dankbarkeit, weil er vom Alkohol losgekommen war. Als Belastung empfinden Monika Gerdes und Maria Meyer diese Gespräche nicht. Im Gegenteil. „Sie sind eine Bereicherung“, sagt Maria.


Maria ist die Hausdame in der Pilgerherberge, Monika ist noch berufstätig. Deshalb ist es meist Maria, die den Pilgern Frühstück macht oder, wie hier, das Abendessen vorbereitet.
Maria ist die Hausdame in der Pilgerherberge, Monika ist noch berufstätig. Deshalb ist es meist Maria, die den Pilgern Frühstück macht oder, wie hier, das Abendessen vorbereitet. © Matthias Rietschel

Auch Maria hatte einen Seelenrucksack, als sie vor acht Jahren aufbrach. Sie wollte von Görlitz nach Thüringen und in einem großen Bogen ins Erzgebirge, zurück in das Dorf, wo sie bei ihrer Tochter wohnte. Ein paar Hundert Kilometer wären zusammengekommen. Ihre Mutter, die sie gepflegt hatte, war gerade gestorben. Maria, gelernte Altenpflegerin, wollte nachdenken. Über ihr Leben und wie sie die Zeit gestalten möchte, die bleibt.

Es war nicht Marias erste Pilgertour. 2004 war sie nach einer Krebsdiagnose nach Santiago de Compostela gepilgert. Die vielen Menschen in Santiago ertrug sie kaum. Der Weg habe ihr aber geholfen, die Krankheit und die Behandlung zu bewältigen, ist sie überzeugt. Durch das Gehen und die Tatsache, den Weg geschafft zu haben, trotz Hitze, Blasen und Schlafproblemen in großen, voll belegten Schlafsälen.

Kurz hinter Görlitz fingen die Knie an zu schmerzen. Monika hielt durch bis zur Crostwitzer Pilgeroase. Abends saßen Monika und Maria lange beisammen und redeten. Maria kaufte einen leichteren Rucksack und blieb noch eine Nacht, um die Knie zu kurieren. Die Tage vergingen. Maria packte mit an. Irgendwann fragte Monika, ob Maria bleiben wolle. Es würde auch ihr helfen, denn Herbergsmutter ist ihr Nebenjob. Im Hauptberuf arbeitet sie als Redakteurin beim sorbischen Programm des Mitteldeutschen Rundfunks.

Nach einem Verlust half das Pilgern

Viele Jahre beherbergte das etwa 200 Jahre alte Gebäude eine Kneipe. Dann war es das Wohnhaus für Monika und ihre Familie. Die Mutter starb, die Kinder gingen aus dem Haus. Monika und ihr Mann wollten, dass das verwinkelte Haus lebendig bleibt. 2007 war Monika erstmals Pilgern. Nichts Großes. Keine mehrwöchige Tour nach Santiago de Compostela, wie sie der Komiker Hape Kerkeling in seinem 2006 erschienenen Bestseller „Ich bin dann mal weg“ beschreibt.

Monika lief vier Tage von Görlitz nach Crostwitz. „Gestartet bin ich als Wanderin“, sagt sie. „Zurück kam ich als Pilgerin. Es hat mich fasziniert, dass man alles reduziert auf das Allernotwendigste. Und dennoch habe ich mich reich gefühlt. Vor allem dadurch, dass ich Zuspruch und Hilfe von anderen dann bekam, wenn ich sie nicht erwartet habe.“

Monika Gerdes und ihr Mann beschlossen, ihr Haus als Pilgerherberge zu nutzen. Aus der Wohnung der Mutter wurden zwei Schlafräume mit sieben Plätzen. Monikas Mann führte die 2008 eröffnete Herberge zunächst. Ein Jahr später starb er plötzlich. Das Pilgern habe ihr geholfen, mit dem Verlust leben zu lernen, sagt sie. Freundschaften haben sich entwickelt, Seelenverbindungen. Sowohl auf dem Jakobsweg, den sie über Jahre in Etappen zurücklegte, als auch in der Herberge.

Monika geht, wann immer sie Zeit findet, gern selbst pilgern. Die Aufstecker aus Pilgerorten an ihrem Hut zeugen davon.
Monika geht, wann immer sie Zeit findet, gern selbst pilgern. Die Aufstecker aus Pilgerorten an ihrem Hut zeugen davon. © Matthias Rietschel

Die Delle zu Corona-Zeiten hat die Pilgeroase im Gegensatz zu anderen Übernachtungsstätten gut überstanden. Immer mehr Gäste kommen, vor allem zwischen Mai und Oktober. Die meisten sind aus Deutschland, viele aus dem Westen. Monika erzählt oft von den Sorben und ihrer Kultur. Manchmal singt sie sorbische Lieder. Sie spricht mehrere Sprachen, und so empfängt sie die drei jungen Radfahrer aus Polen, die gerade für eine kurze Rast halten, in fließendem Polnisch.

Immer mehr Pilger kommen in die Pilgerherberge. Die meisten sind aus Deutschland. Auf einer Landkarte markieren sie mit Stecknadeln ihre Herkunftsorte.
Immer mehr Pilger kommen in die Pilgerherberge. Die meisten sind aus Deutschland. Auf einer Landkarte markieren sie mit Stecknadeln ihre Herkunftsorte. © Matthias Rietschel

Boom durch Hape Kerkeling

Pilgern ist eng verbunden mit vielen Kulturen und Religionen. Auch zu den christlichen Gesellschaften des Mittelalters gehörte es. Damals war es eine gefährliche Angelegenheit. Die Pilger nutzten für den Weg nach Santiago, Rom oder Jerusalem Handelswege, um ihre Sicherheit zu erhöhen. Viele starben dennoch. Bei Überfällen, durch Krankheiten oder Hunger. Oder weil sie in kriegerische Auseinandersetzungen gerieten.

Neben dem Pilgern gab es noch Wallfahrten zu regionalen Zielen, um Erlösung zu erlangen und göttliche Vergebung. Das wurde zum Teil mit Geld erkauft. Eine Praxis, die Martin Luther kritisierte. Das Pilgern und Wallfahren verlor seit der frühen Neuzeit in Europa an Bedeutung. Erst durch die Reformation, dann auch durch Aufklärung und Verweltlichung.

In den späten 1980er-Jahren waren ein paar Hundert Deutsche unter den Jakobsweg-Pilgern in Santiago. Kurz vor Hape Kerkelings Buch 2006 waren es dann schon 8.000, nach der Buchveröffentlichung 16.000, kurz vor Corona und jetzt wieder rund 30.000 pro Jahr. Wie viele sonst noch pilgern, kann niemand genau sagen. Manche Menschen laufen die Jakobswege nicht in Richtung Santiago, sondern ostwärts, nach Süden oder Norden. Manche pilgern Monate oder einige Wochen. Andere auf kleineren Streckenabschnitten für einige Stunden oder Tage.

Das Pilgern beschränkt sich nicht nur auf die Jakobswege. Seit einigen Jahren werden viele der alten Pilgerwege oder Wallfahrtswege wiederbelebt, auch in Sachsen. Zum Teil verlaufen sie auf bestehenden Wanderwegen. Aber da viele der alten Fernrouten inzwischen Straßen sind, führen Pilgerwege nicht nur durch idyllische Natur, sondern auch über baumlosen Asphalt und durch Betonwüsten. „Das zählt zu den Beschwerlichkeiten des Wegs, mit denen moderne Pilger zu kämpfen haben“, sagt Monika Gerdes.

In Sachsen gibt es derzeit ungefähr zehn Pilgerwege. Die klassischen Pilgerwege verliefen meist auf alten Handelsstraßen.
In Sachsen gibt es derzeit ungefähr zehn Pilgerwege. Die klassischen Pilgerwege verliefen meist auf alten Handelsstraßen. © SZ-Grafik

In Sachsen gibt es derzeit ungefähr zehn Pilgerwege, die sich zum Teil verästeln, eine Runde bilden oder über Querverbindungen verfügen. Es sind oft private Initiativen, die die Wege neu belebt haben und sich um Infomaterial, Markierungen und Pflege kümmern. Der Freistaat fördert solche Initiativen. Vor drei Jahren hat er angesichts des Trends zum Gehen mit der Evangelischen Erwachsenenbildung Sachsen eine Wander- und Pilgerakademie gegründet. Dort werden Gruppenführer ausgebildet und Wegewarte.

Weg mit Überflüssigem

Wenn Monika Gerdes in Rente geht, möchte sie ein Buch schreiben über das Leben und die Menschen in der Pilgerherberge. Zu den gut 300 Gästen pro Jahr kommen noch die „Hospitaleros“, die für jeweils zwei Wochen ehrenamtlich helfen. Gerade war Albino aus Portugal da. Ihm folgt ein älteres Ehepaar aus Westdeutschland. Im Winter, zwischen Dezember und Februar, verwandelt sich die Herberge in ein kleines Kulturzentrum mit Filmen und Vorträgen über das Pilgern. Daneben kümmern sich die beiden Frauen um eine ukrainische Flüchtlingsfamilie. Sollte die Gesundheit es erlauben, möchte Monika gern noch mehr Jakobswege pilgern. Und die Pilgeroase weiterführen.

„Ich bin hier sehr zufrieden“, sagt Maria Meyer und guckt Monika Gerdes an. „Aber um das Pilgern beneide ich dich ein bisschen.“ Ihre Knie sind in Ordnung, aber lange Pilgertouren traut sie sich nicht mehr. Den roten, leichten Rucksack, den sie vor acht Jahren kaufte, hat sie längst Monika überlassen. Wenn abends Gäste das Haus betreten, bietet Maria ihnen an, den Rucksack vom Rücken zu nehmen. Manchmal fährt sie Pakete zur Post mit den ganzen überflüssigen Dingen, die sie mit den Pilgern aussortiert. „So wird ihr Weg ein bisschen leichter“, sagt sie.