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Dresdens Medaillensammlerin von Olympia 1984: "Mich macht nicht nur der Sport aus"

Drei Dresdner Frauen gelingt vor 40 Jahren bei Olympia 1984 in Sarajevo ein Medaillen-Coup im Eisschnelllauf. Karin Enke überragt dabei alle. "Mega angespannt" läuft sie Weltrekord.

Von Jochen Mayer
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Zweimal Gold, zweimal Silber: Karin Enke mit ihren Olympia-Medaillen der Winterspiele von Sarajevo 1984.
Zweimal Gold, zweimal Silber: Karin Enke mit ihren Olympia-Medaillen der Winterspiele von Sarajevo 1984. © picture-alliance/dpa/ADN

Dresden. Dresdens Sport feierte olympische Sternstunden im Rudern, Schwimmen, Wasserspringen. Doch das Nonplusultra gelang drei Eisschnellläuferinnen vom SC Einheit: Karin Enke, Andrea Ehrig und Christa Luding gewannen vor 40 Jahren in sieben Tagen alle Gold- und Silbermedaillen bei den Olympischen Winterspielen. Auf dem Eisoval von Sarajevo holte sich 1984 zudem die in Dresden trainierende Gabi Zange Bronze. Dem Rest der Welt blieben drei dritte Plätze. Als erfolgreichste der Medaillensammler kehrte Karin Enke mit je zweimal Gold und Silber zurück.

Sehr aufgeregt sei sie in Sarajevo vor dem ersten Start gewesen, erzählt die elffache Weltmeisterin im Interview mit der Sächsischen Zeitung: „Ich war nicht mehr so unbelastet wie vier Jahre zuvor. 1980 konnte ich in Lake Placid die Vorbereitungen locker angehen, trat aus der zweiten Reihe an, obwohl ich kurz vor den Spielen Sprint-Weltmeisterin geworden war.“

Beim Eiskunstlauf fand Enke früh zum Sport, und ein neunter EM-Rang war 1977 ihr größter Erfolg. Doch die 17-Jährige wurde für Pirouetten und Mehrfach-Sprünge zu groß. So tauschte sie 1978 Kostüme mit Rennanzügen. Die erlernte Lauftechnik erleichterte den Umstieg. Zwei Jahre nach dem Wechsel war Enke schon Weltmeisterin und gewann Olympiagold über 500 Meter. „Die Titel danach machten Druck“, erzählt die 62-Jährige.

Weltrekord trotz Mega-Anspannung

Am vergangenen Freitag vor 40 Jahren fielen in Sarajevo die ersten olympischen Entscheidungen. Der Start über 1.500 Meter wurde auf der Freiluftbahn mehrfach verschoben. Schnee sorgte für Verzögerungen. „Die Bedingungen waren suboptimal“, erinnert sich Enke. „Ich war mega angespannt, richtig fest am Start, hatte technisch nicht meinen besten Lauf. Trotzdem gelang mir ein Weltrekord.“ Zwei Jahre später drückte sie den auf der Hochgebirgsbahn von Medeo um mehr als vier Sekunden, unterbot als erste Frau die Zwei-Minuten Marke. Die Fabelzeit hatte fast zwölf Jahre Bestand, wurde erst auf Klapp-Schlittschuhen unterboten.

Enke stand in Sarajevo auch nach den 1.000 Metern ganz oben, gewann zudem zweimal Silber. Luding siegte im 500-Meter-Sprint, Ehrig auf der 3.000-Meter-Langstrecke. Die Fotos zeigten lachende Frauen in blauen Trainingsanzügen. Sie hatten allen Grund.

„Die Bilder waren die eine Seite“, sagt die erfolgreichste Wintersportlerin der DDR. „Das sah nach einem tollen Team aus. Aber Einzelsportler sind was Besonderes. Da ist am Ende jeder bei sich. Dazu waren wir zwei Trainingsgruppen in Dresden: Christa mit Ernst Luding sowie Rainer Mund mit Andrea und mir. Das gab zusätzliche Rivalität. Wir waren alle sehr fokussiert. Natürlich freuten wir uns miteinander – wie auch über Erfolge in anderen Sportarten. Bobpilot Wolfgang Hoppe, Eiskunstläuferin Katarina Witt oder Skispringer Jens Weißflog gehörten zu den herausragenden Siegern 1984. Wir waren eine gute Mannschaft.“ Die damals 22-Jährige genoss auch Begegnungen mit Weltstars anderer Sparten.

Von der Konkurrenz in der eigenen Stadt zur Weltspitze getrieben: die Dresdner Eisschnellläuferin Karin Enke.
Von der Konkurrenz in der eigenen Stadt zur Weltspitze getrieben: die Dresdner Eisschnellläuferin Karin Enke. © Repro: Steffen Füssel

Als Dresdner Erfolgsgeheimnis galt die dauernde Weltspitze, die intern alle täglich vor sich hatten. „Freundinnen waren wir nicht, was ja nicht schlimm ist“, sagt Enke über ihre Ex-Trainingspartnerin. „Wir wohnten auf Reisen selten in einem Zimmer.“ Aber sie brauchten sich gegenseitig. Trainer Mund verstand es, die Rivalität in vorwärtstreibende Energie umzumünzen. „Die Konkurrenz ist natürlich was ganz Besonderes, wenn die Zweitbeste der Welt zu deiner Trainingsgruppe gehört, du jeden Tag siehst, was Weltspitze bedeutet“, beschreibt Enke den einstigen Alltag. „Wir haben uns gegenseitig angestachelt. Aber jede pflegte eigene Rituale, je näher es zum Wettkampf kam. Im Training funktionierten wir gut, wie in einer Symbiose. Unser Umgang miteinander war fair. Aber man muss das alles auch aushalten können.“

Gern erinnert sich Enke an 1984, die Sportanlagen, die Stadt. „Sarajevo richtete schöne Spiele aus. Da wirkte alles noch überschaubar“, sagt die Fahnenträgerin zur Schlussfeier – die danach nie wieder an die Stätte ihres größten sportlichen Triumphes zurückkehrte. „Es tut weh, wenn ich an das Schicksal der Stadt denke. Wo wir unseren Sport ausleben konnten, herrschte von 1992 bis 1995 der Bosnienkrieg. Es kann kaum krassere Gegensätze geben.“

Unglücklich war Enke auch, dass ihre Eltern die Olympia-Rennen nicht direkt erleben konnten. „Obwohl das Land ja damals eine Sonderrolle im globalen Machtgefüge spielte. Meinen Eltern war es nie vergönnt, dabei zu sein, wenn ich bei den Höhepunkten lief – außer 1983 bei der WM in Karl-Marx-Stadt.“

Der Vater hatte im Dresdner Sachsenwerk gelernt, stieg vom Ingenieur zum Direktor auf. „Er durfte aber nicht zu Vertragsverhandlungen ins westliche Ausland“, erzählt Enke. „Nach der Wende erfuhr er, warum nicht: weil seine Tochter oft im Westen zum Training oder bei Wettkämpfen weilte. Zeitgleich durften wir nicht zusammen im kapitalistischen Ausland sein. Das war bitter. Meine Mutter hat sehr darunter gelitten.“ Sie sei andererseits ein Nervenbündel gewesen, wenn die Tochter im Fernsehen lief. Dann ging sie in den Flur, bis der Vater vor dem Bildschirm das Ergebnis verkündete.

Enke gehörte zu den bekannten DDR-Sportlern, erlebte aber keinen heutigen Starkult. „Wenn ich jetzt diese Bussi-bussi-Nachrichten sehe, bin ich froh, dass mir das erspart blieb“, sagt sie.

Abitur nach 16 Schuljahren

Nach Sarajevo schaffte die dreifache Olympiasiegerin ihr Abitur an der Sportschule – nach 16 Schuljahren. Der Trainingsumfang hatte seinen Preis. Schwanger trat sie zur Zeugnisübergabe an. Nach der Geburt ihres Sohnes kam die alte Form wieder. Die Winterspiele 1988 in Calgary sollten die Karriere krönen. Doch die Niederländerin Yvonne van Gennip, die weder davor noch danach WM- oder EM-Titel gewann, schnappte den Dresdner Frauen dreimal Gold weg. Und Luding blieb über 1.000 Meter fünf Hundertstel vor Enke. Die komplettierte in Kanada mit zweimal Silber, einmal Bronze ihre olympische Medaillen-Sammlung – und beendete eine große Karriere.

Nach vier Semestern Kunstwissenschaften absolvierte Enke eine Kosmetik-Lehre, fühlte sich nach der Geburt von zwei Töchtern als dreifache Mutter und Hausfrau ausgelastet, als Managerin eines „kleinen Familien-Unternehmens“. Mit 43 Jahren und nach drei Scheidungen wagte sie sich mit ihrem neuen Partner und heutigen Ehemann, dem Österreicher Peter Mayer-Enke, zum Direktstudium der Erziehungswissenschaften. Nach dem Diplom-Abschluss an der TU Dresden arbeitete Enke bei der Dresdner Gesop gGmbH im Bereich Sozialpsychiatrie mit Menschen mit psychischer Erkrankung und/oder Abhängigkeitserkrankung. Im einstigen Praktikumsbetrieb ist sie seit 2014 Geschäftsführerin.

Seit 2014 ist Karin Enke Geschäftsführerin der Gesellschaft für die gemeindenahe sozialpsychiatrische Versorgung.
Seit 2014 ist Karin Enke Geschäftsführerin der Gesellschaft für die gemeindenahe sozialpsychiatrische Versorgung. © Jochen Mayer

Manchmal hört sie: „Wenn du das nicht schaffst, wer dann?“ Über solche Sprüche kann sich Enke ärgern. „Wenn du mal was über alle Maßen besonders gut geschafft hast, warum sollte das dann auf anderen Gebieten automatisch gelingen?“, fragt sie sich. „Ich musste mir nach der Sportkarriere alles hart erarbeiten. Sicher besitze ich Anlagen wie Biss, Zielstrebigkeit und Willen bis heute. Aber ich musste mir Dinge aneignen, die für mich völlig neu waren“, betont sie.

Kein Urteil über aktuelle Situation

Das bezieht sie auch auf ihre Fitness: „Von wegen: ,Du bist schlank, du warst ja aber auch mal Sportlerin.‘ So einfach ist es nicht“, sagt Enke. „Man muss ein Leben lang was für sich und seine Gesundheit tun. Ich bin jetzt immer noch diszipliniert bei Ernährung und Aktivitäten, nehme genauso schnell zu wie andere.“ Sie stört sich auch daran, auf das sportliche Vorleben reduziert zu werden. „Ich habe ein Leben nach dem Sport, bringe da Leistungen und meinen Teil für die Gesellschaft ein, der sicher nicht unerheblich ist. Mich macht nicht nur der Sport aus.“

Wegen Sarajevo 1984 gab es kein Nostalgie-Treffen. Das MDR-Riverboat nutzte das Jubiläum für eine Einladung. Enke, die 1988 noch Claudia Pechsteins ersten internationalen Erfolg als Zweite bei der Junioren-WM im Mehrkampf erlebte, hält sich mit Urteilen über die Dauerläuferin und den Niveau-Absturz im deutschen Lager zurück: „Da ist viel passiert, sicher nicht immer das Richtige. Aber ich bin viel zu weit weg, um Ursachen des Niedergangs zu benennen. Inzwischen scheint der Anspruch geringer geworden zu sein. Offenbar gelingt auch der Sprung von Junioren zu den Senioren nicht mehr. Vielleicht ist das Angebot an Lebensentwürfen zu groß. Und nur mit Eisschnelllauf lässt sich kein Lebensunterhalt verdienen“, sagt Enke.

Sie hat den Abstand zu ihrer Sportart längst gefunden. Nicht aber zum Sporttreiben, selbst wenn ein unverschuldeter Skiunfall sie jüngst mit Innenband-Verletzung im Knie handicapte. Zum 60. ihres Mannes gab es im Januar ein Familientreffen in den Alpen. „Seine Tochter und meine drei Kinder kamen. Sie sind alle versorgt, haben ihren Platz gefunden. Es war schön, zu sehen, wie gut sich alle verstehen“, sagt mit vielsagendem Lächeln eine Frau, die das Leben von unterschiedlichen Seiten kennt – und gelernt hat, es gut zu meistern.