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Der Everest-Bezwinger will auf den Olymp

Jörg Stingl hat sich zum 60. Geburtstag ein besonderes Ziel vorgenommen. Unvergessen: sein Aufstieg am Mount Everest.

Von Jochen Mayer
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Die Ziele gehen Jörg Stingl nicht aus. Der Chemnitzer hat immer wieder neue Ideen und Projekte. Der Höhepunkt aber bleibt seine erfolgreiche Everest-Besteigung, von der auch die SZ vor 20 Jahren ausführlich berichtete.
Die Ziele gehen Jörg Stingl nicht aus. Der Chemnitzer hat immer wieder neue Ideen und Projekte. Der Höhepunkt aber bleibt seine erfolgreiche Everest-Besteigung, von der auch die SZ vor 20 Jahren ausführlich berichtete. © Kristin Schmidt

Chemnitz. Höher geht es nicht zu Fuß. Jörg Stingl stand vor 20 Jahren auf dem Gipfel des Mount Everest. Dem Chemnitzer gelang der Aufstieg ohne künstlichen Sauerstoff – als zweiter Deutscher und erstem Sachsen. Am 22. Mai wurde er zufällig daran erinnert, nachdem der besondere Jahrestag oft auch schon in Vergessenheit geriet. Nun ist die Besteigung wieder ein Thema, Stingl wird 60 Jahre alt an diesem Dienstag. Die Everest-Expedition endete wenige Wochen vor Stingls 40. Geburtstag.

Die 20 zurückliegenden Jahre kommen ihm wie eine kleine Ewigkeit vor, „weil viel passiert ist, ich verschiedenste Projekte versucht habe – von denen die meisten gelangen“, erzählt er im SZ-Interview, und er stellt fest: „Die Pläne gehen nicht aus.“

Am Mount Everest hat sich inzwischen viel verändert, der Kommerz sorgt für Massen an Gipfelgängern auf der Normalroute. „Es ist keine neue Erfahrung, dass viele versuchen, auf den höchsten Punkt der Erde zu kommen“, erzählt Jörg Stingl, das sei schon in den 1990er Jahren so gewesen. „Aber die Klientel ändern sich. Früher waren eher Kletterprofis am Berg. Heute sind es mehr Abenteurer, die den Everest in ihrer Liste abhaken wollen. Dann sind sie wieder als Adrenalin-Junkies unterwegs, stürzen sich in Wingsuit-Anzügen von Hochhäusern oder springen am Bungee-Seil in die Schlucht.“

Mit der eigentlichen Philosophie des Bergsteigens, wo es um das Aufbrechen in neue Regionen ging, habe das nichts mehr zu tun, eher mit persönlichem Marketing in sozialen Netzwerken, wie Stingl meint.

In der Todeszone wurde es ernst

Stingl stand noch einsam auf dem Everest. Mit dem Dresdner Thomas Türpe war er am Gipfeltag aufgebrochen. Sie hatten sich eine Umkehrzeit ausgemacht, um zu verhindern, beim Abstieg nachts in Bergnot zu geraten. Türpe hielt sich daran, Stingl stieg weiter auf. „Ich würde es wieder so machen“, sagt er heute, auch wenn er damals als leichtsinnig kritisiert wurde. „Für mich war das der Tag der Tage, eine Entscheidung gegen den Trend. Dabei wusste ich, dass das alles nur zählt, wenn man vom Berg auch wieder runterkommt.“

In der Todeszone erlebte Stingl dann Trugbilder, er spürte das Limit. „Das waren außergewöhnliche Erfahrungen, was der Körper leisten kann. So lange du dich bewegst und gegen die Müdigkeit ankämpfen kannst, fühlt sich alles okay an. Sobald aber der Körper im Sitzen zur Ruhe kommt, man einschlafen könnte, wird es kritisch“, meint er demütig und weiß: „Ich habe alles aus meinem Körper rausgeholt, bin an Grenzen gegangen, vielleicht darüber hinaus.“ Jenseits der 8.000 Meter hatte Götz Wiegand gewartet und war beim Abstieg Freund und Unterstützer für Stingl.

So berichtete die SZ vor 20 Jahren über Stingls Expedition

© Bildstelle
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Die einstigen sächsischen Bergkameraden haben sich auseinandergelebt. Die Interessen gingen in verschiedene Richtungen. An Achttausender denkt Stingl, der zudem auf dem Manaslu und Nanga Parbat stand, nicht mehr: „Mit 60 habe ich den Puffer an Kraft und Energie nicht mehr, den man in solchen Höhen für Unvorhersehbares braucht. Die Gefahr, für immer oben zu bleiben, ist zu groß. Es gibt noch genügend andere Berge, die mich reizen.“

So war Stingl auf die Idee gekommen, alle sieben höchsten Gipfel der Kontinente zu besteigen. Hans Engl war auf dem besten Wege dazu. Als erster Deutscher war der Bayer auf dem Everest ohne Flaschensauerstoff und dritter Mensch überhaupt nach Reinhold Messner und Peter Habeler. Das Seven-Summits-Projekt betrieb Engl jedoch nicht bis zum Ende. Das machte den Weg frei für Stingl, diese besondere Gipfelsammlung als erster Deutscher ohne Flaschensauerstoff zu schaffen. Der Everest sei der schwerste Berg wegen der Höhe gewesen, die Carstensz-Pyramide in Papua-Neuguinea oder der Mount Vinson in der Antarktis später umso interessanter.

Trauer um den Chogolisa im Karakorum

Einen Lieblingsberg hat Stingl nicht. Am häufigsten „bestieg“ er „um die Ecke den Adelsberg“, 508 Meter hoch, die markanteste Erhebung bei Chemnitz, die den Blick ins Erzgebirge gestattet. Begeistert erzählt er, wie sich das Bild auf die Heimatkuppen gewandelt habe. „Die Menschen sind jetzt stolzer auf ihre Hügelkette als kurz nach dem Mauerfall“, sagt der Kletterprofi, Fotograf und Tourenführer. „Vielen war nicht bewusst, was sie Tolles vor ihrer Haustür haben. Jetzt genießen sie ihr Umland. Es ist ja auch sensationell, was man alles machen kann zu Fuß, per Mountainbike oder im Winter auch mit Langlaufski.“

Einem Berg trauert Stingl nach: der Besteigung der Chogolisa im Karakorum. Am 7.668 Meter hohen Trapez-Berg in Sichtweite des K2 in Pakistan seien sie „teilweise wie einbetoniert“ gewesen bei drei Wochen Dauer-Schneefall. „Aber auch das war eine Erfahrung, das Erlebnis auf der Expedition kann einen keiner mehr nehmen.“

Einen Bergführer-Schein wollte der studierte Maschinenbauer nie erwerben. Er sieht sich auch ohne Extra-Zertifikat als Natur-Guide, bietet Reisen an und führt auf Berge, weil ihm das Spaß macht. „So kommen wir an Stellen der Welt, wo nicht unbedingt Massen unterwegs sind“, so Stingl. Eines seiner Angebote zielte zum Beispiel darauf, den höchsten Berg auf allen großen Inseln im Atlantik zu erreichen.

Besondere Touren waren die mit einstigen Leistungssportlern. „Die ticken anders, auch wenn ihre Glanzzeiten längst vorbei sind“, weiß Stingl und berichtet von seinen Beobachtungen: „Selbst wenn sie bei Bergtouren anfangs behaupten, nur dabei sein zu wollen, um zu entspannen. Wenn es an Gipfeltagen ernst wird, packt es sie. Dann wollen sie durchziehen, dann kommt der Sportler wieder durch, dann beißen sie auf die Zähne. Den Ehrgeiz verlieren sie nie.“

Er findet immer wieder neue Ziele

Stingl weiß selbst genau, warum das so ist. 1980 hatte er in Moskau um wenige Hundertstelsekunden das Olympia-Finale im 200 Meter Rückenschwimmen verpasst.

Im Meerwasser erlebte er vor einigen Jahren auch besondere Herausforderungen. Sein viertägiges Inselman-Projekt in der Ostsee führte ihn mit Begleitern schwimmend, radelnd und laufend von Zinnowitz nach Zingst. Dabei kraulte er von Usedom nach Rügen, umradelte die Insel, schwamm über Hiddensee wieder zum Festland und per Triathlon zum Darß. Das war aber nur der Vorgeschmack auf ein noch anspruchsvolleres Nordsee-Projekt. Dabei schwamm er alle friesischen Inseln von den Niederlanden bis Dänemark ab.

2017 ging es ostwärts, 2019 dann nordwärts; insgesamt 150 Kilometer schwimmend, 230 Kilometer mit dem Rad und etwa 72 Lauf-Kilometer. „Man leidet fast wie auf Expeditionen am Berg, wenn es kalt wird und einen die Sinnkrise überkommt. Aber am Ende erinnert man sich auch da an die positiven Momente. Daran wächst jeder, und glaubt, dass man sich noch mehr zutrauen könnte“, sagt er.

Stingl bleibt sich nun auch mit 60 treu. „Wenn alle reisen wollen wie jetzt gerade nach den Pandemie-Lockerungen“, sagt er und macht eine kleine Pause. „Dann halte ich es wie im Sommer 1990. Da bin ich zur Expedition nach Osten ins Pamir aufgebrochen. Wer lange genug nach Osten geht, kommt auch irgendwann in den Westen. Jetzt mache ich es wieder so, bin antizyklisch unterwegs nach Kamtschatka. Dafür ist jetzt die richtige Zeit, dort gibt es genügend Berge.“ In den vier Wochen im fernen Osten begleitet ihn ein Russe. Sie kennen sich vom Klettern im Kaukasus.

Eine Feier zum 60. wird es heute nicht geben. Stingl will auf einen Berg steigen, so wie er es seit dem 30. bei allen runden Geburtstagen tat. Der Chemnitzer ist nach Griechenland geflogen und kraxelt auf den Olymp. Der Hauptgipfel Mytikas ist 2.918 Meter hoch. „Da war ich noch nie“, sagt er. „Und es klingt gut für einen Olympiasportler, dort oben gewesen zu sein.“