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Wie Sachsen das Potenzial seiner Friedensrichter verschenkt

Fast 300 Friedensrichter helfen im Freistaat bei Streitigkeiten am Gartenzaun, doch sie sind kaum ausgelastet. Andere Bundesländer zeigen, was möglich ist.

Von Henry Berndt
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Weniger Jurist, mehr Menschenkenner: In seiner dritten Amtszeit als Friedensrichter in Wilsdruff weiß Marco Broscheit, worauf es ankommt.
Weniger Jurist, mehr Menschenkenner: In seiner dritten Amtszeit als Friedensrichter in Wilsdruff weiß Marco Broscheit, worauf es ankommt. © Ronald Bonß

So, dann wäre ja alles geklärt. Nicht alle Tannen am Zaun müssen gefällt werden, sondern nur drei. Das dürfte reichen, damit Nachbar A wieder über seine Satellitenschüssel Fernsehen empfangen kann. Nachbar B ist einverstanden. Als gelernter Elektrotechniker konnte Marco Broscheit das vor Ort schnell erkennen. Als Friedensrichter in Wilsdruff hat er den Kompromiss vermittelt. „Gibt es noch etwas?“, fragt er nun die beiden Streithähne. „Ja, am 12. Juli 1998 hat der mich ‚Arschloch‘ genannt“, sagt Nachbar A. – „Tut mir leid“, erklärt Nachbar B, „ich hatte wohl zu viel getrunken“.

Eine einfache, aber ehrliche Entschuldigung nach 24 Jahren. „Das muss man sich mal vorstellen. So lange lag denen das auf der Seele“, sagt Friedensrichter Broscheit. „Das zeigt doch wieder einmal, dass wir mehr miteinander reden müssen.“

Ein Problem unter Nachbarn fange in der Regel ganz klein an, sagt Broscheit. So klein wie eine Tanne im Topf. Direkt angesprochen, kann es meist rasch geklärt werden. Wer seinen Ärger dagegen runterschluckt, der kommt womöglich irgendwann an den Punkt, an dem es gar nicht mehr um den Baum geht, sondern um diesen blöden Idioten nebenan.

Streit mit dem Nachbarn beginnt oft ganz klein, kann aber zu einem Problem werden, das sich nicht mehr allein lösen lässt.
Streit mit dem Nachbarn beginnt oft ganz klein, kann aber zu einem Problem werden, das sich nicht mehr allein lösen lässt. © dpa

Vor zehn Jahren übernahm Marco Broscheit in Wilsdruff das Amt des Friedensrichters. Die so wohlklingende Bezeichnung führt zunächst in die Irre, denn ein Richter ist der 43-Jährige nicht. Nicht mal Jurist. Als Friedensrichter hat er die Aufgabe, bei Streitigkeiten unter Nachbarn, Freunden oder Familienmitgliedern einen Schlichtungsversuch zu unternehmen, bevor sich Gerichte mit dem Streitfall beschäftigen müssen. Eine klassische Win-win-Situation, denn oft lässt sich die Lösung auf diese Weise nicht nur unkomplizierter und schneller, sondern auch weitaus günstiger finden. Pauschal 30 Euro kostet eine Verhandlung beim Friedensrichter in Wilsdruff, egal, ob sie erfolgreich endet oder nicht. Neben typischem Nachbarschaftsärger lassen sich auf diese Weise auch Beleidigungen und Verleumdungen klären. Fälle aus den Bereichen Familienrecht, Arbeitsrecht und Strafrecht sind für Friedensrichter dagegen tabu.

Der Begriff Friedensrichter wird nur in Sachsen verwendet und soll den historischen Bezug zu den Friedensrichtern herstellen, die hier bereits seit 1879 für Sühneverhandlungen nach Beleidigungen im Einsatz waren. Überall sonst in Deutschland ist heute von Schiedspersonen die Rede. In Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg und Bremen wird das Prinzip gar nicht genutzt.

Im alten Rathaus auf dem Markt in Wilsdruff wird schon lange keine Politik mehr gemacht. Dafür kann man sich hier trauen lassen, oder man besucht Marco Broscheit zur Sprechstunde in seinem etwa neun Quadratmeter kleinen Büro, das er sich noch mit dem Stadtverein teilt. Jeden zweiten Dienstag im Monat sitzt der Mann mit dem freundlichen Pastorengesicht hier von 17 bis 18 Uhr am Schreibtisch und wartet auf Interessenten.

Ein wuchtiger Tisch lehrt Ehrfurcht

Wird ein Antrag gestellt, lädt Broscheit auch die Gegenseite schriftlich vor. Diese Ladung verweigern darf der Nachbar oder Bruder dann nicht so einfach, sonst droht ihm im schlimmsten Fall ein Bußgeld. Die Verhandlung selbst findet meist eine Etage höher im großen Ratssaal statt. Allein schon der wuchtige ovale Tisch macht Eindruck und lehrt so manchem Rumpelstilzchen die Ehrfurcht. Wenn es sich anbietet, wie im Fall der störenden Tannen, wird auch mal direkt vor Ort verhandelt.

Längst nicht immer geht es ganz klassisch um Bäume, Hecken und Lärm. Zwei jungen Leuten zum Beispiel half Broscheit nach deren Trennung bei der Aufteilung der Möbel. Gern erinnert er sich auch an eine Familie mit vier Geschwistern, von denen sich eine um die Mutter kümmerte. Die anderen waren der Meinung, dass regelmäßig Geld vom Konto der Mutter verschwinde und verdächtigten ihre Schwester, sich das unter den Nagel zu reißen. „Wir haben zweieinhalb Stunden gesessen und am Ende wurde den anderen bewusst, was ihre Schwester eigentlich tagtäglich leistet. Daraufhin boten sie ihr an, dass sie sich zusätzlich jedes Weihnachten einen dreistelligen Betrag überweisen dürfe.“

In etwa der Hälfte der Fälle kann Broscheit nach spätestens einer Stunde eine Einigung herbeiführen. Mit dieser Quote ist er zufrieden. „Es gibt einfach Leute, die wollen das von einem Richter hören. Bei uns wird dagegen grundsätzlich kein Urteil gesprochen. Deswegen gibt es auch keinen Verlierer. Alle können Gewinner sein.“ Die Ergebnisse werden protokolliert – inzwischen fortschrittlich auf dem Computer. Erst jüngst wurde Broscheit von der Verwaltung mit einem Laptop und einem mobilen Drucker ausgestattet. „Das hilft sehr, weil wir die Protokolle jetzt direkt ausdrucken und unterschreiben lassen können“, sagt Broscheit. „Zehn Jahre lang habe ich mit der Hand geschrieben. Das konnte zwar nicht jeder lesen, aber es ging auch.“

Im alten Rathaus in Wilsdruff wird keine Politik mehr gemacht. Hier hat der Friedensrichter seinen Sitz.
Im alten Rathaus in Wilsdruff wird keine Politik mehr gemacht. Hier hat der Friedensrichter seinen Sitz. © Ronald Bonß

Die Aufwandspauschale von 75 Euro im Monat ist eine der höchsten in der Region. In der Wilsdruffer Stadtverwaltung weiß man eben, was man an Broscheit hat. „Ihm gelingt es, mit großem Einfühlungsvermögen, Geduld sowie der Bereitschaft, zuzuhören und ausgleichen zu können, die Anliegen der Menschen zu begleiten und bestenfalls zu lösen“, sagt Bürgermeister Ralf Rother. „Seine Arbeit spielt in Wilsdruff eine wesentliche Rolle für den nachbarschaftlichen Frieden. Gerade im ländlichen Raum sind Parteien durch familiäre, geschäftliche oder nachbarschaftliche Beziehungen dauerhaft verbunden und müssen auch nach Beendigung des Verfahrens noch miteinander auskommen.“

Marco Broscheit hat über die Jahre beobachtet, dass es besonders häufig dann zu Spannungen kommt, wenn neue Menschen herziehen. „Die meisten Fälle gibt es in Ortsteilen, in denen viel gebaut wird wie Kesselsdorf oder Grumbach“, sagt er. „Das Problem ist der Egoismus der Leute, die sich sagen: Ich habe jetzt 400 Quadratmeter Land, jetzt mache ich hier, was ich will und setze die Garage direkt an die Grenze.“

Broscheit ist selbst ein Zugezogener. 2010 kaufte der gebürtige Dresdner ein Haus in Oberhermsdorf, in dem er heute mit seiner Frau und drei Töchtern lebt. Mit den neuen Nachbarn hat er selbstverständlich alle denkbaren Konflikte im Keim erstickt. „Man muss nicht zu besten Freuden werden, um gut miteinander klarzukommen“, lautet eine seiner Weisheiten. „Einen Partner werde ich los, einen Nachbarn im Normalfall nicht so schnell.“

Dritte Amtsperiode ab 2022

Als Broscheit, der sein Geld als Vertriebsingenieur im Bereich Drucksensorik verdient, 2012 Interesse am ausgeschriebenen Ehrenamt als Friedensrichter zeigte, atmete man im Wilsdruffer Rathaus auf. Bis dahin hatte diese unliebsame Pflichtaufgabe der Bauamtsleiter mit erfüllt. Sprechstunden gab es keine. Nur zu gern wählte der Stadtrat daher diesen jungen, hoch motivierten Mann für fünf Jahre ins Amt. „Ich wollte der Gemeinde etwas zurückgeben und fühlte mich dafür ganz gut geeignet“, sagt Broscheit. Wichtiger als ein Jurastudium seien Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen. „In der Sprechstunde höre ich auch schon mal einer älteren Dame eine halbe Stunde lang zu, ohne am Ende zu wissen, was sie überhaupt will.“ 2017 wurde Broscheit wiedergewählt und erhielt Sabine Neumann als Stellvertreterin zur Seite gestellt. Seitdem sind die beiden ein Team, arbeiten in den Sprechstunden und Verhandlungen zusammen.

Trotz des manchmal großen zeitlichen Aufwandes würde sich Broscheit freuen, wenn er künftig ein paar mehr Fälle auf den Tisch bekommen würde. In den vergangenen beiden Jahren waren es jeweils vier Verhandlungen. Selbst für eine überschaubare Gemeinde wie Wilsdruff mit etwa 14.000 Einwohnern klingt das nicht besonders viel, wenn man bedenkt, wie viel Streitpotenzial es allein unter Nachbarn gibt. Der Friedensrichter erinnert sich auch an Jahre mit bis zu elf Fällen. Natürlich habe die Corona-Krise mit ihren Kontaktbeschränkungen ihren Anteil an der Entwicklung gehabt, allerdings sei es zu einfach, die geringe Auslastung allein darauf zurückzuführen.

Klaus-Jürgen Wilhelm hat sein Amt als Friedensrichter in Dresden zum Jahresende abgegeben, bleibt aber Vorsitzender des Landesverbandes.
Klaus-Jürgen Wilhelm hat sein Amt als Friedensrichter in Dresden zum Jahresende abgegeben, bleibt aber Vorsitzender des Landesverbandes. © Sven Ellger

Sachsenweit betrachtet verstärkt sich der Eindruck, dass das Potenzial der Friedensrichter bislang kaum zum Tragen kommt. So haben die 298 Schiedsstellen im Freistaat im Jahr 2020 insgesamt lediglich 243 Fälle bearbeitet – im Schnitt nicht mal jede einen. In anderen Bundesländern haben die Schiedspersonen seit Jahren deutlich mehr zu tun, etwa in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Hessen und Schleswig-Holstein. Das ist kein Zufall, sondern hängt mit der sogenannten Obligatorik zusammen, die in diesen Ländern gesetzlich greift. Das bedeutet, dass in bestimmten Fällen erst dann überhaupt eine Klage vor Gericht eingereicht werden darf, wenn es zuvor einen Schlichtungsversuch gegeben hat.

Seit dem Jahr 2000 steht es den Landesgesetzgebern offen, von dieser Verknüpfung Gebrauch zu machen. Sachsen ist eines der wenigen Bundesländer, das bis heute darauf verzichtet. Das bedeutet: mehr Klagen, weniger Schlichtungen. „In deutlich mehr als der Hälfte der sächsischen Schiedsstellen wurden 2020 gar keine formellen Anträge gestellt“, konstatiert Klaus-Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Landesvereinigung Sachsen im Bund Deutscher Schiedsmänner und Schiedsfrauen. Mit dieser Situation könne niemand zufrieden sein. „Die Möglichkeiten der außergerichtlichen Einigungen sind noch zu wenig bekannt“, sagt der 78-Jährige. Er fasst die Vorteile so zusammen: Zweistellige Kosten, schnelle und unbürokratische Abwicklung, keine Verurteilung durch Richterspruch, Rechtswirksamkeit der protokollierten Einigung.

"Mangelnde Aufklärung"

Vergleichsweise hoch ist in Sachsen die Zahl der sogenannten Tür- und Angelfälle, in denen es nach einer Anfrage beim Friedensrichter zu keinem Verfahren kommt. Den Grund hierfür sieht Wilhelm in der bislang mangelnden Aufklärung über dieses im Freistaat relativ neue Instrument. Immerhin: In Gemeinden, die ihre Friedensrichter bereits intensiv bewerben, steige die Anzahl der Verfahren.

Die Einführung der Obligatorik in Sachsen hält er daher für überfällig. „Die Erfahrung in den anderen Bundesländern zeigt, dass das obligatorische Einschalten der Schiedsstelle vor der Anrufung der Gerichte zum Erhalt des sozialen Friedens und zur Entlastung der Gerichte beitragen kann“, sagt Wilhelm, der seine eigene Schiedsstelle in Dresden-Klotzsche zum Jahresende 2022 nach elf Jahren an einen Nachfolger weitergegeben hat.

Ministerium hält an Regelung fest

Ganz anders interpretiert man im Sächsischen Justizministerium die Erfahrungen aus den anderen Bundesländern. Wie sich gezeigt habe, sei der praktische Nutzen der Obligatorik begrenzt, weil die Schlichtungen die Verfahren in vielen Fällen nur in die Länge zögen und als zusätzliche „zeitraubende Hürde“ empfunden würden. „Daher baut Sachsen darauf, dass sich diejenigen Parteien, die in der Schlichtung ein sinnvolles Streitbeilegungsinstrument sehen, dieser freiwillig unterwerfen und allen anderen Parteien der Gang zur staatlichen Justiz offensteht“, teilt eine Sprecherin des Justizministeriums mit. Man behalte die Entwicklungen in den anderen Bundesländern jedoch stets im Blick.

Marco Broscheit in Wilsdruff ist bei dem Thema zwiegespalten. Einerseits sorge die Obligatorik für mehr Fälle und eine größere Bekanntheit der Schiedsstellen, andererseits würde es dann vermutlich deutlich mehr sinnlose Verhandlungen geben, in denen die Seiten überhaupt keinen Einigungswillen mitbrächten. „Denen ginge es dann nur um die Bescheinigung, damit sie endlich klagen können.“

Am Ende seien irgendwelche Statistiken doch nicht entscheidend. „Ein Fall mehr oder weniger ist mir egal, wenn ich ab und zu jemandem helfen kann“, sagt Broscheit. Da habe er zum Beispiel gerade diese Familie, in der einer zu DDR-Zeiten nachweislich bespitzelt wurde und ein anderer bei der Stasi war. Eigentlich kein Fall für einen Friedensrichter. „Vielleicht kann ich den beiden aber einen Raum zur Verfügung stellen. Ich koche Kaffee, jemand bringt Kuchen mit und dann bringen wir zwei Menschen miteinander ins Gespräch.“