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Sachsen sichert Talsperren vor extremen Hochwassern

Sachsen ist mit über 50 künstlichen Wasserspeichern ein Land der Talsperren. Nach der Flut 2002 kamen noch mehr hinzu. Die Katastrophe offenbarte viele Lücken beim Schutz vor extremen Hochwassern.

Von Peter Ufer
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Die Talsperre Eibenstock mit 75 Millionen Fassungsvermögen ist die größte in Sachsen.
Die Talsperre Eibenstock mit 75 Millionen Fassungsvermögen ist die größte in Sachsen. © Albrecht Holländer, Landestalsperrenverwaltung

Ein windschiefer Metallzaun zieht sich über einen Kilometer lang um die Baustelle unterhalb der Staumauer an der Talsperre Malter. Hinter den Gittern stapeln sich Steine, häufen sich Erdberge und Geröll, schlummern Ringe und Rohre aus Beton. Der kleine Pfad in den Seifersdorfer Grund ist zerfurcht von Breitreifen der Bagger und Tieflader, die sich seit Monaten an dem Hang zu schaffen machen und einen Berg nach dem anderen versetzen.

Auf einem kleinen grünen Schild am Rand des Waldes steht unter der schwarz aufgedruckten Eule: "Werte Bürger! Dieses Gebiet steht unter erhöhtem staatlichen Schutz. Darin sind alle den Natur- u. Landschaftshaushalt sowie den Charakter des Gebietes beeinträchtigende Handlungen unzulässig und werden nach § 30 BNatSchG geahndet." Einige Meter entfernt, gegenüber dem Feld, wo die Neue Straße entlangläuft, prangen auf einer großen weißen Tafel große schwarze Buchstaben: "Hier baut der Freistaat Sachsen". Dahinter lagern Container der Firma Züblin. Auf einer Platte, die an zwei Balken genagelt wurde, kann jeder lesen: "Unser Betrieb ist seit 066 Tagen ohne Unfall."

Im Erdreich am Steilhang zeigt sich, warum hier seit Monaten gebuddelt wird. Da schlängelt sich eine breite Betonrinne ins Tal, die von oben aussieht wie ein umgefallenes offenes Hochhaus. Mit etwas Fantasie kann man sich gut vorstellen, dass die lange Wanne frei laufende Elefanten als Spaßbadrutsche nutzen. Doch es handelt sich um keinen Dickhäuterscherz, sondern die neue Hochwasserentlastungsanlage, eine Art Überlauf wie in der heimischen Badewanne, wenn einer vergessen hat, den Hahn abzudrehen. Nur ist die Wanne hier viel, viel größer. 21 Millionen Euro Steuergelder stecken in diesem gigantischen Abfluss, der in diesem Frühjahr fertig werden soll.

Im August 2002 floss die zum reißenden Fluss angewachsene Rote Weißeritz ungebremst in das volle Rückhaltebecken der Talsperre Malter. Bewohner unterhalb der Staumauer befürchteten damals, die Talsperre könnte brechen.
Im August 2002 floss die zum reißenden Fluss angewachsene Rote Weißeritz ungebremst in das volle Rückhaltebecken der Talsperre Malter. Bewohner unterhalb der Staumauer befürchteten damals, die Talsperre könnte brechen. © Albrecht Holländer, Landestalsperrenverwaltung

Vor 20 Jahren, im August 2002, floss die zum reißenden Fluss angewachsene Rote Weißeritz ungebremst in das volle, rund neun Millionen Kubikmeter Wasser fassende Rückhaltebecken. Bewohner unterhalb der Staumauer, von Seifersdorf über Tharandt und Freital bis Dresden befürchteten damals, die Talsperre Malter könnte brechen. 36,40 Meter misst deren Mauerhöhe über der Gründungssohle. Wäre die Mauer tatsächlich gerissen, hätte sich eine sechs bis acht Meter hohe Welle ins Tal ergossen und alles verwüstet.

Schon 1897 hatten die Fluten des Sommerhochwassers im Weißeritztal 320 Häuser zerstört und 19 Menschen in den Tod gerissen. Deshalb wurde die Talsperre Malter von 1911 bis 1913 errichtet. Der sächsische König Friedrich August III. kam persönlich zur Einweihung und versprach, die Bruchsteinmauer mit ihrer gekrümmten Achse werde gegen neue Fluten schützen und auf jeden Fall weit über 100 Jahre halten. Sie hält bis heute. Doch 2002 schoss in kurzer Zeit so viel Wasser in die volle Talsperre, dass sie überlief. Genauso viel wie oben hineinströmte, floss unten wieder hinaus.

Sanierung seit 2015

Um solch ein Szenario bei einem nächsten, möglicherweise noch extremeren Hochwasser zu verhindern, wird seit 2019 die neue, elefantengroße Überlaufrinne gebaut. Bis März 2021 gossen Bauarbeiter rund 10.000 Kubikmeter Beton in den Erdboden und verbauten etwa 800 Tonnen Stahl. Dabei entstand etwas Besonderes, ein Teilungsbauwerk, eine Art Weiche, um den Wasserstrom in die alte, vorhandene und die neue Hochwasserentlastungsanlage abfließen zu lassen. Außerdem wurde die Sammelrinne um etwa 1,5 Meter vertieft. Seit 2015 wird die 108 Jahre alte Talsperre saniert, dabei entstand ein zusätzlicher Hochwasserrückhalteraum von 1,6 Millionen Kubikmetern.

Um ein erneutes Überlaufen zu verhindern, wird eine Überlaufrinne an der Talsperre Malter gebaut.
Um ein erneutes Überlaufen zu verhindern, wird eine Überlaufrinne an der Talsperre Malter gebaut. © Ronald Bonß

Die Malter gehört zu einem vielgliedrigen, in verschiedenen Regionen miteinander verbundenen System von Stauanlagen. Sachsen besitzt nach Nordrhein-Westfalen die meisten Talsperren in Deutschland. Insgesamt befinden sich im Freistaat 24 Trink- und 32 Brauchwassertalsperren, 25 Hochwasserrückhaltebecken und fünf Wasserspeicher. Um die 86 Anlagen kümmern sich 850 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landestalsperrenverwaltung, deren Stammhaus sich in Pirna befindet. 1992 wurde die Institution als erster Staatsbetrieb des Freistaates Sachsen gegründet und feiert somit in diesem Jahr ihr 30-jähriges Bestehen. Sie übernahm einst ein wasserreiches Erbe.

In Sachsen wurden bereits vor 500 Jahren die ersten Speicher angelegt. Der Bergbau blühte und verbrauchte große Mengen Wasser. Es wurde für die Erzwäsche, Hammerwerke und für die Versorgung der wachsenden Bevölkerung benötigt. So entstanden beispielsweise die Galgenteiche in Altenberg und die Revierwasserlaufanstalt Freiberg, die seit 2019 zum Weltkulturerbe Montanregion Erzgebirge/Krušnohori gehört. Der erste Talsperrenbau des Landes begann 1891 in Einsiedel bei Chemnitz. Das Staubecken zählt zu den ältesten in Deutschland.

Sechs neue Stauanlagen nach der Flut 2002

Als die Pläne für den Bau um 1890 bekannt wurden, stellten sich Einwohner von Einsiedel übrigens quer. Sie wollten auf keinen Fall so ein wässriges Becken in ihrer Nähe, denn sie meinten ängstlich, dass beim Bruch der Staumauer ihr Hab und Gut wegschwimmen könnte. Der Bau begann dennoch und wurde 1894 eingeweiht. Noch heute, 128 Jahre später, versorgt das zugehörige Wasserwerk, das direkt unterhalb der Staumauer liegt, gut zwei Drittel der Stadt Chemnitz und die umliegenden Gemeinden mit Trinkwasser.

Talsperre Einsiedel
Talsperre Einsiedel © Albrecht Holländer, Landestalsperrenverwaltung

Es folgten weitere Talsperrenbauten rund um Chemnitz, der in Werda wurde 1909 eingeweiht. Gleich zwei Becken entstanden zwischen 1905 und 1914 in Neunzehnhain. Die damals größte Talsperre Sachsens wurde in Klingenberg von 1908 bis 1914 errichtet. Sie gilt als das "Wasserglas von Dresden", versorgt im Verbund mit den Sperren Lehnmühle und Rauschenbach rund 60 Prozent der Landeshauptstadt mit Trinkwasser. Nach dem Hochwasser von 2002 wurde die Talsperre Klingenberg bis 2013 komplett saniert.

Zwischen 1920 und 1942 gingen mehr als zehn Talsperren in Betrieb, zum Beispiel in Muldenberg, Saidenbach oder Lehnmühle. Zu DDR-Zeiten entstanden in den Bezirken Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt mehr als 50 Talsperren, Speicher und Hochwasserrückhaltebecken. Nach der Flut von 2002 baute der Freistaat sechs neue Stauanlagen. Die jüngste befindet sich gut 14 Kilometer von Malter entfernt.

Umsiedlung der Bewohner

Wer das Tal von Schmiedeberg aus hinauffährt, der trifft kurz hinter den letzten Häusern von Niederpöpel auf einen künstlichen Hügel, angehäuft aus dem Schüttgut des nahen Steinbruchs. 180.000 Kubikmeter Gesteinsschüttmaterial liegen hier. Von oben sieht es aus, als wäre ein gigantisches Dreieck mit der Spitze nach oben gelandet. Rund 30 Meter ragt der Damm von der Talsohle aus in die Höhe. Fast 200 Meter reicht die Krone von der einen bis zur anderen Hangseite. Unten plätschert unschuldig der Pöpelbach durch einen Durchlauf. Dass dieses Rinnsal 2002 zu einem mächtigen Strom anschwoll, der Teile von Niederpöpel und Schmiedeberg zerstörte, bleibt unvergessen.

Lauenstein
Lauenstein © Albrecht Holländer, Landestalsperrenverwaltung

Noch heute erinnern sich Anwohner in Oberpöpel daran, wie das tosende Wasser in seinem Lauf selbst die größten Steine grollend zum Rollen brachte und Brücken zerschlug. Nach der Flut fanden Wanderer auf einer der Wiesen in der Nähe der Putzmühle einen alten sächsisch-königlichen Grenzstein vom Kahleberg.

2011 begannen die Bauarbeiten in Niederpöpel, um mit dem Damm ein nächstes Hochwasser aufzuhalten. Bewohner des Tales mussten umgesiedelt werden, Häuser wurden abgerissen. Eine Familie hatte es dabei besonders schwer getroffen, denn erst wohnte sie in Zinnwald, gab bereits dort ihr Haus für den Bau des neuen Grenzübergangs auf. Dann hatten sie ein Eigenheim im Pöbeltal gekauft, das dem Dammbau im Wege stand. Sie zogen erneut um, wohnen jetzt in Sadisdorf.

Talsperre Lichtenberg
Talsperre Lichtenberg © Albrecht Holländer, Landestalsperrenverwaltung

Alte Stollen des Bergbaus aus dem 12. und 13. Jahrhundert mussten erkundet und schließlich verfüllt werden. Sogar alte Leitern aus dem Mittelalter fanden Archäologen in den historischen Gruben. Insgesamt sieben Jahre dauerte es, bis der Damm eingeweiht werden konnte. Der Freistaat Sachsen und der Bund investierten rund 50 Millionen Euro in den Bau. Das Besondere daran: Das Rückhaltebecken ist das Einzige in Deutschland, durch das eine Straße führt. Bei Hochwasser werden im Notfall die Verschlusstafeln herabgelassen, eine der großen Tafeln wiegt allein 40 Tonnen. Die gestaute Wasserfläche kann sich auf etwa 13 Hektar bis zum Waldschulheim Wahlsmühle ausbreiten.

Als im Mai 2020 die Anlage in Betrieb gehen sollte, beschwerten sich Anwohner in Niederpöpel, weil sie auf dem Trockenen saßen. Ihr Brunnen, der ihnen zur Wasserversorgung dient, sprudelte nicht mehr so wie einst. 2018 versiegte er sogar. Sie hängten an ihre Häuser Transparente und wiesen auf ihre missliche Situation hin. Die Landestalsperrenverwaltung lehnt bis heute jede Verantwortung und einen Zusammenhang zwischen dem Dammbau und dem gesunkenen Grundwasser ab. Ursache sei die extreme Trockenwettersituation der Jahre 2019 und 2020 gewesen.

Romantische Einblicke und spektakuläre Luftbilder zeigt der Band "Talsperren in Sachsen".
Romantische Einblicke und spektakuläre Luftbilder zeigt der Band "Talsperren in Sachsen". © Albrecht Holländer, Landestalsperrenverwaltung

Nachzulesen sind all die Fakten und historischen Geschichten in dem Buch "Talsperren in Sachsen", das die Landestalsperrenverwaltung zu ihrem 30. Geburtstag herausgegeben hat. Fast jeder der Wasserspeicher bekommt auf den 335 Seiten einen Superlativ zugewiesen. Die Talsperre Eibenstock mit 75 Millionen Fassungsvermögen ist die größte in Sachsen, die in Gottleuba mit 65 Metern Mauerhöhe die höchste und die in Pirk die einzige mit einer eigenen Burgruine.

Imposante Bilder des Freiberger Fotografen Albrecht Holländer zeigen Sachsen als Land der künstlichen Seen, die sowohl der Wasserversorgung, dem Hochwasser- und Landschaftsschutz, der Energiegewinnung, aber auch dem Freizeitsport dienen. Romantische Augenblicke sind eingefangen, famose Perspektiven aus der Luft fotografiert zeigen die technischen Anlagen in ihrer jeweiligen Landschaft. Ein grandioses System der Wasserzirkulation auf und unter der Erde.

Hangrutsch am Knappensee

Zu den Talsperren kamen in den vergangenen Jahren durch das Fluten ehemaliger Tagebaue weitere 40 Seen mit einer Fläche von rund 14.000 Hektar hinzu, ein kleines Paradies für Schwimmer, Angler, Camper und auch Segler. Dabei blieben Katastrophen nicht aus. Am 11. März 2021 rutschte am Knappensee ein Hang auf 500 Metern Länge ins Wasser. Seit 2014 laufen an dem gefluteten Braunkohletagebau umfangreiche Sicherungsmaßnahmen. Der betroffene Uferabschnitt rutschte ab, bevor er endgültig gesichert werden konnte.

Erdrutsch m Ostufer des Knappensee. Im Hintergrund ist die Energiefabrik Knappenrode zu sehen.
Erdrutsch m Ostufer des Knappensee. Im Hintergrund ist die Energiefabrik Knappenrode zu sehen. © Gernot Menzel

Der Knappensee entstand schon in den 1950er-Jahren aus dem ehemaligen Tagebau Werminghoff I. Er war lange Zeit ein beliebtes Naherholungsgebiet, ist aber wegen der laufenden Sanierung seit Jahren gesperrt. Ursprünglich sollte 2022 der See wieder freigegeben werden. Aber daraus wird wohl nichts.

In Malter soll im Frühjahr der Pegel wieder steigen. Wird es irgendwann auch wieder ein extremes Hochwasser geben und die Talsperre volllaufen, können 475 Kubikmeter Wasser pro Sekunde ablaufen. Das wäre dann doppelt so viel wie beim Augusthochwasser 2002. Und wer im Seifersdorfer Grund spazieren geht, der kann sehen, dass dort mit gewaltigen Steinen ein Flusslauf in der Erde liegt, der die Wassermassen fassen könnte. Eines Tages wird das nötig sein, denn der Klimawandel beschert Sachsen immer mehr extreme Wetterlagen, neben langen Trockenzeiten ebenso gewaltige Fluten.