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Ermordet in Auschwitz - der Leidensweg von Pauline Wilhelm aus Sebnitz

Die 69-jährige Pauline Wilhelm aus Sebnitz wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und später in Auschwitz ermordet. Eine Reise an den Ort, an dem die Gedanken versagen.

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Der Stolperstein für Pauline Wilhelm in der Jakobstraße in Magdeburg.
Der Stolperstein für Pauline Wilhelm in der Jakobstraße in Magdeburg. © Wikipedia, Fotograf: Adnon

Von Matthias Schildbach

Auf der A4 passiere ich an diesem Montag die deutsch-polnische Grenze bei Görlitz. Mein Ziel: Oswiecim - Auschwitz. Ich begebe mich auf die Spuren des Ehepaares Pauline und Hugo Wilhelm. Die Wilhelms waren Juden, die einige Jahre in Sebnitz am Markt 15 gelebt hatten. Vorher hatten sie in Magdeburg ein Konfektionsgeschäft betrieben. Mit ihren Kindern Kurt und Sophia und deren Familien wohnten sie unter einem gemeinsamen Dach.

Das Unternehmen kam in wirtschaftliche Schwierigkeiten, trotz Ausbau zu einer Vertretung von Stoffen und Konfektion, und musste schlussendlich geschlossen werden. Nach der Pogromnacht am 9. November 1938 wurde die Wilhelms zur Aufgabe des Geschäfts gezwungen. Während die Kinder mit den Enkeln den Weg in die Emigration schafften, kamen Pauline und Hugo Wilhelm bei Freunden in Sebnitz unter: Gustav und Martha Baruch, die wie die Wilhelms ein Textilgeschäft betrieben, wohnhaft in Sebnitz am Markt 15.

Bei einem Aufenthalt in Magdeburg gerieten sie in die Fänge der Nazis: Mit Transport XX/3 wurden sie nach Theresienstadt gebracht, mit Ihnen teilten 58 Deportierte, alle älter als 60 Jahre, das Schicksal. Auch die Baruchs aus Sebnitz wurden verschleppt, beide kamen in Theresienstadt um. Hugo Wilhelm starb ebenfalls, 75-jährig, am 8. Juni 1943 an den Strapazen in Theresienstadt. Pauline Wilhelm musste noch fast ein Jahr Unaussprechliches ertragen, bis sie schließlich starb. Elf Monate nach dem Tod ihres Mannes wurde sie in Auschwitz ermordet.

Nach fünf Stunden Autofahrt am Tor zur Hölle

Ich will es fassen, will zumindest ernsthaft den Versuch unternehmen zu verstehen, was in Auschwitz geschehen ist. Nach fünf Stunden und 20 Minuten Autofahrt tauchen die dürren Wachtürme des Vernichtungslagers Birkenau vor mir auf. Dieses weite Lager strahlt eine enorme Kälte aus, die nichts mit den Außentemperaturen in diesem März 2023 zu tun hat. Ich finde es trotzdem gut, dass ich hier bin, dass ich mich dazu entschlossen habe.

Es ist seltsam, mir bewusst zu sein, wo ich in dieser Nacht in meinem kleinen Wohnmobil geschlafen habe. Das Todestor ist am Morgen im dichten Nebel verschwunden. Der Geruch von Kohleheizungen liegt in der Luft, er ist so typisch für Polen. Auch nachts kamen Züge in Auschwitz-Birkenau an, hell erleuchtet war die lange Rampe, wie jetzt. Wie verloren müssen sich die Menschen gefühlt haben. Nach dem Aussteigen wurden sie getrennt: Links die Männer, rechts Frauen, Kinder und Alte, zerschnitten SS-Männer mit Gewalt, unter Stockhieben und Gebrüll auch noch das letzte Band, das Familien zusammenhielt. Hier, auf der Rampe, die heute so still, geordnet, sauber und hell wirkt. Hier sahen Kinder und Eltern oftmals das letzte Mal einander.

Die lange Lagerstraße durch das sogenannte Zigeuner- oder Ungarnlager. Dieser 			Weg führte die angekommenen Frauen und Kinder direkt in den Tod zu den 				Gaskammern.
Die lange Lagerstraße durch das sogenannte Zigeuner- oder Ungarnlager. Dieser Weg führte die angekommenen Frauen und Kinder direkt in den Tod zu den Gaskammern. © Repro: SZ
Die lange Lagerstraße durch das sogenannte Zigeuner- oder Ungarnlager. Dieser 			Weg führte die angekommenen Frauen und Kinder direkt in den Tod zu den 				Gaskammern.
Die lange Lagerstraße durch das sogenannte Zigeuner- oder Ungarnlager. Dieser Weg führte die angekommenen Frauen und Kinder direkt in den Tod zu den Gaskammern. © Matthias Schildbach
Durch das Todestor kamen die einfahrenden Züge zur Rampe, hier stiegen die Deportierten unter Zurücklassung ihrer letzten Habe aus und wurden unmittelbar von SS-Ärzten selektiert.
Durch das Todestor kamen die einfahrenden Züge zur Rampe, hier stiegen die Deportierten unter Zurücklassung ihrer letzten Habe aus und wurden unmittelbar von SS-Ärzten selektiert. © Matthias Schildbach
Das Wohnhaus von Gustav und Martha Baruch am Sebnitzer Markt, in dem die 				Wilhelms in Sebnitz untergekommen waren. Eine Tafel am Hauseingang erinnert heute an deren Schicksal.
Das Wohnhaus von Gustav und Martha Baruch am Sebnitzer Markt, in dem die Wilhelms in Sebnitz untergekommen waren. Eine Tafel am Hauseingang erinnert heute an deren Schicksal. © Matthias Schildbach

In die Gedenkstätte des Lagers Auschwitz I kommt man nicht als Einzelbesucher hinein. Ich bekomme von unserem Tourguide einen orange Sticker auf die Brust geklatscht, werde damit Teil einer britischen Besuchergruppe. Ausgerüstet mit Kopfhörer und einem Empfänger um den Hals stellt sich unsere polnische Führerin in gebrochenem Englisch vor. Dann geht es los, zügig, Etappe für Etappe. In zweieinhalb Stunden erfährt der Besucher viel über Grausamkeiten, Versuche an Menschen, Morde und Folterungen. Die Eindrücke prasseln schneller ein, als man verarbeiten kann.

Für die zwei Kilometer Distanz zwischen dem Stammlager Auschwitz I und Auschwitz-Birkenau II steht ein Kleinbus bereit. Kaum ausgestiegen, zieht unser polnischer Guide in straffem Tempo weiter, die Gruppe folgt ihr durch das Todestor den langen Weg der Rampe entlang. Nur noch mühsam können die Teilnehmer Schritt halten. Der Tourguide vermittelt Zahlen, Fakten, Daten, Dinge, die hier geschehen sind, hunderte und tausende Male. Das Leid der Menschen wird davon verschluckt. Hier beschließe ich, die Gruppe ziehen zu lassen und den Ort weiter in meinem eigenen Tempo zu erkunden.

Die Krematorien in Birkenau sind allesamt gesprengt worden, die Spuren sollten vernichtet werden. Das Vertuschungswerk wurde nicht vollendet, gerade das macht Birkenau auch so besonders unter den Gedenkstätten. Am Krematorium II sieht man die unterirdisch gelegenen Gaskammern noch heute, ihre Bauweise ist deutlich erkennbar. Den Weg um diese Grube gehe ich langsam und werde mir bewusst, dass ich näher an die schlimmste Mordszenerie der Menschheitsgeschichte nicht kommen kann. Als im Jahr 1944 die Ungarn-Morde begannen, wurden hier in weniger als acht Wochen 320.000 Menschen vergast.

Sie wurden auf der Rampe selektiert und traten ihren Weg zu den Krematorien an. Die Zahl liegt fern jeder Vorstellungskraft, sie ist im wahrsten Sinne des Wortes - unfassbar. Was dachten die Menschen, die sich hier ausziehen mussten? Wussten sie, was sie erwartet? Ahnten sie es? Konnten sie glauben, was sie vielleicht wussten? Half ihnen die Masse, in der sie sich befanden, das eigene Schicksal leichter zu ertragen? Überhaupt nichts verstanden die Kinder, sie folgten nur ihren Müttern und deren Leid war wohl sehr abhängig davon, wie tapfer die Mütter diesen schweren Gang ertrugen. All deren Asche liegt noch heute hier, Hunderttausende, eingegangen in die Erde Polens. Breit gestreut auf den Feldern und Wiesen im rückwärtigen Gelände der Krematorien ist Birkenau damit der größte Friedhof Europas. Über eine Million Menschen haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Pauline Wilhelm aus Sebnitz entstieg 1944 einem dieser Transporte, war allein, ohne Verwandte. Der Zeigefinger eines SS-Arztes selektierte sie in die Reihen der sofort zum Tod Bestimmten. Wenig später starb sie in der Gaskammer, ihr Körper verschwand in einem der Krematorien, ihre Asche auf dem Gelände von Auschwitz II.

So wird heute an die Wilhelms erinnert

An Pauline und Hugo Wilhelm wird heute mehrfach erinnert: In Magdeburg wurden für die Wilhelms zwei Stolpersteine auf der Jakobstraße verlegt. Ihre Namen sind im Gedenkbuch für die Opfer der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945 verzeichnet, ebenso in der Opferdatenbank der tschechischen Gedenkwebseite www.holocaust.cz und der Zentralen Datenbank der Holocaust-Opfer von Yad Vashem in Jerusalem. Ihre Nachfahren leben in der ganzen Welt verstreut.

Auf meiner Rückfahrt geht mir viel durch den Kopf. In einem Podcast höre ich Michel Friedman, Publizist und früherer Vize-Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland. Es geht um Auschwitz: „Wir sprechen von der perfidesten, konsequentesten Mördermaschinerie, die es in der Menschheitsgeschichte gegeben hat, auf der Grundlage der unmenschlichsten aller unmenschlichen Theorien, nämlich dass es `lebensunwertes Leben´ gibt, das heißt, ein Leben, das eigentlich kein menschliches ist […] Wir sind Menschen. Und als solche müssen wir erkennen, wozu wir fähig sind, wozu der Hass die Menschen bringt, wohin der Populismus die Menschen bringt, wir müssen auch erkennen, dass die Mechanismen erlernt werden müssen, um sie auch abzulehnen, um gegen sie zu kämpfen.“

Wer sich von hier nichts mitnimmt, keinen Gedanken und keine Idee an Menschlichkeit und Humanismus, wie ist diesem Menschen dann noch zu helfen? Wenn einem die Worte fehlen, ist es das eine. Hier versagen einem die Gedanken. Selten habe ich derart prägende Tage erlebt, so viel nachdenken müssen - um doch nicht zu verstehen. Die Gefühle, meine Familie wiederzusehen, sie wieder in die Arme schließen zu können, sind nach dem Gesehenen überwältigend. Mit jedem meiner Kinder werde ich nach Auschwitz zurückkehren, wenn sie reif genug dafür sind. Diesen Ort werden wir gemeinsam besuchen, damit sie sehen, was Menschen anrichten können, wozu Menschen fähig sind, einander anzutun.