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Martin Dulig als Schaffner: Aha-Erlebnisse eines Verkehrsministers

Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig verdingt sich tageweise und inkognito als Praktikant, zuletzt als Schaffner. Er bringt Respekt mit - und Aufgaben.

Von Michael Rothe
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Der Bahnsteig als Laufsteg. Die Zugbegleiter-Uniform vom Designer Guido Maria Kretschmer steht Minister Martin Dulig. Kritiker belächeln seine Aktion als Selbstdarstellung. Doch er verteidigt seine nunmehr 19 Jobs an der Basis.
Der Bahnsteig als Laufsteg. Die Zugbegleiter-Uniform vom Designer Guido Maria Kretschmer steht Minister Martin Dulig. Kritiker belächeln seine Aktion als Selbstdarstellung. Doch er verteidigt seine nunmehr 19 Jobs an der Basis. © SMWA

Was war der Mann nicht schon alles: Buchbinder, Straßenwärter, Kanalarbeiter, Kellner, ... – in Summe 18 Berufe in gut vier Jahren. Und nie länger als einen Tag.

Eigentlich hat der gelernte Maurer Martin Dulig einen gut bezahlten Job: als Sachsens Staatsminister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr. Doch alle paar Monate will er „wissen, wie es ist, ,Ein Tag als…‘ zu arbeiten“. So steht es auf der Website des Ministeriums. „Acht Stunden. Keine spezielle Behandlung. Kein Bonus.“ Er wolle ungefiltert die Sicht, Arbeit, Sorgen und Freuden der Menschen erleben und sie besser verstehen. Inkognito, aber medial aufbereitet. Was andere belächeln oder Selbstinszenierung nennen, ist Dulig wichtig. Oft werde Politikern vorgehalten „Ihr seid abgehoben, habt keine Ahnung, wie es uns da draußen geht“, sagt er und erklärt, dass dem nicht so sei. Als sechsfacher Vater und derweil auch Großvater wisse er genau, was es heißt, eine Familie zu haben.

Nun also Schaffner bei der Bahn, genauer: Zugbegleiter bei DB Regio Südost. Die Nahverkehrstochter des Konzerns betreibt neben Dresdens S-Bahn u. a. den Regionalexpress 50 zwischen der Landeshauptstadt und Leipzig. Und der ist am Montag voriger Woche ab 8.06 Uhr sein Arbeitsplatz. Tage später notiert Dulig seine Erlebnisse.

Einigen sind die Corona-Vorschriften völlig schnurz

7.00 Uhr Schichtbeginn. 1. Akt: Empfang der Dienstkleidung am Dresdner Hauptbahnhof. Dunkelblauer Anzug, weinrote Weste, weißes Hemd, blau-gemusterte Krawatte, zwei Bahn-Pins. Das vom Designer Guido Maria Kretschmer entworfene Outfit ist wohl das bislang schickste bei Duligs Einsätzen. Nach dem Umziehen folgt die Einweisung, der „Praktikant“ lernt seinen Chef Tag kennen: Zugbegleiter Oliver Neitzel, „ein Bahner mit Herzblut“, wie der Minister schnell bemerken wird.

Oliver Neitzel, Zugbegleiter bei DB Regio-Südost, und Sachsens Verkehrsminister Martin Dulig (v. l.) auf dem Weg zum RE 50, ihrem rollenden Arbeitsplatz.
Oliver Neitzel, Zugbegleiter bei DB Regio-Südost, und Sachsens Verkehrsminister Martin Dulig (v. l.) auf dem Weg zum RE 50, ihrem rollenden Arbeitsplatz. © SMWA

Im Bereitschaftsraum des Zugs, einem kleinen Glaskasten, greift Neitzel zum Mikrofon und begrüßt die Fahrgäste. Er weist auch auf das 9-Euro-Ticket hin, das nur mit Unterschrift gültig sei. Dann geht es los.„Die Fahrkarten bitte!“ Den Satz wird Dulig in den folgenden 104 Minuten gefühlt unendlich oft sagen. Im vollen Saxonia-Express wühlen von Neitzel geschätzte knapp 300 Menschen in Taschen und Geldbörsen. Einige ziehen fix verschämt ihre Maske auf, anderen ist die Corona-Schutzvorschrift völlig schnurz. Während der Minister per Lesegerät die Fahrausweise prüft, erlebt er live die Umsetzung der von ihm mitgeschriebenen Pandemie-Regeln.

Konzern bildet keine Zugbegleiter mehr aus

Belustigt erzählt Neitzel später, dass ihn Dulig gefragt habe, wie oft er so durch den Zug gehe. „Ich bin froh, wenn ich es zwischen Dresden und Leipzig einmal schaffe“, habe er dem erstaunten Gehilfen geantwortet. Er sei auch „entsetzt gewesen“, zu erfahren, dass die Bahn keine Zugbegleiter mehr ausbildet und sich zur Kosteneinsparung Quereinsteigern bedient.

Etwa zwei Drittel der Fahrgäste haben ein 9-Euro-Ticket. Nur ein Mann ist ohne gültigen Ausweis und muss 60 Euro berappen, die Hälfte sofort. Ein Mitfahrer weigert sich, die Maske aufzusetzen. Eine ältere Dame beschwert sich lautstark und fordert die Kontrolleure auf, ihres Amtes zu walten. Doch da stößt auch der studierte Sozialpädagoge Dulig an Grenzen. Die Lizenz zur Durchsetzung habe nur die Polizei, die notfalls gerufen werden könne, erklärt Zugchef Neitzel. Doch das brächte den Ablauf durcheinander – und Verspätung. „Wir fühlen uns ganz schön allein gelassen“, klagt der gelernte Hotelfachmann, der vor sechs Jahren zur Bahn wechselte. Das Aggressionspotenzial der Reisenden habe sich seit Corona verdoppelt, sagt er.

In Riesa geht es erst einmal nicht weiter. Im Intercity gegenüber gibt es einen medizinischen Noteinsatz. Der RE 50 muss warten, bis der abgefahren ist. Die Folge: verspätete Ankunft in Leipzig. Aber das ist bei der DB auch im Nahverkehr längst nicht mehr die Ausnahme. Dabei gelten dort auch noch 4:59 Minuten verspätete Züge als pünktlich. Im Fernverkehr gönnt sich der Konzern noch eine Minute mehr. Dennoch sind weniger als 60 Prozent der ICE, EC und IC pünktlich – und Zugausfälle werden erst gar nicht mitgezählt.

Bahn personell und technisch am Limit

Die Verspätung verkürzt die Pause für Dulig und Neitzel. In Leipzigs Kopfbahnhof hat der Lokführer statt zehn nur drei Minuten zum Wenden. Der Praktikant fragt seinen Ausbilder nach Reserven. „Es gibt keinen Puffer, alles ist auf Kante genäht“, entgegnet der. Verspätungen würden oft mit auf die Rückfahrt genommen. Personell und technisch sei die Bahn am Limit.

Fast pünktlich geht es zurück nach Dresden. Auch der Zug ist voll, nicht zuletzt wegen des Billigtickets. Nur ein Preis – nachvollziehbar, egal von wo man fährt, oder aus welchem Verbund man kommt. „So sah mein Wunsch für die Landesverkehrsgesellschaft in Sachsen aus“, sagt Dulig. Doch der Ex-SPD-Landeschef konnte sich weder gegen die CDU-Landräte, meist Vorsitzende der Zweckverbünde, noch innerhalb der Regierung durchsetzen.

Keine eine Handhabe gegen Maskenverweigerer. Bei der Ticketkontrolle im Zug stößt auch der Erziehungswissenschaftler und Sozialpädagoge Dulig an seine Grenzen.
Keine eine Handhabe gegen Maskenverweigerer. Bei der Ticketkontrolle im Zug stößt auch der Erziehungswissenschaftler und Sozialpädagoge Dulig an seine Grenzen. © SMWA

Der Nahverkehr im Freistaat wird von den Landkreisen und kreisfreien Städten organisiert. Dafür gibt es fünf Verkehrsverbünde wie den VVO für die Region Oberelbe, den ZVON für Oberlausitz-Niederschlesien, den VMS für Mittelsachsen. Sie bestellen die Linien bei der DB & Co.Viele Sachsen nutzen das 9-Euro-Ticket für die Reise in den Urlaub. Daher sind wichtige Züge wie der RE 50 brechend voll. Fahrräder und Koffer machen den Weg für die Schaffner zum Hindernisparcours. „Auf der Linie war schon immer viel los“, sagt Oliver Neitzel. 2025 sollen Doppelstockzüge für Entlastung sorgen, doch die muss die Bahn aber erst noch anschaffen.

Zurück im Dresdner Hauptbahnhof wird einer Frau beim Aussteigen schwarz vor Augen. Das Duo in Blau versorgt sie mit Wasser und verbalen Streicheleinheiten, bis Helfer da sind. Die Pause schrumpft auf 15 Minuten. Zum Händewaschen reicht es.

Fast alles gut, sogar die Klos funktionieren

Dann geht es weiter: Auf Gleis 2 fährt um 13:29 Uhr die S-Bahn nach Bad Schandau. Die S1 ist nicht so voll, trotz Ferien. Wieder heißt es: Fahrkarten kontrollieren, Auskünfte geben, Maskenverweigerer ermahnen. Eine Handvoll Menschen erkennt den Minister, trotz Maske und des in der Pandemie gewachsenen Vollbarts. Ein Mädchen will gar ein Selfie mit Dulig. Nach 30 Minuten Aufenthalt in Bad Schandau geht’s zurück nach Dresden.

Wieder in der Einsatzzentrale bleibt kurz vor Feierabend Zeit für einen Schwatz mit dem Fahrdienstleiter und einigen Beschäftigten. Es geht ums 9-Euro-Ticket, Schichtarbeit mit hoher Taktung, Ausgleich für entgangene Pausen, Löhne. Und um Ausbildung, „die bei Auftragsvergaben Pflicht sein muss“, appelliert Betriebsrat Neitzel an den Landtag, der demnächst ein neuen Vergabegesetz verabschieden will.

Dulig, selbst Nutzer einer Monatskarte und eines 9-Euro-Tickets, zollt den Eisenbahnern großen Respekt. Er nimmt einiges mit vom Tages- in den Hauptjob. Auch Aufgaben. Und was sagt der 28-jährige Zugchef über seinen 20 Jahre älteren Schützling? „Der Einsatz war super“, lobt Neitzel. Dulig sei „eher Hilfe als eine Last“ gewesen. Und im Zug hätten sogar die Klos funktioniert.