Natur erobert Sowjetgelände bei Dresden zurück

Andreas Kirste steht mitten im Wald an einem kleinen See. Ein Wanderweg führt hier unweit der B 98 am Rande der Königsbrücker Heide entlang. Der Naturwacht-Ranger hält ein Foto in der Hand. Zu erkennen sind Fichten, größer als ein Weihnachtsbaum, die an einem kleinen Bach stehen.
Dann zeigt Kirste hinter sich: Mannshohes Schilf umrahmt einen See, Birken und Erlen säumen das weitere Ufer, Schwäne und Stockenten ziehen friedlich ihre Bahn. „Das Foto wurde vor 20 Jahren genau hier gemacht“, sagt Kirste. Die Fichten sind verschwunden. Der Biber hat den Graben Bohraer Wasser an einer Stelle angestaut, so ist ein altes Teichgelände wieder neu entstanden. Die Biberburg ist noch immer aktiv, gut im Schilf am Rande des kleinen Sees getarnt. „Es ist ein sehr gutes Beispiel dafür, was die Natur zustande bringen kann, wenn man sie einfach sich selbst überlässt“, sagt Kirste. Genau dieses Schauspiel ist in Sachsen wohl nirgends sonst so eindrucksvoll zu beobachten wie in der Königsbrücker Heide.
Safari in Sachsens Wildnis
Das Gebiet, etwa 30 Kilometer nördlich von Dresden, ist das größte zusammenhängende Naturschutzgebiet in Sachsen und gehört mit seinen 7.000 Hektar zu den größten deutschlandweit. Mit ihrer schützenswerten Flora und Fauna zählt die Königsbrücker Heide auch als FFH-Gebiet, eines von 270 dieser Schutzareale im Freistaat. Die SZ widmet ihnen diese Sommerserie.
Der Zutritt zu der Naturarena, in der der Mensch nur Zuschauer sein darf, ist streng reglementiert. Tief ins Innere gelangen Besucher nur mit einer Bus-Safari gemeinsam mit einem Ranger. Je nach Jahreszeit präsentiert die Heide dabei ihre Besonderheiten: die Blüte der Wildobstbäume im Frühjahr, die reiche Ginsterblüte im Frühsommer, die Heideblüte, die Rotwildbrunft im Herbst. Das Betreten des 6.000 Hektar großen Kerngebietes ist aber nicht nur aus Naturschutzgründen verboten.

Was kaum vorstellbar scheint: Wo heute Kraniche ungestört ihre Jungen aufziehen und seit zehn Jahren wieder ein Rudel Wölfe durch die Wälder streift, sind vor gar nicht allzu langer Zeit noch Panzer über karge Sandböden gerollt. Von 1907 bis 1992 diente das Areal als Schieß- und Übungsplatz für vier Armeen. Zehn Dörfer wurden abgetragen. Als Letztes nutzten die sowjetischen Streitkräfte die Heide für ihre 11. Panzerdivision und verschiedene Truppenteile. Die über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft wurde fast vollständig zerstört.
Nach Abzug der Sowjetarmee ergriff der Freistaat die Chance und begann eine Art Naturexperiment. Seit 1992 erobern sich Flora und Fauna die zerfurchte Fläche mehr und mehr zurück. Hinterlassenschaften, wie alte Bunker, dienen Fledermäusen und anderen Nachtjägern als Quartiere. Noch immer lagern Überbleibsel aus der Militärzeit in der Erde – Panzergeschosse, Minen, Granaten. Fast wöchentlich rückt der Kampfmittelbeseitigungsdienst an.
Spazierpfade für Besucher
Gelegenheit, die Vorstellung der Natur aus der Nähe zu erleben, gibt es dennoch – an den sogenannten Naturschaufenstern am Rande des Schutzgebietes. Sie sind alle von dem Rad- und Wanderweg zu erreichen, der rund um die Königsbrücker Heide führt. Da wäre der Turmpfad nahe Königsbrück, der am früheren Kasernengelände entlang bis zum 34 Meter hohen Haselbergturm führt. Der Zochauer Heidepfad, von dem sich besonders gut Rothirsche beobachten lassen. Der Walschkenpfad im Norden, der am besten von den Wanderparkplätzen in Cosel und Zeisholz zu erreichen ist. Oder der Pfad „Altes Dorf“, der am Parkplatz an der B 94 bei Schwepnitz beginnt und an dessen Rändern im August die Heide blüht.

Dass der Biber zu den größten Baumeistern hier gehört, ist eindrucksvoll am Biberpfad zu erleben. Der schlängelt sich sieben Kilometer durch die Reviere am Bohraer Wasser bei Glauschnitz. Wer Glück hat, kann unterwegs die Nager beobachten. „Der Biber war 200 Jahre lang in Sachsen ausgestorben, nun leben allein in der Heide rund 250 Exemplare“, sagt Kirste. Die Tiere schaffen sich ihre eigenen Wasserreviere oder tummeln sich in künstlich angelegten Gewässern wie den See der Freundschaft, der idyllisch direkt am Biberpfad liegt. „Hier zeigt sich auch, wie sich Pflanzen verändern, wenn sich die Naturräume ändern“, sagt Kirste.
Der Boden ist in dieser Region durch die Lausitzer Grauwacke geprägt, entstanden aus 600 Millionen Jahre alten Meeresablagerungen. Viel ist verwittert, die Böden sind nährstoffreicher geworden. Es wachsen Besenginster, Hasel, Weißdorn, Schlehen und Birke. „Sie bilden Gebüsche und sind Vorboten für einen nährstoffreichen Laubmischwald“, sagt Kirste und zeigt auf das Ufer des Freundschaft-Sees. Dicht gewachsenes Schilf steht dort, dahinter mischen sich Erlen, Eschen und Birken in den ursprünglich spröden Kiefernwald, von dessen Holz die Heidebauern einst lebten. Der rot blühende Blutweiderich, der es feucht mag, wächst neben der Königskerze, die sandige Böden bevorzugt. Auch Gäste wie die amerikanische Traubenkirsche haben es bis nach Sachsen geschafft.

Rund 1.000 Insekten-, 200 Vogel- und 40 Säugetierarten machen die Königsbrücker Heide zudem zu einer Kinderstube für heimische Arten. „Darunter gibt es etwa 60, die in Sachsen als ausgerottet galten“, sagt Kirste, der sich schon seit seinen Jugendtagen für den Naturschutz engagiert.
Große Heideflächen, ausgedehnte Silbergrasflure, Fließ- und Stillgewässer, Biberweiher, Binnendünen, Mähwiesen und Eichenwälder geben den Tieren ein Zuhause. Der Ziegenmelker und die Heidelerche sind ebenso zurückgekehrt wie der Eisvogel oder der Raufußkauz. Deutschlandweit Beachtung findet das Vorkommen des Wiedehopf, der sich hier richtig wohlfühlt. Er besiedelt sogar, für ihn eher untypisch, die feuchten Auen der Pulsnitz – die 18 Kilometer lange Lebensader der Königsbrücker Heide. Nachts, wenn die Laubfrösche sehnsüchtig ihre Weibchen locken, verwandelt sich die Heide in eine große Konzerthalle. Und für die Sauberkeit der Flüsse gebe es keinen besseren Beweis als die große Zahl von Bachforellen, erklärt Ranger Kirste.
Und das Naturexperiment läuft weiter. Die Königsbrücker Heide ist auf dem besten Weg, sich zu einem international anerkannten Wildnisgebiet zu entwickeln.
Erkundungstouren
- Der Rundweg um die Königsbrücker Heide verbindet auf 56 Kilometern die Ortschaften ringsum und führt Wanderer und Radler zu allen Besucherpfaden.
- Bustouren finden auf Nachfrage statt. Während der dreistündigen Fahrt entführt ein Ranger die Besucher tief in die (Natur-)Geschichte des Gebietes. Kosten: 15 Euro pro Person. Auch geführte Wanderungen werden angeboten.
- Weitere Infos zur Heide und touristischen Angeboten gibt es online unter www.sz-link.de/heide