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"Tschüss Mutti, bis morgen" - das waren die letzten Worte ihres Sohnes

Nach dem Unfalltod ihres Sohnes vor zwei Jahren engagiert sich Kerstin Didszun für die Organspende. Warum es ihr hilft.

Von Heike Sabel
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Kerstin Didszun  mit einem Foto ihres Sohnes Martin. Er ist überall dabei, wenn sie über ihn erzählt und für die Organspende kämpft.
Kerstin Didszun mit einem Foto ihres Sohnes Martin. Er ist überall dabei, wenn sie über ihn erzählt und für die Organspende kämpft. © Egbert Kamprath

Sie haben über den Tod gesprochen, aber nicht geahnt, dass er so nah ist. Mit 31 stirbt man nicht einfach so aus heiterem Himmel. Martin ist fünf Tage lang gestorben. Am 14. Oktober jährt sich der Tag seines Unfalls zum zweiten Mal. Für seine Mutter Kerstin Didszun ist ihr Sohn immer gegenwärtig. In ihrem Herzen sowieso, aber auch durch seine Organspende. Die hilft ihr, in dem sinnlosen Tod einen Sinn zu sehen.

Martin hat seine Eltern, zwei große Schwestern, eine Frau und ein Kind, viele Freunde, als er stirbt. 14 Tage vor seinem 32. Geburtstag. Er war ein großer, schlanker Mann, Landschaftsgärtner und arbeitete in der Firma seiner Mutter. Für seine Tochter hatte er ein Malbuch gemalt, er konnte Geschichten erzählen und war für jeden Spaß zu haben.

Ein geplatztes Aneurysma

Am Tag seines Unfalls war Martin mit dem Auto seiner Mutter unterwegs. Nicht ungewöhnlich. Er hatte bei den Eltern in Berggießhübel Möbel eingeladen, um sie nach Dresden in seine Wohnung zu bringen. Er erledigte noch einen Weg, kaufte sich bei Netto zwei Tafeln Schokolade. Von seiner Mutter hatte er sich mit den Worten: "Tschüss Mutti, bis morgen" verabschiedet. Ein paar Minuten später saß er im Auto.

Als ein Aneurysma platze, war sein Leben zu Ende und änderte sich das seiner Familie. "Es war der beste Tod", sagt seine Mutter. Das verschreckt zunächst, doch aus der Perspektive ihres Sohnes stimmt es. Auch wenn es der falsche Zeitpunkt war. Welcher ist schon der richtige? Der Gedanke aber hilft ihr, damit irgendwie klarzukommen, auch wenn man das eigentlich nicht kann.

Nach der Rekonstruktion des Unfalls und der Verletzungen stand der Ablauf fest. Durch das geplatzte Aneurysma war Martin bewusstlos geworden. Sein Auto drehte sich, beschleunigte sogar noch einmal, als der Körper von Martin zusammensackte und damit auch Druck aufs Gaspedal entstand, stieß gegen einen Lkw. Bremsspuren gab es keine. Das erklärt die volle Wucht, mit der Martin auf den Lkw prallte. Die Eltern waren kurz nach dem Unfall vor Ort, wurden jedoch nicht zu ihrem Sohn gelassen.

Den Angehörigen eine Entscheidung abnehmen

Ein Arzt aus der Gottleubaer Klinik, der zufällig als Ersthelfer vor Ort war, belebte Martin wieder. Dann wurde er mit dem Hubschrauber in die Klinik nach Dresden geflogen. Der Notarzt vor Ort sagte den Eltern, er sei kreislaufstabil, obwohl er wohl geahnt haben muss, wie es um ihn stand. "Er sagte, es steht Spitz auf Knopf", sagt Kerstin Didszun. Später wurden ihnen in der Klinik gesagt, er sei hirntot.

Das Aneurysma hätte gereicht, um zu sterben. Der Unfall führte zu weiteren schwersten Verletzungen. Doch nicht das machte die folgenden vier Tage zur Tortur für seine Angehörigen. Martin hatte einen Organspenderausweis. Der befand sich im Portmonee, das er an einer Kette in der Hosentasche trug und das nach dem Unfall auf seinem Bauch lag. Organe zu spenden, ist eine gute Entscheidung. Eine, die man trifft, wenn man noch lebt, um seinen Angehörigen eine wichtige abzunehmen.

© Rolf Vennenbernd/dpa

Bei Martin dauerte es vier Tage, bis der Hirntod endgültig bestätigt wurde. Immer mal wieder waren Hirnströme und Durchblutung festgestellt worden, die dem entgegenstehen. An einem Montag starb er. An diesem Tag wären auch die Maschinen abgeschaltet worden, weil seine Organe sonst hätten nicht mehr verwendet werden können. Seine große Schwester hatte es noch aus Amerika an sein Sterbebett geschafft. Er hatte auf sie gewartet, auch wenn er ihren Besuch nicht mehr spürte. Das sind so Dinge zwischen Himmel und Erde, die keine Wissenschaft erklären kann.

Nur ein Prozent aller Toten kann Organe spenden, weil bei ihnen ein Hirntod festgestellt wird. Das sind etwa 5000 bis 8000 Menschen im Jahr. Von denen haben jedoch nur etwa zehn Prozent, also 500 bis 800 Menschen einen Organspendeausweis. Zum Vergleich: Auf den Wartelisten der europäischen Vermittlungsstelle Eurotransplant stehen derzeit etwa 9.400 Deutsche. Von 100 Menschen sind 80 bereit, Organe zu spenden, aber nur 20 haben einen Ausweis. Das alles sind Fakten, die Kerstin Didszun vorher auch nicht bekannt waren.

Wohin mit meiner Trauer?

Martins Lunge, Herz, Leber und zwei Nieren konnten transplantiert werden. Die Leber wurde geteilt, eine Frau und ein unter fünfjähriges Kind erhielten sie, eine Niere ein 31-jähriger Mann, die anderen Organe Männer zwischen 40 und 50 Jahren. Zwei der Empfänger haben einer Kontaktaufnahme mit Kerstin Didszun noch nicht zugestimmt. Sie wird an alle schreiben, über das Netzwerk Spenderfamilien hat sie viele Kontakte.

Organspende in Deutschland

  • Nur wenige Erkrankungen schließen eine Organspende nach dem Tod aus.
  • Es gibt kein Höchstalter, bis zu dem eine Spende möglich ist.
  • Die wichtigsten Voraussetzungen für eine Organspende sind die Zustimmung und dass bei der verstorbenen Person der unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen (Hirntod) festgestellt worden ist. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, prüfen Ärztinnen und Ärzte im Einzelfall, ob der Gesundheitszustand eine Organspende zulässt.
  • Es werden weniger Organe gespendet, als benötigt. Daher werden Patientinnen und Patienten, bei denen aus medizinischen Gründen eine Transplantation erforderlich ist, in Wartelisten aufgenommen.
  • Info-Telefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, montags bis freitags, 9 bis 18 Uhr, gebührenfrei, Telefon 08009040400

Wohin mit meiner Trauer? Das ist die Frage, die jeden überfällt, der einen Menschen verliert. Jedem kommt die Frage zu einem anderen Zeitpunkt und jeder beantwortet sie anders. Kerstin Didszun ist in die Offensive gegangen. Eine erste Adresse war die Facebook-Gruppe verwaister Eltern. Inzwischen spricht Kerstin Didszun auch öffentlich über ihr Schicksal, um auf die Organspende hinzuweisen. Sie weiß viel, weint immer noch oft, denkt an den letzten Tag von Martin. Der Gedanke, er musste, sollte an diesem Tag sterben, klingt so wie Kerstin Didszun eigentlich nicht ist, aber er tröstet sie.

Sie sieht ihren Sohn in den vielen Gärten, die er gestaltet hat, in seiner Tochter und den Fotos. Er ist tot. Er lebt nicht in den Menschen, die seine Organe bekamen, weiter, aber er hat ihnen ermöglicht, weiterzuleben. Das ist, was sie immer wieder antreibt. "Meine Aufgabe ist, darüber zu reden."