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Wie Juden in Sachsen leben

Die Jüdische Gemeinde in Dresden hat über 700 Mitglieder. Viele kamen bewusst hierher und leben gern in der Stadt, auch wenn der Fremdenhass Ängste weckt.

Von Olaf Kittel
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Mit lebendiger jüdischer Kultur wie hier beim „Jiddisch-arabischen Ball“ will die Jüdische Gemeinde Impulse in Dresden setzen.
Mit lebendiger jüdischer Kultur wie hier beim „Jiddisch-arabischen Ball“ will die Jüdische Gemeinde Impulse in Dresden setzen. © kairospress

Eigentlich sind Schabbat-Regeln ziemlich streng, auch in Dresden. Danach wird der jüdische Ruhetag am Freitag mit einem Gottesdienst bei Sonnenuntergang feierlich eingeleitet. Aber gerade jetzt im Sommer geht die Sonne spät unter, und die Dresdner Juden wollen freitags auch mal heim. Also zelebriert Rabbiner Akiva Weingarten den Gottesdienst in der Dresdner Synagoge bei strahlendem Sonnenschein ab 18.30 Uhr.

Die männlichen Gottesdienstbesucher tragen Kippa und sitzen rechts, die Frauen durch einen Gang getrennt im linken Teil der Synagoge. Der Rabbiner trägt einen eng geschnittenen langen, silbernen Kaftan mit einem Gebetsmantel darüber, der mit seinen Knoten und Schleifen an die 613 Gebote aus der Thora erinnert. Er steht mit dem Rücken zur Gemeinde, den Blick gen Jerusalem gerichtet. Er trägt, mit dem Oberkörper leicht wippend, singend aus dem Gebetsbuch vor. Die Besucher, alle mit Maske, sollen coronabedingt nicht mitsingen, wagen es nur leise. Nach den hebräischen Texten predigt Akiva Weingarten auf Deutsch und erzählt eine uralte Geschichte von der seltenen roten Kuh, die einstmals geschlachtet und verbrannt wurde, um mit ihrer Asche unrein gewordene Menschen zu reinigen. Die Moral seiner Geschichte: Wir wollen die jüdischen Traditionen weiter im Herzen tragen, auch wenn ihr Sinn heute nicht mehr erklärbar ist.

Nach der Predigt geht der 36-jährige Rabbiner, der in einer orthodoxen Familie in den USA aufgewachsen ist, freudestrahlend auf jeden Besucher zu und wünscht „Schabbat Schalom“, einen friedvollen Feiertag, der bis zum Sonnenuntergang am Sonnabend andauert. Der Wunsch schließt Befreiung von allem Unheil, Gesundheit, Sicherheit, Frieden und Ruhe ein.

Auf den Schabbat-Gottesdienst, den Rabbiner Akiva Weingarten (Mitte) zelebriert, folgt das festliche Essen.
Auf den Schabbat-Gottesdienst, den Rabbiner Akiva Weingarten (Mitte) zelebriert, folgt das festliche Essen. © kairospress

Lange braucht er nicht, um die guten Wünsche loszuwerden, es sind nur 14 Besucher gekommen, darunter einige Studenten aus Israel, die den Altersdurchschnitt drücken. Weitere sieben waren beim Gottesdienst online dabei.

Über 700 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde in Dresden heute, sie ist in den vergangenen drei Jahrzehnten deutlich gewachsen. Nur etwa 50 Juden hatten den Holocaust in ihrer Heimatstadt überlebt oder waren nicht geflohen, von etwa 5.000 Anfang der 30er-Jahre. In der DDR blieben es um die 50 Gemeindemitglieder, erst nach der Wende kamen jüdische Zuwanderer vorwiegend aus der ehemaligen Sowjetunion hinzu, die Bundesregierung hatte jährliche Zuwanderungs-Kontingente zugesagt.

Aber warum ist die Gemeinde so wenig präsent in der Öffentlichkeit, Michael Hurshell? Er ist seit eineinhalb Jahren ihr Vorsitzender und als Musiker, Dirigent und Dozent an der Musikhochschule tätig, er leitet die Neue Jüdische Kammerphilharmonie Dresden. Der Wiener mit amerikanischen Wurzeln sieht zunächst Corona als Ursache, seit März 2020 gab es mit Ausnahme der Online-Gottesdienste kein Gemeindeleben mehr. Erst im Herbst erwartet er mit der Jüdischen Woche in Dresden „kräftige Lebenszeichen“. Als Grund für die Zurückhaltung sieht er aber auch den ansteigenden Antisemitismus. Seit Jahren nehmen vor allem die Propagandadelikte zu. „Aber immer weniger Straftaten landen vor Gericht“, kritisiert Michael Hurshell.

Michael Hurshell, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde
Michael Hurshell, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde © kairospress

Vor allem der Anschlag auf die Synagoge von Halle hat die Unsicherheit und die Ängste verstärkt. Seither wurden die Sicherheitsvorkehrungen für jüdische Einrichtungen überall in Deutschland verstärkt. Jetzt wird darüber nachgedacht, ob man die Büros der Dresdner Gemeinde mit Panzerglas ausstattet. „Dabei wollten wir hier ein offenes Haus sein. Und jetzt müssen wir die Synagogentür fest verschließen.“ Besonders betroffen gemacht hat Hurshell der Rat, Juden in Deutschland sollten doch auf das Tragen der Kippa in der Öffentlichkeit verzichten. So weit ist es schon?

Sehr verunsichert haben zuletzt die antiisraelischen Proteste, das Verbrennen der israelischen Fahne durch Flüchtlinge aus der arabischen Welt. „Wir verstehen Flüchtlinge, wir haben jahrtausendealte Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung, es ist richtig, dass Deutschland Flüchtlingen hilft. Aber es sind auch viele gekommen, die Antisemitismus mit der Muttermilch aufgenommen haben“, erklärt Michael Hurshell seinen Standpunkt zur Flüchtlingspolitik. Aber ebenso verunsichert Juden in Dresden, wenn Pegida in der Nähe der Synagoge demonstriert, sogar zuletzt am 9. November, dem Jahrestag der Judenpogrome, während die Gemeinde aus Rücksicht auf die Pandemielage alle Veranstaltungen abgesagt hatte.

Und so richtig freuen konnte sich seine Gemeinde auch nicht darüber, dass Jörg Urban und die sächsische AfD-Führung nach den antiisraelischen Ausschreitungen mit Blumen anrückten und die Synagoge symbolisch schützen wollten. Dazu erinnern Juden Sprache und Programmatik der Partei zu sehr an finstere Zeiten.

Interessant, was Hurshell trotz allem nach Dresden zog, außer der Musiktradition. „Der Widerstand vor Jahren in Dresden, als die großen NPD-Demos blockiert wurden, hat mich sehr beeindruckt.“ Und verschmitzt fügt er hinzu: „Ja, ich weiß, sie waren rechtswidrig.“ Und stark beeindruckt hat ihn auch die Solidarität der Dresdner mit seiner Gemeinde nach den Anschlägen von Halle. Erst Ende Juni gab es wieder eine solidarische Kundgebung vor der Synagoge.

Viele Juden aus Russland in Dresden

Aber es gibt mehr Gründe für die Zurückhaltung vieler Juden. Auf einen verweist Katja Kulakowa, Musiklehrerin und im Gemeindevorstand aktiv. Über 90 Prozent der Dresdner Gemeinde bilden Juden aus Russland und den ehemaligen GUS-Staaten. „Und in Russland ist der Antisemitismus überall. Dort überlegt man sich es dreimal, ob man in die Synagoge gehen soll, und lebt lieber unauffällig. Deshalb wollten ja so viele weg aus der Heimat.“ Katja Kulakowa aus Omsk in Sibirien kam im September 2005 mit ihren Eltern am Dresdner Hauptbahnhof an. „Ich dachte sofort: Jetzt bin ich zu Hause.“ Die 52-Jährige liebt die Kultur in Deutschland, und sie ist froh, dass sie nicht mehr verheimlichen muss, dass sie Jüdin ist. Hier hat sie damit keine Probleme. „Die Dresdner bemühen sich, zu zeigen, dass sie nichts gegen Juden haben.“

Auch aus Russland stammt Elena Tanaeva. Sie kam 1998 mit ihrem damals 13-jährigen Sohn und den Eltern aus St. Petersburg nach Dresden. Anfang der 90er-Jahre hatte sie noch Hoffnung, im neuen Russland eine gute Zukunft zu haben. Aber als dann Pamjat-Anhänger mit extrem antisemitischen Sprüchen über den Newski-Prospekt zogen, hatte sie das Gefühl, „dass es wieder heiß werden kann für uns Juden“. Bald darauf stellte sie einen Ausreiseantrag.

Elena Tanaeva, Sozialarbeiterin der Jüdischen Gemeinde
Elena Tanaeva, Sozialarbeiterin der Jüdischen Gemeinde © kairospress

In der neuen Heimat – „Für mich als Leningraderin kam nur Dresden infrage“ – erlebte sie dann aber, was Flüchtlinge oft erfahren müssen und auch Ostdeutschen nicht fremd ist: Abschlüsse wurden nicht anerkannt, Jobs gab es meist nur weit unterhalb der Qualifikation. Sie erzählt die Geschichte eines Softwareexperten, der dann hier Reinigungsdienste in einer Softwarefirma übernahm. Elena Tanaeva, gelernte Buchhalterin, trat schließlich eine halbe Stelle bei der jüdischen Gemeinde als Sozialarbeiterin an. Diese Tätigkeit wurde schnell zur allerwichtigsten. Sie hilft Menschen, die auch heute noch oft mit Sprachproblemen kämpfen, sie hilft mit Beratung, sie geht mit auf die Ämter, kümmert sich um Kranke und Bedürftige. Es sind viele. Aus der halben Stelle wurde eine ganze, obwohl die Gemeinde sehr sparsam wirtschaften muss. Elena Tanaeva ist heute die gute Seele der Gemeinde.

Bisher keine schlechten Erfahrungen

Sie erlebt aber auch in der Familie, wie sehr sich die Probleme der Zuwanderer verändern. Die erste Generation tut sich schwer mit der Integration, das Heimweh plagt. Sie sind vor allem gekommen, damit ihre Kinder frei und ohne Angst leben können. Und diese Kinder, die zweite Generation, sind heute prächtig integriert, viele studieren und übernehmen anspruchsvolle Jobs – und ziehen weg aus Dresden. Ihr Sohn lebt als IT-Fachmann mit Frau und sechs Kindern in Berlin und führt dort ein jüdisches Leben in einer vergleichsweise jungen und aktiven Gemeinde.

Auch Valentina Marcenaro bedauert es, dass in Dresden so wenig Geld und Kraft bleibt, um den Jungen eine Heimat zu bieten. Wir treffen die jugendliche 48-Jährige in einem Straßencafé in der Dresdner Neustadt, in der sich die gebürtige Mailänderin pudelwohl fühlt. Sie kam nach dem Studium nach Dresden und leitet jetzt die Jugendkunstschule. Ihr Mann ist Arzt und einer der wenigen Juden in Dresden, der stets die Kippa trägt und damit hier – aller gängigen Vorurteile zum Trotz –- noch nie schlechte Erfahrungen gemacht hat. Ihre Tochter ist 15, der Sohn 19. Sie feiern gemeinsam den Schabbat. Aber Frau Marcenaro bedauert sehr, dass für die höchstens 20 Kinder und Jugendlichen kein Geld da ist. Wie knapp die Mittel sind, weiß sie auch als Vereinsvorsitzende der Jüdischen Woche in Dresden.

Avery Gosfield ist die neue Festivalleiterin, eine jüdisch-amerikanische Musikerin, die schon bald ihren festen Wohnsitz von Italien nach Dresden verlegen will. Mit viel Elan und neuen Ideen hatte sie ihr Amt im vergangenen Jahr angetreten und wurde prompt von Corona ausgebremst. 2021 soll es nun losgehen. Anfang Juli stimmte schon mal ein „jiddisch-arabischer Ball“ in der Dresdner Neustadt darauf ein. Zwei Bands spielten jiddische und arabische Musik, modern interpretiert, abwechselnd gespielt. Die vorwiegend jungen Besucherinnen tanzten begeistert dazu, coronabedingt nur vor ihren Stühlen. Die Theaterruine St. Pauli vibrierte trotzdem.

Diskussion über Museumsbau

Avery Gosfield hat sich vorgenommen, jüdischer Kultur in Dresden einen festen Platz zu geben. Nicht nur die populäre Klezmermusik soll die Jüdische Woche in Dresden vom 30. September bis 10. Oktober prägen, sondern jüdisch-deutsche Kultur in der ganzen Bandbreite. Musik von Kurt Weill ist geplant, es wird im Societaetstheater Schauspiel und Videokunst geben, Handarbeiten werden gezeigt, das Theaterrestaurant kocht jüdische Gerichte. „Mir ist es wichtig, lebendige jüdische Kultur nach Dresden zu bringen. Auch, um etwas gegen den Antisemitismus zu tun“, sagt Avery Gosfield, die selbst mit ihrem Ensemble „Lucidarium“ auftreten wird, das sich der alten Musik verschrieben hat und weltweit unterwegs ist.

Für viel Diskussion sorgte eine Initiative für ein jüdisches Museum in Dresden. Seit Jahren wird darüber gesprochen, im Frühjahr hat ihr der Stadtrat prinzipiell zugestimmt. Ja, es wäre wichtig, argumentierte der Rat, einen würdigen Ort entstehen zu lassen, an dem an die wechselvolle Geschichte der Juden in Sachsen erinnert werden kann, an die Ermordung und Vertreibung, an die barbarische Vernichtung jüdischen Lebens in der Stadt. Aber es gibt auch kritische Stimmen, die darauf verweisen, dass es in Berlin ein solches Museum von Rang gibt, dass sich in Dresden kaum noch Exponate finden lassen, dass völlig unklar ist, wie eine solche Einrichtung finanziert werden soll. Und Valentina Marcenaro bringt ein weiteres Argument gegen einen Museumsbau an: Dresden brauche viel mehr ein Begegnungszentrum, wo man Kultur erleben und Menschen treffen kann. „Die Dresdner sollen aus so einem Ort mit einem guten Gefühl und nicht mit einem schlechten Gewissen herauskommen. Nur so ist gutes Zusammenleben in der Zukunft möglich.“

Nach dem Schabbat-Gottesdienst in der Synagoge am Freitagabend treffen sich Dresdner Juden und Studenten aus Israel mit Rabbiner Weingarten (hinten Mitte).
Nach dem Schabbat-Gottesdienst in der Synagoge am Freitagabend treffen sich Dresdner Juden und Studenten aus Israel mit Rabbiner Weingarten (hinten Mitte). © kairospress

Solche Einwände nimmt der wichtigste Initiator des Museumsbaus durchaus ernst. Prof. Dr. Stefan Bornstein ist Klinikdirektor am Dresdner Uniklinikum, er stammt aus einer jüdischen Familie, einige Mitglieder wurden in Konzentrationslagern ermordet. Ihn treibt die Museumsidee schon seit Jahrzehnten um. Ja, die Shoa werde natürlich im Museum einen Platz haben, sagt er, aber sein Anliegen ist es vor allem, 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland zu dokumentieren.

„Juden lebten bereits in deutschen Landen, als es hier noch keine Christen gab. Sie haben unendlich viel für Politik, Wissenschaft, Technik und Kultur geleistet.“ Stefan Bornstein möchte diese Leistungen in der Region dargestellt sehen und das Museum gleichzeitig als einen Ort der Begegnung verstanden wissen, der Brücken baut. Bis zum Ende des Jahrzehnts, so hofft er, könnte das Projekt fertig sein – möglichst im Dresdner Zentrum, am liebsten am Neumarkt, nah am ehemaligen jüdischen Viertel, nah an einem Ort, an dem sich viele Menschen treffen.

Nach dem Gottesdienst in der Synagoge lädt Rabbiner Akiva Weingarten noch zum festlichen Essen ein, es ist Bestandteil des Schabbat-Abends. Dazu fahren wir in eine kleine Schule, die auf seine Initiative für junge Israelis eingerichtet wurde, die dort aus streng orthodoxen Familien ausgebrochen sind. Sie wollen in Dresden Deutsch lernen, westlich leben und zugleich die religiösen Traditionen bewahren, später wollen sie hier studieren. Akiva Weingarten hat selbst in Israel gelebt und ist aus orthodoxen Verhältnissen ausgebrochen, er kennt die Probleme und Wünsche der jungen Leute genau.

"Auf das Leben"

Als wir eintreffen, ist die Tafel bereits gedeckt und mit Blumen geschmückt. Die junge Frau des Rabbiners entzündet feierlich die Kerzen, die Vorspeisen werden aufgetragen. Akiva Weingarten an der Stirnseite der Tafel setzt sich eine Schtreimel auf, eine gewaltige Pelzmütze aus Biberschwänzen. Zunächst schneidet er einen frisch gebackenen Laib Brot an, dann stimmt er Gesänge zum Schabbat an, traurige, getragene, fröhliche. Seine Gäste am Tisch singen mit, zwischen den Liedern lassen sie es sich schmecken. Nach den Vorspeisen folgt Fisch, dann etwas Fleisch, mit Wein wird angestoßen.

Nach dem Essen verabschiedet sich Akiva Weingarten schon bald, am nächsten Morgen muss er wieder fit sein, wenn der zweite Schabbat-Gottesdienst folgt, in dem er aus einer Thora-Rolle liest. Anschließend wird es dann wieder ein gemeinschaftliches Essen geben, so wie es auch in traditionell lebenden jüdischen Familien in Dresden üblich ist. Die Familie kommt zusammen, Freunde werden eingeladen. Vorbereitet werden die Essen am Freitag, am Schabbat wird nicht gearbeitet.

Akiva Weingarten feiert heute einen seiner letzten Gottesdienste in Dresden. Er hat seinen Vertrag aufgelöst, hier hatte er nur eine halbe Stelle, die andere in Basel. Eine schwierige Konstellation, zumal es Verständigungsprobleme mit der Gemeinde gab. Die sucht nun einen neuen Rabbiner, er soll neben Deutsch und Hebräisch auch Russisch sprechen.

Bevor er am Freitagabend seine Tafelrunde verlässt, hebt der Rabbiner noch einmal das Glas. „Le’chaim“. Auf das Leben. Dieser Trinkspruch wird heute, am Sonnabend, wieder in Dresdner Familien ausgebracht.