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Podcast "Allein unter Sachsen": Wogegen sind sie denn?

Es sind etwa 114 Kilometer zwischen Leipzig und Pretzschendorf im Osterzgebirge. Beim Umzug aufs Land erlebt eine Großstadt-Familie einen Kulturschock. Sind es die Wut und das „Dagegensein“, von dem so viele reden? Ein neuer Podcast sucht Antworten.

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Pretzschendorf im Osterzgebirge ist Schauplatz für den neuen Podcast „Allein unter Sachsen: Mein Umzug ins Dorf“. Chris Sauer (links) besitzt eine Traditionsbäckerei in dem Ort. Torsten Schreckenbach (rechts) ist hier Bürgermeister.
Pretzschendorf im Osterzgebirge ist Schauplatz für den neuen Podcast „Allein unter Sachsen: Mein Umzug ins Dorf“. Chris Sauer (links) besitzt eine Traditionsbäckerei in dem Ort. Torsten Schreckenbach (rechts) ist hier Bürgermeister. © Felix Posner / Collage LVZ

Von Johanna Weinhold

Pretzschendorf. Seit 1 Uhr nachts ist Bäckermeister Chris Sauer auf den Beinen. Brötchen. Brot. Apfelkuchen. Irgendwas muss ständig raus aus dem Ofen. „Gib den Eierschecken mal noch vier Minuten zusätzlich“, ruft er seiner Frau zu und lässt sich auf den Bürostuhl plumpsen. „Wo waren wir?“

Sauer ist Bäcker in Pretzschendorf, einem 900-Seelen-Dorf im Erzgebirge, das zwischen Freiberg und Dresden liegt. Der Ort ist Schauplatz des neuen Podcasts „Allein unter Sachsen: Mein Umzug ins Dorf.“ Er liegt in einer Region, die schon seit Jahren im Fokus steht: 35 Prozent wählten hier bei der letzten Landtagswahl 2019 die AfD. Wie wird die Region dieses Jahr, zur Kommunalwahl am Sonntag, zur Landtagswahl im Herbst, wählen?

Bäcker Sauer treiben solche Fragen um. Aber auch, wie es mit seiner Bäckerei weiter geht. „Die größte Sorge sind die Arbeitskräfte, der Nachwuchs“, sagt er. Die Bäckerei Sauer gibt es in Pretzschendorf seit 1933. Großvater, Vater, Sohn: alle Bäcker. Die Kinder von Chris Sauer: keine Bäcker mehr. Macht Sie das wütend, Herr Sauer? Macht es. Also: ein bisschen.

„Manche Menschen gieren nach Führerpersönlichkeiten“

Pretzschendorf ist ein ganz typisches Dorf des Osterzgebirges. Wenn man hier durchfährt, da sieht man vieles: Kirche, Häuser mit Schieferdächern, Idylle. Was man nicht sieht: Abgehängtsein. Rasen, Hecken, Blumenbeete: Alles hat hier seine Ordnung. Und Pretzschendorf hat, so würden es Politiker sagen, eine gute Infrastruktur. Edeka, Getränkemarkt, Bäcker, Kneipe, Kindergarten, Grundschule. Es gibt den Faschingsverein, die Freiwillige Feuerwehr, den Fußballverein, den Bläserchor.

Und es gibt das, was man sich in den Großstädten, über diese Region erzählt. Marco Wanderwitz zum Beispiel hat viel darüber geredet. Wanderwitz ist CDU-Bundestagsabgeordneter und war früher Ostbeauftragter der Bundesregierung. Als solcher bescheinigte er 2021 einem Teil der Ostdeutschen gefestigte nichtdemokratische Ansichten.

Marco Wanderwitz (CDU)
Marco Wanderwitz (CDU) © dpa

Im Gespräch für den Podcast „Allein unter Sachsen“ geht er noch einen Schritt weiter. „Es gibt Menschen, die wollen das Nicht-Vorhandensein von Demokratie“, sagt er. „Sie gieren nach Führerpersönlichkeiten, die möglichst viel alleine entscheiden können.“ Er glaube, so Wanderwitz, „40 Jahre DDR on top auf den Nationalsozialismus, das war dann doch ein bisschen viel Diktatur“.

„Die AfD zu wählen, ist auch keine Lösung“

Zurück zu Bäckermeister Sauer, zurück zu der Frage: Macht ihn das, was Wanderwitz sagt, wütend? Macht es.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), sagt Sauer, der rede wenigstens mit den Leuten, fahre auf die Dörfer. Aber Wanderwitz? „Ich kann das nicht nachvollziehen, was der sagt“, sagt Sauer. „Das heißt ja, ich schließe einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung von vornherein aus. Und das kann ja wohl nicht die Lösung sein.“ Aber, schiebt er hinterher: „Die AfD zu wählen, ist auch keine Lösung.“

Chris Sauer hat die Pretzschendorfer Bäckerei 2004 von seinem Vater übernommen und glaubt nicht daran, dass das Dorf ein Standortnachteil für familiäre Handwerksbetriebe ist. „Hier gibt es genügend Arbeit: Dachdecker, Tischler, Sanitärtechniker: Alle suchen Leute“, sagt er. „Versuchen Sie mal bei einem Elektriker einen Termin zu bekommen. Bis zu zwei, drei Monaten Wartezeit – und in der Stadt: Da ist es noch schlimmer.“

Chris Sauer in der Backstube seines Familienbetriebes in Pretzschendorf.
Chris Sauer in der Backstube seines Familienbetriebes in Pretzschendorf. © Felix Posner

Die Fakten geben Bäcker Sauer Recht. Laut der Fachkräftedatenbank des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) stehen die Elektriker bei offenen Stellen auf Platz 1: 21.839 waren es demnach bundesweit im Jahr 2023. Und auch in Sachsen: Platz 1. Hier fehlten 1168 Elektriker. Auch das Handwerk Bäcker findet sich unter den Top 10.

Geringe Arbeitslosigkeit – kein Grund wütend zu sein, oder?

Die kleinen Handwerksbetriebe in der Region Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, so erzählt das Bäcker Sauer aus Pretzschendorf, die würden sich alle große Mühe geben, die Strukturschwäche in der Gegend zu kompensieren. Aber die Strukturen würden durch die Politik wissentlich und willentlich zerstört. Das mache die Leute wütend – und ihn auch.

Mit Blick auf den Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge fällt auf: Hier gibt es nur wenige Menschen, die keine Arbeit haben: Gut fünf Prozent Arbeitslosigkeit im April 2024. Laut Landratsamt Pirna sei beim Thema Arbeit die Entwicklung im Landkreis deutlich positiver als im Freistaat Sachsen sowie im Vergleich zur Bundesrepublik. Eigentlich kein Grund, wütend zu sein, oder?

Im Kleinen lösen, was schon im Großen aufregt

Torsten Schreckenbach ist der parteilose Bürgermeister der Gemeinde Klingenberg, zu der Pretzschendorf gehört. Ihn beschäftigen all die Themen im Kleinen, die schon in der Berliner Politik Aufreger sind: Migration, Bildung, Energiewende. In Pretzschendorf soll aktuell eine alte Schule abgerissen und neu gebaut werden. Nahe des Nachbardorfs Colmnitz soll der Windpark erneuert werden – mit höheren Windrädern als bisher.

Torsten Schreckenbach (parteilos), Bürgermeister der Gemeinde Klingenberg, zu der Pretzschendorf gehört.
Torsten Schreckenbach (parteilos), Bürgermeister der Gemeinde Klingenberg, zu der Pretzschendorf gehört. © Gemeinde Klingenberg

Schreckenbach ist für all diese Dinge Ansprechpartner, bei Sitzungen des Gemeinderates und bei Einwohnerversammlungen, die er regelmäßig einberuft. „Wir versuchen in der Gemeinde so oft es geht alles gemeinsam zu diskutieren“, sagt Schreckenbach, der seit 2013 Bürgermeister ist und der Wählervereinigung „Bürger für Klingenberg“ angehört. „Aber die Lösungen, die wir finden, die müssen nicht immer für den Einzelnen das Beste sein. Sondern es muss am Ende eine Entscheidung getroffen werden, die für die breite Masse gut ist.“

„Am Ende wissen die Leute nicht mehr, wogegen Sie sind“

Bei dem, was Schreckenbach täglich beschäftigt, spielt Parteipolitik so gut wie keine Rolle. Jenseits seiner Gemeindeverwaltung ist auf dem sächsischen Land vor allem die AfD präsent. André Barth ist Landtagsabgeordneter der Partei. Auch er hat eine Meinung dazu, warum die Menschen auf dem sächsischen Land oft so unzufrieden und wütend sind. Über Entscheidungen der Bundespolitik, sei es bei Migration, Corona-Maßnahmen oder Energiepolitik, sei in den vergangenen Jahren viel zu wenig diskutiert worden. „Und dann wundern sich die Politiker in Berlin, dass sich speziell viele Menschen im Landkreis und in Sachsen von der Politik nicht mehr ernst genommen fühlen?“

Blick auf Pretzschendorf, einen 900-Seelen-Ort im Osterzgebirge.
Blick auf Pretzschendorf, einen 900-Seelen-Ort im Osterzgebirge. © Felix Posner

Auch Bäckermeister Chris Sauer fühlt sich oft nicht von diesen politischen Entscheidungen mitgenommen. Er sagt: In der Gesellschaft fehle Ehrlichkeit. Politiker, Bürger - alle hauten sich nur noch die Taschen voll. „Jeder ist auf seine Vorteile bedacht und aus diesen ganzen Missverständnissen resultiert eben, dass die Leute ihr Kreuz bei der AfD machen. Die Leute hier, die sind einfach dagegen und am Ende des Tages wissen sie überhaupt nicht mehr, wogegen sie überhaupt sind“, sagt Sauer. Bürgermeister Schreckenbach widerspricht: „Es gibt einige, die wollen, dass es ganz genau nach deren Vorstellungen geht. Aber so geht das eben nicht.“

Nein. So geht das nicht. Aber wie dann?

Keine Antworten auf die Wut

Sauer sagt, man müsse wieder mehr Haltung zeigen. Schreckenbach sagt, man müsse mehr die Meinungen von anderen akzeptieren. Wanderwitz sagt, man müsse mehr in die Konfrontation gehen. Und der AfD-Politiker Barth sagt: Man müsse mehr Hinterfragen und weniger Hinnehmen. Was hier alle wütend mache und wie es besser werden kann? Auf diese Fragen haben weder Bürgermeister Schreckenbach, noch AfD-Politiker Barth, noch Bäckermeister Sauer eine Antwort. (LVZ)