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Musiker mit Behinderung: "Jeder von uns ist etwas speziell"

In der Dresdner Band „Alpha Project“ erleben Musiker mit Behinderung mehr als laute Töne.

Von Karin Großmann
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Sie proben und musizieren gemeinsam (v.l.): Robert Sterlinsky, Volker Bönsch, Bandchef Marco Pfennig, Danilo Richter, Maximilian Seebach, Jasmin sowie Danilo Rausch.
Sie proben und musizieren gemeinsam (v.l.): Robert Sterlinsky, Volker Bönsch, Bandchef Marco Pfennig, Danilo Richter, Maximilian Seebach, Jasmin sowie Danilo Rausch. © kairospress

Das Leben, das ist ein Chaos! Empört und zornig singt Jasmin diesen Satz. Sie kennt das Leben nur zu gut. An einem sonnigen Morgen klingelt der Wecker nicht. Also verschlafen, das Telefon des Chefs nicht gehört und den Bus verpasst … Manchmal kommt alles zusammen. Sie stampft mit dem Fuß auf und drückt das Mikrofon an den Mund. Der Bass dröhnt. Das Schlagzeug lärmt. Das Leben ist Chaos! In der linken Hand hält Jasmin ein abgenutztes Notizbuch. Aber Lesen und Schreiben ist nicht so ihrs. Sie hat auf die Linien eine Sonne gemalt, ein Telefon und einen Bus. „Und so kannst du dir den Text merken? Respekt!“, sagt der Leiter der Rockband. „Schleimer“, sagt Max.

Frotzeln und Duzen gehört zum guten Ton in der Dresdner Band „Alpha Project“. Donnerstagabends treffen sie sich zur Probe. Der Raum im Heinrich-Schütz-Konservatorium wird auch von anderen genutzt. Also wird erst mal geräumt, Stühle, Kabel, Instrumente, Notenständer und das Mischpult für Marco Pfennig. Er leitet die Truppe. Spielt Gitarre und Banjo, sitzt manchmal im Orchester der Landesbühnen oder bei der Musikalischen Komödie in Leipzig, unterrichtet Studenten und hat vor allem eines: Humor. Gute Laune hilft bei Erschöpfung am Ende eines Arbeitstags. „War das Zufall, dass es geklappt hat, oder war es etwa Talent?“, fragt er nach dem ersten Song mit gespieltem Erstaunen. Was für eine Frage.

Die Band musiziert seit fast zwanzig Jahren. Es war die erste in Dresden für Menschen mit Behinderung. Einige sind von Anfang an dabei. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so lange hält“, sagt Danilo Rausch. Er schlägt auf die Becken, als müsste er sich erst mal austoben. Dampf ablassen. Musik taugt auch dazu. „Das Spielen fordert uns heraus“, sagt er, „und wir haben viel Spaß zusammen.“

Die Sängerin kam später dazu. Ihr Lieblingsvorname sei Jasmin, sagt Saskia Seiffahrt. Das wird akzeptiert wie bei Profikünstlern. Und es sind Künstler, mit all ihrem Ungenügen, ihrer Tieferbegabung, ihrem Handicap. Das politisch korrekte Wort interessiert hier keinen.

Am Musik-Konservatorium kann jeder mitmachen

„Ich bin Autist“, sagt Volker Bönsch, „und manchmal bisschen verpeilt.“ Mit der rechten Hand gibt er den Einsatz am Keyboard. Er spielt nach Gehör, nicht nach Noten. Seit wann? „Seit ewig.“ Und bei Familienfeiern am liebsten Techno. Die Band beschreibt der Mittdreißiger so: „Jeder von uns ist etwas speziell.“ Pause. Ironisches Lächeln. „Aber nicht unfreundlich.“

Rund 700 Schüler lernen am Schütz-Konservatorium singen, tanzen oder ein Instrument. Das Wort Konservatorium mag hochtrabend klingen. Davon sollte man sich nicht schrecken lassen, meint Holger Schanze. Er hat beim legendären Jazzpianisten Günter Hörig Schlagzeug studiert und zehn Jahre lang professionell in einer Band gespielt. An der Schule ist er unter anderem für Inklusion zuständig. „Bei uns kann jeder mitmachen“, sagt Schanze, „ohne Aufnahmeprüfung.“ Dafür brauchte es nicht erst die Erklärung des Deutschen Musikschulverbandes von 2014 zu innerer und äußerer Barrierefreiheit.

Die Happy Drummers zum Beispiel gibt es schon länger. Holger Schanze baute die Gruppe in Dresden auf, eine von mehreren Percussion-Bands für junge Erwachsene mit Behinderung. „Wir trainieren nicht auf Leistung. Aber eine Entwicklung sollte spürbar sein, bei allen Schülern.“ Das Konservatorium entstand 1996 aus der Fusion von Landesmusikschule und Dresdner Musikschule als Eigenbetrieb der Stadt.

Für die Musiker von „Alpha Project“ war es ein großer Schritt, als sie in einem Tonstudio ihre erste CD aufnahmen. Sechs Titel sind drauf. Jetzt beherrschen sie zehn. Musik und Texte sind selbst verfertigt. Bei der Suche nach Themen kommt man ins Reden. Was macht einen glücklich, was regt einen auf, was hat man erlebt? Im kleinen, vertrauten Kreis spricht mancher vielleicht offener als anderswo.

Musiktherapie mit und ohne Noten. Fast alle arbeiten in der Werkstatt des Lebenshilfe-Vereins am Dresdner Stadtrand. Was sie tun? Jasmin zuckt die Schultern. Handmontage, Verpackung. „Aber wenn ich singe, bin ich weg, dann bin ich in einer anderen Welt.“ Mit der rechten Hand gibt sie ihren Kollegen ein Zeichen. Sie formt einen Tierkopf mit Schnauze und Ohren. Den Schweigefuchs hat sie mitgebracht, den kennt sie vom Kindergarten. Nach und nach wird das Schlagzeug leiser, die Trommel, das Keyboard, die Gitarre. Das schafft eine kleine Endzwanzigerin, die kaum schreiben kann, schräg durch die Brille guckt und von spastischer Lähmung beeinträchtigt ist.

Immer wieder eine Frage des Geldes

Es müsste viel mehr solche Chancen geben für alle, sagt Holger Schanze vom Konservatorium. Er hatte einen ausrangierten Bus aufgetrieben für den Umbau zum Probenraum. Damit wollte er in Stadtviertel fahren, wo man jeden Cent dreimal umdreht und Kinder eher selten mit dem Auto zum Geigenunterricht chauffiert werden. „Es geht auch um soziale Inklusion“, sagt Schanze. Und dass es Außenstellen geben müsste in Brennpunktschulen.

Ein Orchester für Junge und für Alte, weil gerade Musik für Senioren eine belebende Wirkung habe. Mehr Konzerte in Pflegeheimen. Mehr Raum für Hochbegabte, denn auch sie hätten Inklusionsbedarf. Das Schwierigste sei es, sagt Holger Schanze, für jeden das passende Konzept zu finden, ohne zu überfordern oder zu unterfordern. „Das Erlernen eines Instruments ist wie eine Schatzsuche. Man ist gut unterwegs, auch wenn man keinen Schatz findet.“

Die schönen Pläne gingen in den Corona-Wellen unter. Einladungen für das „Alpha Project“ wie etwa zum Dresdner Elbhangfest oder zu Firmenfeiern gibt es kaum noch. Damit geht nicht nur ein Stück öffentlicher Akzeptanz verloren. Der Beifall fehlt. Er stärkte das Selbstwertgefühl. Oder gab es den nur aus Mitleid? „Die Leute haben sich mit uns gefreut, was wir schaffen“, sagt Robert Sterlinsky, der Bassist. Die Ärzte attestierten ihm eine Teilquerschnittslähmung. „Ich bin gefangen in meinen eigenen Wänden“, singt er. „Hörst du mich schreien. Komm mich befreien.“ Seine volle, schöne Stimme füllt den Probenraum.

Am Ende ist es wie immer und überall auch eine Frage des Geldes. Das Honorar für den Leiter vom „Alpha Project“ wird von Spenden der SZ-Aktion Lichtblick mitfinanziert. Wenn Marco Pfennig seine Musiker antreibt, wechselt er von einem übertrieben breiten bayerischen Dialekt in einen sächsischen Dialekt. „Nu macht ma‘ bissel Dynamik.“ Er schaut sich um. Ob sie eigentlich komplett seien? Es käme ihm heute so luftig vor. „Wir haben abgenommen“, sagt Max.

Als Maximilian Seebach beim Improvisieren nur mit den Händen trommelt, stutzt der Chef. Mach das noch mal. Das klingt gut. Das können wir gleich übernehmen. One, two, three … Er zählt den nächsten Song ein. Bricht ab. Wiederholt. Erzählt einen nicht ganz stubenreinen Musikerwitz. Jasmin gluckst vor Lachen. Marco Pfennig sagt, dass er schon als Jugendlicher in Franken in integrativen Zeltlagern arbeitete. „Wir geben ihnen einmal die Woche für ein paar Stunden ein bisschen Normalität. Sie können ihren Neigungen nachgehen. Für uns Nichtbehinderte ist das selbstverständlich, wenn wir die finanziellen Mittel dazu haben.“

Danilo Richter dreht den Kopf zum Rhythmus seiner Gitarre. „Musik bedeutet ihm alles“, sagt seine Mutter. „Das Spielen ist auch gut für die Feinmotorik.“ Marion Pomassl lebt von Erwerbsunfähigkeitsrente und bringt ihren 39-jährigen Sohn jeden Donnerstag zur Probe. Sie fährt mit ihm zu Konzerten und einmal sogar nach Südtirol zu den Kastelruther Spatzen. Die liebt er besonders. Er habe zu wenig Sauerstoff bei der Geburt bekommen, sagt Marion Pomassl. Sie war an Krebs erkrankt. Ein Assistent könnte ihr den Alltag erleichtern. Denn ein Fußballfan ist Danilo auch. Aber Assistenten sind ebenso rar wie Wohngemeinschaften für Behinderte. Frau Pomassl nutzt die Probe, um draußen im Gang mal in Ruhe mit einer Freundin zu telefonieren.

Drin wird es richtig laut. In Großbuchstaben steht das Wort Kempfen in Jasmins Notizbuch. „Ich habe es nicht immer leicht“, singt sie, „ich kämpfe um Gerechtigkeit, um Anerkennung weltweit. Ich lass mich nicht unterkriegen. Ich werde siegen.“ Das Singen hilft ihr schon seit der Kindheit, sagt Jasmin. Warum? Da kommt dieser umwerfende Satz: „Singen poliert so schön das Gedächtnis.“

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