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Überleben in der Winter-Wildnis

Nicht nur bei einem Wintereinbruch kann es überlebensnotwendig sein, wenn man sich in der Natur zu helfen weiß. Unterwegs mit einem Survival-Trainer im Erzgebirge.

Von Marvin Graewert
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Ein Schneesturm kann Michael Schubert nichts anhaben: Der Naturfreund verbringt auch bei Frost eine Nacht in seiner Hütte aus Ästen.
Ein Schneesturm kann Michael Schubert nichts anhaben: Der Naturfreund verbringt auch bei Frost eine Nacht in seiner Hütte aus Ästen. © Ronald Bonß

Die Tannen biegen sich unter einer dicken Schneeschicht, die bei jedem Windstoß wie Puderzucker von den Bäumen stäubt. Bei minus fünf Grad knirschen die Schritte auf dem durchfrorenen Boden, in der Ferne krächzt ein Rabe. Die Luft ist zwar eiskalt, klirrt aber nicht in der Nase. Ein Wintertag, an dem man sich nach einer Wanderung auf eine warme Tasse Kakao freut – und ganz bestimmt kein Tag, an dem man sich im Wald verirren möchte. Michael Schubert sieht das anders. Seit elf Jahren ist er Survival-Trainer.

Bereits als Kind hat Schubert jeden Nachmittag im Wald verbracht: Laubhütten gebaut, Förster ausgequetscht, Fische geangelt und über einem Lagerfeuer gebraten. Eine Leidenschaft, die immer mehr Anhänger findet. Vor allem liege das an sogenannten Preppern, die sich panisch auf einen Zivilisations-Zusammenbruch vorbereiten. Sie finden sich zunehmend auch unter den Teilnehmern seiner Überlebenskurse im Erzgebirge.

Wer sich dort verläuft, sollte eigentlich ins Tal steigen, eine Senke suchen und dem Flussbett solange folgen, bis Häuser auftauchen. Doch heute will Schubert zeigen, wie man sich einen Unterschlupf baut und von Beeren ernährt. Denn selbst in unseren Breiten kann dieses Wissen überlebensnotwendig werden: „Zum Beispiel beim Bergsteigen in der Sächsischen Schweiz. Da braucht nur ein Wetterumschwung kommen, den du nicht siehst, weil du den Berg vor dir hast“, sagt Schubert. „Dann fängt es an zu regnen und du weißt nicht mehr wohin.“

Seine Jagderfahrungen hat Michael Schubert im Ausland gesammelt und ist so sogar an Krokodilfleisch gekommen.
Seine Jagderfahrungen hat Michael Schubert im Ausland gesammelt und ist so sogar an Krokodilfleisch gekommen. © Ronald Bonß

Der 39-Jährige gibt sein Wissen in einem Übungsreservat hinter Marienberg weiter: „Ich empfehle immer, ein Tarp oder einen Poncho einzupacken.“ Das schützt vor Regen und kann zur Not als Unterkunft herhalten. „Wenn ich eine größere Tour mache, nehme ich außerdem Nudeln mit“, so Schubert. „Die sind lange haltbar, und so lange ich einen Wasserfilter dabei habe, findet sich überall Wasser zum Kochen.“ Moderne Filter wiegen nur noch um die 50 Gramm, und es gibt sie bereits ab 30 Euro. Eine gute Investition, denn selbst um Essen zu verarbeiten, brauche der Körper Wasser.

Theoretisch kommt der menschliche Körper bis zu drei Wochen ohne Nahrung aus. Länger als zwei Tage hat es selbst der Survival-Experte nicht ausgehalten. Muss er auch nicht: Die Natur hält zu jeder Jahreszeit Essbares bereit. Selbst im Winter muss man dafür nicht im Schnee buddeln.

Vergesst, was euch eure Eltern eingebläut haben

Schon auf dem Weg ins Übungsgelände ragt bereits nach 50 Metern eine verschrumpelte Brennnessel aus dem Schnee. Auch Spitzwegerich ist nicht weit: Im Winter sind vor allem die Samen der Heilpflanze mit den langen spitzzulaufenden Blättern interessant. Ein wenig Schütteln bringt winzige schwarzen Samen zum Vorschein. „Ein guter Ersatz zu Nüssen“, erklärt Schubert, während er sich mit der Zunge ein Korn aus den Zähnen fischt. „Nur für so ein paar Samen würde ich aber nicht durch den Wald ziehen, sonst habe ich schnell mehr Kalorien verbrannt, als ich aufnehme.“ Ergiebiger ist da die Wurzel der Nachtkerze, die im 18. Jahrhundert ein geschätztes Wintergemüse war.

Um den Vitamin-C-Bedarf zu decken, lassen sich Weißdorn-Beeren pflücken: „Die schmecken ein bisschen nach Apfel-Schale.“ Dass Kinder trotzdem eingebläut bekommen, die Finger von jeglichen Vogelbeeren zu lassen, liegt vor allem an der Blausäure. Die befinde sich allerdings im Kern. Von ein paar Beeren wird Schubert zwar nicht satt, allerdings helfen sie gegen das Hungergefühl.

Eigentlich werden Hagebutten im Herbst abgeerntet und zu Marmelade verarbeitet, so richtig süß sind sie erst nach dem ersten Frost.
Eigentlich werden Hagebutten im Herbst abgeerntet und zu Marmelade verarbeitet, so richtig süß sind sie erst nach dem ersten Frost. © Ronald Bonß

Wahre Vitaminbomben sind Hagebutten, die 25-mal so viel Vitamin C wie Orangen enthalten. Nach dem ersten Frost werden sie sogar richtig süß. Selbst wenn keine Früchte zu sehen sind: Fichtennadeln finden sich immer. Aus den Trieben lässt sich ein idealer vitamin-C-haltiger Tee kochen. „Der schmeckt wirklich gut und setzt ätherische Öle frei.“ Ob Vogelbeeren oder Schwarzer Holunder: Schubert isst alles, was Kindern ausgeredet wird. Damit er nicht zu viel Parasorbinsäure und pflanzliche Tenside aufnimmt, die Haut und Schleimhäute austrocknen, hat er eine Faustregel: Alles was auf eine Handfläche passt, ist unbedenklich.

Doch ohne Angeln und Jagen lässt sich selbst in einem guten Sommer kaum Überleben. Im existenziellen Notfall ist das deshalb keine Wilderei und wird strafrechtlich nicht verfolgt. So weit ist es auch für den Survival-Trainer noch nie gekommen. Seine Jagderfahrungen hat er im Ausland gesammelt: Am Amazonas hat er Welse mithilfe von Piranhas geködert und später bei Indigenen Völkern gegen ein bisschen Krokodilfleisch getauscht. In Slowenien ist er einmal einem Braunbären begegnet: „Ein 250 Kilo-Koloss, nur 25 Meter entfernt.“

In Deutschland ist Michael Schubert höchstens mal einem Wildschwein über den Weg gelaufen. Um solche Begegnungen zu vermeiden, hilft schon ein kleines Glöckchen am Rucksack. Zecken lassen sich davon allerdings nicht abhalten. „Vor ihnen habe ich am meisten Angst“, sagt Schubert. Aus gutem Grund: Von einem auf dem anderen Tag konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten. Diagnose: Borreliose. Eine Zeckenkarte sei deshalb unverzichtbar. Da sich die Borrelien im Darm der Zecke befinden, bleiben in der Regel zwölf Stunden, um die Zecke zu entfernen.

Spinnen zum Mittagessen

Schubert hält vor einem toten Baumstumpf an: „Hier hier lassen sich bestimmt ein paar Kellerasseln abgreifen.“ Doch da krabbelt nur eine winzige Spinne. „Ist jetzt nicht viel, aber wenn‘s sein muss, muss es sein.“ Schubert zuckt mit den Schultern und steckt sich die Spinne in den Mund – es knackt kaum hörbar. Wenn es um schnelle tierische Proteinquellen geht, hat er kaum Skrupel. Bei Regenwürmern hört es dann aber doch auf: „Wenn ich die in die Pfanne schmeiße, geht es schon, aber roh sind die mir einfach zu schleimig und eklig.“

Der Aufstieg ist plötzlich steil und eisig – es fällt schwer, sich auf den Beinen zu halten. Käme es zu einem Sturz, würde die Natur auch das passende Heilmittel gegen Schürfwunden bieten: „Ich pflücke dann ein bisschen Spitzwegerich und kaue so lange darauf herum, bis sich ein Brei bildet, den ich auf die Wunde schmieren kann“, sagt Schubert. Das hilft auch bei entzündeten Mückenstichen.

Im Winter ist der Birkenporling eine gute Alternative. Der Pilz hat eine antibakterielle Wirkung und wächst am Birkenstamm: „Schon Ötzi hat den als Wundverband benutzt und damit Keime im Wasser bekämpft.“ Gegen die Schmerzen würde Schubert einen Teelöffel voll Weidenrinde aufkochen. Ein Aspirin-Ersatz, denn die Extrakte wirken fiebersenkend und schmerzstillend.

Mit seinen Armen schaufelt Michael Schubert jede Menge Pulverschnee auf seine provisorische Holzhütte...
Mit seinen Armen schaufelt Michael Schubert jede Menge Pulverschnee auf seine provisorische Holzhütte... © Ronald Bonß
... jetzt noch ein Feuer und der Schnee isoliert so gut wie Styropor.
... jetzt noch ein Feuer und der Schnee isoliert so gut wie Styropor. © ronaldbonss.com

Um einen geeigneten Schlafplatz zu finden, verlässt sich der Trainer auf den Riecher der Waldbewohner. Im Schnee sind schnell Rehspuren gefunden, die zu einem plattgetreten Rastplatz führen. Ideal, um Holzhütten aus zusammengekeilten Ästen aufzubauen. Um diese Notunterkünfte zu isolieren, nimmt Schubert im Sommer Laub.

Doch der Überlebenskünstler weiß sich auch im Winter zu helfen und füllt die Lücken zwischen den Ästen mit Schnee auf: „Wenn ich jetzt in der Hütte ein kleines Feuer mache, wird der Pulverschnee durch die Wärme zu Pappschnee. Das schließt so viel Wärme ein, dass es ähnlich isoliert wie Styropor. Wenn ich dann noch eine Rettungsdecke hinter mir aufspanne, wird die Wärme von hinten zurückreflektiert. Von vorne wärmt das Feuer.“

Feuer machen für Fortgeschrittene

Aber wie lässt sich an einem feuchten Wintertag trockenes Holz finden? Schubert hat vorgesorgt und auf dem Weg leicht entzündliche Birkenrinde gesammelt. Da Regen und Schnee meistens von Nordosten gegen dem Baumstamm peitschen, zieht er die Rinde von der anderen Seite ab.

Schubert breitet das Anzündmaterial als Häufchen vor sich aus und zieht einen Magnesiumstab aus seiner beigen Outdoor-Hose, die eingewachst sogar wasserabweisend ist. Ein bisschen Reibung mit dem Messer lässt die ersten Funken sprühen. Das ist deutlich einfacher als Feuerbohren. Ein Stadtmensch sollte trotzdem besser ein Feuerzeug einpacken. Damit das auf der Wanderung nicht nass wird, empfiehlt Schubert, es in ein Kondom einzupacken.

Schritt 1: Aus Holzschnitzeln und Zweigen in einer Mulde ein kleines Nest bauen, als Zunder eignet sich Birkenrinde.
Schritt 1: Aus Holzschnitzeln und Zweigen in einer Mulde ein kleines Nest bauen, als Zunder eignet sich Birkenrinde. © ronaldbonss.com
Schritt 2: Mit Magnesiumstab, einem Messer und ordentlich Reibung sprühen genug Funken, um Zunder zu entfachen.
Schritt 2: Mit Magnesiumstab, einem Messer und ordentlich Reibung sprühen genug Funken, um Zunder zu entfachen. © ronaldbonss.com
Schritt 3: Das Schwierigste ist, die kleine Flamme am Leben zu halten. Im Winter eignet sich dafür trockenes Totholz.
Schritt 3: Das Schwierigste ist, die kleine Flamme am Leben zu halten. Im Winter eignet sich dafür trockenes Totholz. © ronaldbonss.com

Um das Feuer am Lodern zu halten, muss Schubert im Winter Totholz von den Bäumen abreißen: „Das ist ziemlich trocken, da sich die Nadeln und Zweige wie ein natürlicher Regenschirm verhalten.“ Und tatsächlich, das Holz ist so trocken, dass es kaum qualmt. Dafür beginnen die feuchten Klamotten zu dampfen. Wenn nachts das Holz ausgeht, könne man die Glut auf dem Boden verteilen, etwas Erde drüberschütten und schon habe man eine natürliche Fußbodenheizung. Aber aufgepasst: Um im Wald ein Feuer zu machen, braucht es eine Sondergenehmigung.

© ronaldbonss.com

Auf Gesellschaft am Lagerfeuer muss Schubert vorerst verzichten: Wegen Corona sind seine Survival-Kurse abgesagt. Sonst würde er jetzt mit Jägern, Ärzten, Anwälten und Maurern zusammensitzen, Wissen austauschen und den unterschiedlichen Lebensgeschichten lauschen. Bis das wieder möglich ist, muss er es sich in seiner Waldhütte alleine gemütlich machen.