Ein schmaler Lichtstreif schiebt sich langsam durch die grauen Wolken über dem Horizont. Es dämmert. Die Uhr am Seifhennersdorfer Kirchturm schlägt viermal.
Für Stefanie Havlat hat der Tag längst begonnen. Um 3 Uhr klingelte ihr Wecker. Eine Tasse Kaffee im Stehen, Tür zu, ab ins Auto und los. Für die Rehkitzretter gilt es keine Zeit zu verlieren. Zu acht treffen sie sich an diesem Morgen auf einer Wiese an der Seifhennersdorfer Südflur, um die etwa 50 Hektar nach Rehkitzen abzusuchen, bevor sie gemäht wird. Die Begrüßung ist kurz, aber herzlich. Ein Lächeln, ein Schulterklopfen. Heute wird in zwei Gruppen gearbeitet. Die drei Frauen und fünf Männer fahren zu den Standorten. Ohne Allrad geht in dem unwegsamen Gelände nichts.
Schon seit Beginn des Monats sind die Mitglieder des Vereins Rehkitzrettung am Großen Stein im Dauereinsatz, denn im Mai und Juni bringen die Ricken im hohen Gras auf den Feldern der Bauern ihren Nachwuchs zur Welt. Zur selben Zeit beginnt die Mahd, die immer wieder für Jungtiere tödlich endet. Wenn sich die Maschinen nähern, laufen die Kitze nicht weg, sondern drücken sich flach auf den Boden. Um die Tiere vor einem grausamen Schicksal zu bewahren, schlagen sich freiwillige Helfer wie Stefanie Havlat gern halbe Nächte um die Ohren.
Um ihre Hilfe bitten die Landwirte, die ihrerseits dazu verpflichtet sind, vor dem Mähen alles zu unternehmen, um keine Tiere in Gefahr zu bringen. Andernfalls drohen ihnen nach Paragraf 17 des Tierschutzgesetzes Geldstrafen oder – bei nachgewiesenem Vorsatz – Haftstrafen von bis zu drei Jahren. Derartige Urteile gebe es häufiger, sagt Martin Wißmann vom Jagdverband Sachsen. Ehrenamtliche Vereine würden helfen, des Problems Herr zu werden, allerdings gebe es auch zahlreiche äußerst engagierte Arbeitsgruppen im ganzen Freistaat, die im Jagdverband und der Deutschen Wildtierrettung organisiert sind. Oft kämen dabei Wärmebildkameras zum Einsatz, für die das Bundeswirtschaftsministerium ein Förderprogramm aufgelegt hat. „Möglich ist aber auch der Einsatz von Jagdhunden, die die Rehkitze aufspüren können“, so Wißmann.
Für heute hat die Agrargenossenschaft Seifhennersdorf um Hilfe gebeten. Vor Ort angekommen, nimmt Andreas Schäfer eine Drohne aus seinem Auto. Für den gelernten Kfz-Meister ist die Vorbereitung Routine. Nach fünf Minuten ist alles startklar. Summend wie ein Bienenschwarm steigt das rot und grün blinkende Hightech-Fluggerät in den Morgenhimmel auf. Die Mission hat begonnen – und für den ersten Schritt bleiben wenige Minuten. Nur solange der Boden und das Gras noch kühl sind, erkennt die Wärmebildkamera der Drohne das Kitz. Manchmal auch Hasen, Vögel oder andere Tiere. Je höher die Sonne steht, desto mehr sinkt die Chance, in der Wiese Jungtiere zu erkennen.
Mithilfe der GPS-Daten fliegt die Drohne automatisch in Bahnen über das Feld. Schäfer und seine Helfer verfolgen die Aufnahmen am Monitor. „Dort, Stopp!“ Sylvia Allenbacher zeigt auf zwei weiße Stellen. Schäfer nickt und steuert die Drohne jetzt selbst. Sie fliegt nun deutlich tiefer. Die hellen Punkte auf dem Bildschirm im Visier, wird ein Screenshot gemacht. Schnell lassen sich zwei Kitze orten. Über dieser Stelle wird die Drohne in Stellung gebracht, um den Helfern den Weg zu weisen. Jeder weiß, was er jetzt zu tun hat. Flink streift sich Sylvia armlange Handschuhe aus dünner Folie über. Während sie sich dem Kitz nähert, reißt sie Gras ab.
Frank Thomas ist heute der Mann für die Sicherungsbox. Der 67-Jährige ist der einzige Ruheständler im Verein. Der Alterspräsident, wie er sich selbst nennt. Gleich hinter ihm stapft Fabian Krems in schweren Stiefeln, einen XXL-Kescher über der Schulter, durch die fast hüfthohe Wiese. Er muss dafür sorgen, dass das Jungtier nicht wegläuft. Das Adrenalin und die frische Luft vertreiben die Müdigkeit. Der Wind trägt den süßlichen Duft des angrenzenden Rapsfeldes herüber.
Das erst wenige Tage alte Kitz wehrt sich nicht gegen das schwarze Netz, das nun über ihm liegt. Bevor Sylvia den zarten Körper vom Boden hebt, reibt die 42-Jährige die Handschuhe mit Gras ab. In jede Hand nimmt sie ein Büschel, um direkten Körperkontakt zu vermeiden. Die Arme weit nach vorn gestreckt, hält sie das Kitz von sich fern, genießt kurz diesen besonderen Moment, bevor sie das Tier vorsichtig in die Box legt. Das kleine Bambi guckt herzerweichend aus seinen großen schwarzen Augen. Ein kleines Glücksgefühl für die Retter und die schönste Belohnung für diesen Einsatz.
Bis die Mahd vorbei ist, bleiben die Kitze in den Kisten. Ihr jämmerliches Fiepen führt die Ricken zu ihnen, die manches Mal verzweifelt versuchen, ihren Nachwuchs zu befreien. „Diese kurze Leidenszeit müssen wir in Kauf nehmen“, sagt Andreas. Würde man die Kitze sofort wieder freilassen, so liefen sie häufig auf direktem Wege zurück ins Gras. Dann wäre nichts gewonnen. Die Familienzusammenführung habe nach den Strapazen bislang immer funktioniert – in mehr als 200 Fällen.
Dass man als Spaziergänger nicht einfach ein Rehkitz anfasst, das man im Gras sitzen sieht, ist inzwischen weithin bekannt. „Die Ricke würde durch den menschlichen Geruch irritiert. Schlimmstenfalls verstößt sie das eigene Kitz sogar“, erklärt Martin Wißmann vom Jagdverband. Wenn offensichtlich die Mahd unmittelbar bevorstehe, sollten Privatpersonen den Landwirt oder den Jagdpächter informieren. Häufiger sei es allerdings die beste Entscheidung, sich vorsichtig zurückzuziehen und dem Muttertier die Chance zu geben, zu ihrem Nachwuchs zurückzukehren, betont Burkhard Beyer, Sprecher des Sächsischen Umweltministeriums.
Die Rehkitzretter in Seifhennersdorf wissen genau, wann sie gefragt sind. Ein bellender Schrei zerreißt die Stille, heiser und lauter werdend. Erschrocken schauen die Frauen zu Fabian Krems, der selbst Landwirt ist. „Das ist nur die Ricke“, beruhigt er. Das sogenannte „Schrecken“ ähnelt dem Gebell eines großen Hundes. „Rehe warnen so ihre Artgenossen vor einem Feind im Revier“, lässt der 39-Jährige wissen. Wenige Minuten zuvor hat er das Muttertier am Waldrand gesehen.
Das zweite Team ist ebenfalls fündig geworden. Beherzt und mit geübtem Griff packt Stefanie Havlat das Kitz. Auch sie kann ihr Glücksgefühl kaum verbergen, das sie für diesen Tag mit in die Zahnarztpraxis nach Ebersbach nehmen wird, wo ab 8 Uhr Patienten auf sie warten. Andere müssen schon 7 Uhr zum Dienst antreten. „Das schlaucht auf Dauer ganz schön, und irgendwann kommt man an seine Grenzen“, sagt Andreas, der Vereinschef. „Es ist kein Sprint, sondern ein Marathon, bei dem das Durchhaltevermögen zählt.“ Er ist stolz auf seine Mannschaft. Jeden Morgen aufs Neue.
Inzwischen zwitschern die Vögel lauter. Ein Graureiher gleitet elegant durch die Lüfte. Während die Sonne im Osten hinter dem Spitzberg und den angrenzenden Hügeln wie ein roter Ball aufsteigt, setzt über der Wiese Regen ein, der sich mit einer von Westen heranziehenden schwarzen Wolkenwand angekündigt hatte. Schnell fällt die Entscheidung: Für heute ist Schluss. Bei Nässe wird nicht gemäht, und es ist ungewiss, wann die Schauer abklingen.
„Vielleicht waren wir in letzter Zeit etwas zu erfolgsverwöhnt“, sagt Andreas und spielt auf die am Tag zuvor in diesem Revier geretteten zwölf Kitze an. „Der absolute Wahnsinn!“ Nirgendwo in Ostsachsen wurden bei einem Einsatz bisher so viele Jungtiere gefunden. Die Seifhennersdorfer Südflur grenzt an Tschechien, wo zahlreiche zusammenhängende Waldgebiete Lebensraum bieten. Zudem leben dort weniger Menschen. Ein idealer Ort für einen großen Wildbestand.
Vor zwei Jahren hat Andreas gemeinsam mit seinem Freund Fabian die Rehkitzrettung am Großen Stein gegründet. „Ich konnte es nicht mehr ertragen, immer wieder tote Kitze auf den Feldern zu finden.“ Als er von den Drohnen und der Förderung durch den Bund erfuhr, ging es schnell, und es fanden sich 13 Gründungsmitglieder.
Heute können sie die Arbeit auf immerhin 45 Leute verteilen. Ihre Dienste werden nicht nur von Landwirtschaftsbetrieben aus der näheren Umgebung in Anspruch genommen. Auch aus weiter entfernten Orten kommen zunehmend Anfragen. Tendenz steigend. Mit den derzeitigen Möglichkeiten lassen sich die Anfragen kaum noch bewältigen. Darum hoffen die Rehkitzretter, weitere Mitstreiter gewinnen zu können. Außerdem sollen neue Drohnen angeschafft werden, die allein um die 7.000 Euro pro Stück kosten. Für die Haftpflichtversicherung sind rund 1.000 Euro pro Jahr fällig. Dazu kommen die Ausgaben für andere Hilfsmittel wie Monitore, Handschuhe, Kescher und Boxen. Um die Finanzierung zu sichern, sind die Seifhennersdorfer auf private Spender und Sponsoren angewiesen.
Grundschüler dürfen helfen
Mit der Grundschule Seifhennersdorf entwickelte der Verein jüngst ein vielversprechendes Projekt, bei dem Erst- bis Viertklässler in die Rettungseinsätze eingebunden werden. Nach der Mahd dürfen die Schüler die Rehkitze aus den Sicherungsboxen befreien. Mit ihrer Begeisterung für die Sache haben die Kinder bereits Freunde, Eltern und Verwandte angesteckt, die sich nun für die Vereinsarbeit interessieren. So darf es weitergehen.
Heute hat es sich eingeregnet. Einige sind schon nach Hause gefahren, um sich umziehen zu können. Andreas und Fabian bleiben noch für einen kleinen Plausch über die Zusammenarbeit mit den Agrargenossenschaften, die sich gut entwickelt habe. So reibungslos wie jetzt verlief die nicht immer, stellen sie fest, während sie sich unter der offenen Heckklappe des Jeeps vor dem Regen schützen. Mit einem Blick zur Uhr mahnt Andreas zum Aufbruch. Die bezahlte Arbeit ruft.