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Kritik der Bundestrainerin vor der Fußball-EM: "Wir sind einfach kein Sportland!"

Vor Beginn der Fußball-EM 2022 spricht Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg über Vorzüge und Versäumnisse im Frauenfußball – und den mangelhaften Stellenwert des Sports in Deutschland.

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Im Fokus: Martina Voss-Tecklenburg (54) arbeitet seit 2018 als Bundestrainerin der deutschen Fußballerinnen. Als Spielerin bestritt die gebürtige Duisburgerin selbst 125 Länderspiele.
Im Fokus: Martina Voss-Tecklenburg (54) arbeitet seit 2018 als Bundestrainerin der deutschen Fußballerinnen. Als Spielerin bestritt die gebürtige Duisburgerin selbst 125 Länderspiele. © dpa

Frau Voss-Tecklenburg, Sie haben von 1984 bis 2000 für die deutsche Nationalmannschaft 125 Länderspiele bestritten. Es war eine Epoche, als der EM-Titel fast wie auf Knopfdruck nach Deutschland ging. In Ihrer Vita stehen vier gewonnene EM-Titel von 1989 bis 1997. Was ist bei Ihnen als prägendste Erinnerung haften geblieben?

Die Frage ist total einfach zu beantworten: der erste EM-Titel 1989, weil es einfach ein besonderer Rahmen war. Es ging mit dem Halbfinale gegen Italien in Siegen los, wo wir ins Elfmeterschießen mussten. Ich galt mit als sicherste Schützin und habe gleich den ersten Ball fünf Meter übers Tor geschossen – den suchen sie heute noch. Unsere Torhüterin Marion Isbert hat dann drei Elfmeter gehalten und den entscheidenden selbst verwandelt. Plötzlich wussten die Menschen: Es gibt eine deutsche Frauen-Nationalmannschaft, die im Endspiel der Europameisterschaft steht.

Und dann?

Fährst du nach Osnabrück zum Finale und auf einmal ist das Stadion ausverkauft, das Fernsehen überträgt live – und du spielst dich gegen Norwegen in einen Rausch. Mit dem Moment wurde für die gesamte Entwicklung des Frauen- und Mädchenfußballs in Deutschland etwas losgetreten. Auch wie wir anschließend gefeiert haben, ist für mich noch heute präsenter als das, was danach kam.

Also ist es rückblickend deplatziert, oft nur das damals für den EM-Titel überreichte Kaffeeservice zu erwähnen?

Das wird total zu Unrecht in den Vordergrund geschoben. Wir waren Amateure, der DFB durfte uns damals gar kein Geld zahlen. Es war eher eine symbolhafte Geste, die sich die Funktionäre überlegt haben. Eigentlich ist es doch lustig, dass eine Männerwelt auf die Idee kam, den Frauen ein Kaffeeservice hinzustellen. Es steht übrigens noch zu Hause bei mir in der Küche, und es ist immer wieder schön, es anzuschauen (lacht).

Warum war Deutschland in den Folgejahren im Frauenfußball so viel besser als andere Nationen und wurde dann bis 2013 insgesamt acht Mal Europameister?

Wir sind in einer Welt groß geworden, in der wir nur mit den Jungs unterwegs waren, uns durchsetzen mussten, und wo wir eine andere Überzeugung in uns getragen haben. Ich habe mich mit Birgit Prinz (die Rekordspielerin arbeitet als Teampsychologin bei den DFB-Frauen, Anm. d. Red.) über das Thema noch mal unterhalten: Wenn eine von uns mal draußen gesessen hat, kamen wir mit einem Selbstverständnis auf den Platz, dass wir das Spiel verändern. Wir hatten mit Gero Bisanz einen überragenden Trainer und eine hohe Identifikation mitgebracht. Wir hatten amateurhafte Strukturen, aber im Herzen waren wir Topprofis! Ich habe überall geschaut, wo kann ich mich verbessern. Dafür habe ich beim MSV Duisburg mittrainiert und meinen Arbeitgeber so gewählt, dass ich möglichst viel Fußball spielen kann – mit dem Wissen, dass ich damit aber kein Geld verdiene, aber es war meine Leidenschaft. Deutschland ist eine Fußball-Nation, und das ist geschlechterunabhängig gewesen.

Martina Voss-Tecklenburg hat klare Vorstellungen und scheut auch keine Kritik.
Martina Voss-Tecklenburg hat klare Vorstellungen und scheut auch keine Kritik. © dpa

Können Sie diese Eigenschaften bei Ihren Spielerinnen verankern?

Wir wollen ja nicht immer von früher reden, aber wir können versuchen, an diesen Themen zu arbeiten. Ich glaube ja immer noch, dass auch wir eine richtig gute Mannschaft bei der EM sein werden, wenn unsere Spielerinnen eine innere Überzeugung von ihrer Leistungsfähigkeit besitzen. Da sind uns andere Nationen vielleicht ein bisschen voraus.

Warum?

Das hat mit unserer Ausbildung im Fußball zu tun. Vieles ist sehr strukturiert, auch sehr kaserniert. Es ist wenig kreativ, dafür sehr gleichförmig geworden – auch in unserer Gesellschaft. Typen, die ausbrechen, sind selten geworden. Es geht meist darum, keine Fehler zu machen, keine Schwäche zu zeigen – und am besten auch keine schlechten Noten zu schreiben. Dazu kommt: Wir sind einfach kein Sportland! Wir haben keine Sportkultur wie Island. Ein kleines Land, aber der Sport spielt überall eine wichtige Rolle.

Hierzulande nicht?

Ich habe mit unserem DFB-Präsidenten Bernd Neuendorf kürzlich darüber gesprochen, dass der Sport politisch nicht optimal vertreten ist. Wir sind in der Schule die Ersten, die beim Sportunterricht kürzen. Hallenbäder werden geschlossen, Turnhallen für andere Dinge benötigt, in der Corona-Krise waren Sporteinrichtungen monatelang geschlossen. Die Kinder werden immer übergewichtiger, obwohl erwiesen ist, dass Aktivität auch das Lernvermögen steigert. Auf dieser Grundebene ist Deutschland für mich kein Sportland mehr. Das macht es schwer. Übrigens auch bei der Wertschätzung von denjenigen, die Sporttreiben zu ihrem Beruf gemacht haben. Da sind die Niederlande für mich ein klassisches Beispiel: Dort gehen die Menschen zum Fußball, zum Eisschnelllauf, zum Radrennen und feiern sich, aber auch den Sport. Das ist für mich auch eine Ursache für den Talentemangel in Deutschland.

Erklärt das auch, warum Deutschland im Frauenfußball nicht mehr die Führungsposition innehat?

Die Spanier setzen seit Jahren auf eine freie Spielkultur, um die Kreativität zu fördern; die Engländer haben viele Jahre vor uns erkannt, dass ihre Talentausbildung eine andere sein muss, wenn möglichst viele oben ankommen sollen. Und in der Schweiz ist es an der Akademie so, dass noch im Fußballinternat auch noch zwei andere Sportarten gelehrt wurden. Da fehlt mir hier auch noch ein bisschen was. Das sind aber Themen, die müssen Politik, Gesellschaft und Sportverbände gemeinsam anpacken – am besten schon im Kindergarten und in der Grundschule.

Sie sprechen wie selbstverständlich von Mädchen und Jungs. Es hat sich auch beim DFB eine Menge getan, um den Frauen- und Mädchenfußball zu fördern. Doch von gleichen Prämien ist der Verband weit entfernt. Trotzdem sind 60.000 Euro für einen EM-Titel eine Rekordprämie. Was sagen Sie zur Equal-Pay-Debatte?

Ich finde gut, dass unser Verband mehr an die Spielerinnen weitergibt, wenn auch mehr hereinkommt. Der Auftrag an die Fifa und die Uefa ist, dass es irgendwann ein Prämiensystem gibt, wo es für alle gleich ist – das würden wir uns wünschen. Ich sage aber auch, dass das, was im Männerfußball passiert, einfach überdimensioniert ist. Das sind Bereiche, die der normale Fan nicht mehr nachvollziehen kann. Deshalb möchte ich mich gar nicht an Zahlen binden, sondern es muss sich annähern: Beim Männerfußball weniger und bei uns vielleicht ein bisschen mehr.

Sie gehen also nicht so weit wie die Verbände von Spanien, Norwegen oder neuerdings Niederlande und die Schweiz, die die Prämien für Frauen und Männer angeglichen haben?

Man kann darüber nachdenken, irgendwann die Prämien für die Nationalmannschaften der Männer, der Frauen und die U21 anzugleichen, weil diese drei Teams vornewegmarschieren. Aber es ist nicht möglich, dass die Frauen für einen Titel 400.000 Euro bekommen. Das kann sich kein Verband in Europa leisten, solange der Männer-Fußball die Sportart Nummer eins ist, die alles andere überstrahlt. Generell spüre ich ja, dass Frauen und Männer auch in unserem Verband immer mehr zusammenwachsen.

Wie gut ist Ihr Verhältnis zu Hansi Flick? Schreibt man sich, sieht man sich?

Für die Kürze der Zeit haben wir schon sehr viel Austausch gehabt. Wir haben uns vor einigen Wochen mit beiden Trainerteams in Frankfurt getroffen und sehr lange zusammengesessen. Es ist wirklich so, dass ich mit Hansi schon mehrfach lange telefoniert habe. Und wir merken beide, dass es sich lohnt, in den Austausch zu gehen, der auch über die Akademie, die Direktion Nationalmannschaften oder das Teammanagement zustande kommt. Außerdem haben wir mit unserem Torwarttrainer Michael Fuchs jemand, der kürzlich auch bei den Männern dabei war. Wir versuchen voneinander zu profitieren.

Die Bundestrainerin sieht die deutsche Frauen-Nationalmannschaft als Vorbild für Diversität. "Bei uns werden viele gesellschaftlich relevante Themen mit großer Offenheit gelebt", sagt Martina Voss-Tecklenburg.
Die Bundestrainerin sieht die deutsche Frauen-Nationalmannschaft als Vorbild für Diversität. "Bei uns werden viele gesellschaftlich relevante Themen mit großer Offenheit gelebt", sagt Martina Voss-Tecklenburg. © dpa

Ihre Kapitänin Svenja Huth redet wie selbstverständlich davon, dass sie den Urlaub genutzt hat, ihre Lebensgefährtin zu heiraten. Es wäre im Gegenzug kaum denkbar, dass so etwas von einem Männer-Nationalspieler käme.

Die Männer sagen doch auch, wenn sie heiraten! (lacht laut).

Sie wissen ja, was gemeint ist.

Ich hoffe, dass wir ein Vorbild für Diversität sind! Bei uns werden viele gesellschaftlich relevante Themen mit großer Offenheit gelebt. Diesen werteorientierten Umgang miteinander haben sich die Spielerinnen selbst erarbeitet. Letztlich muss jede selbst entscheiden, ob sie so etwas wie eine sexuelle Orientierung oder eine gleichgeschlechtliche Heirat öffentlich macht. Der Umgang mit solchen Themen ist bei uns viel, viel offener, und vielleicht auch mit einem größeren Selbstbewusstsein versehen. Ich find’s toll, wenn man sich in seiner Lebensbeziehung nicht verstecken will, aber man muss auch nicht alles nach außen tragen.

Sie haben nach der Geburt Ihrer Tochter Dina Ihre Laufbahn als Spielerin kurz unterbrochen. Wird sie bei der EM in England dabei sein?

Nein, Dina ist ja gerade junge Mama geworden. Sie ist mit ihrem Lebenspartner (dem Profifußballer Kevin Wolze, Anm. d. Red.) der gemeinsamen Tochter und dem Hund genügend ausgelastet, aber sie wird jedes Spiel schauen und die Daumen drücken. Sie kennt ja auch alle Spielerinnen und ist gut informiert. Sie wird mich durch die täglichen Telefonate unterstützen.

Ihr Ehemann, der Unternehmer Hermann Tecklenburg, ist sehr fußballaffin, ohne ihn würde der SV Straelen nicht in der Regionalliga West spielen. Wie oft holen Sie sich Rat von ihm?

Wir schätzen uns als gegenseitige Ratgeber, weil Hermann natürlich einen anderen Blick hat. Ich habe den emotionalen Blick auf meine Nationalmannschaft, er hat ihn auf den SV Straelen. Aber Emotionalität heißt nicht immer Objektivität, sodass der jeweils andere ruhig etwas Hilfreiches sagen kann. Wenn ihm auf der Tribüne etwas auffällt, kann es sein, dass ich danach in den Reflexionsprozess gehe. Genauso ist es umgekehrt. Ich bin zwar nicht so oft da, aber wenn, dann frage ich auch mal nach.

Das Interview führte Frank Hellmann.