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Thierse übt harsche Kritik an ukrainischem Botschafter Melnyk

Der Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse vergleicht im Sächsische.de-Interview Andrij Melnyk mit dem Sowjet-Botschafter in der DDR und macht sich Gedanken über verlorene Friedfertigkeit und offene Briefe.

Von Peter Heimann
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Wolfgang Thierse (SPD), ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestages, sieht durch Russlands Überfall auf die Ukraine eine jahrzehntelange Politikphase in Europa beendet.
Wolfgang Thierse (SPD), ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestages, sieht durch Russlands Überfall auf die Ukraine eine jahrzehntelange Politikphase in Europa beendet. © Archivbild: dpa/Christoph Soeder

Herr Thierse, ist mit Putins Überfall auf die Ukraine die Friedensdividende von 1989 aufgebraucht?

Der Überfall von Putin-Russland auf die Ukraine hat eine 30-jährige Phase in Europa beendet, die durch Verträge, Vereinbarungen, unterschiedlichste Formen wirtschaftlicher und diplomatischer Zusammenarbeit geprägt war. Das ist ein wirklicher Einschnitt.

Bisher lautete das politische Ziel: Sicherheit in Europa geht nur mit Russland. Das ist absehbar vorbei. Jetzt muss Sicherheit in Europa gegen Russland organisiert werden. Was bedeutet das?

Das ist ein ganz schmerzlicher Wechsel. Mit der Sowjetunion konnte die Entspannungspolitik gelingen, weil in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren zwei Voraussetzungen galten: erstens die westliche militärische Stärke mit den USA als Atommacht. Und zweitens: Die Kooperationsbereitschaft der Sowjetunion, die unter Breschnew eine konservative Macht geworden war, der es um die Absicherung ihres Systems und ihres Machtbereiches ging. Da konnte das Konzept der gemeinsamen Sicherheit funktionieren. Anerkennung der Grenzen und Vereinbarung von Zusammenarbeit auf etlichen Gebieten. Das ist vorbei. Das hat Putin zerstört. In den nächsten Jahren – keiner weiß wie lange – wird es darum gehen, Sicherheit gegen Russland zu erkämpfen. Die bittere Lehre vom 24. Februar ist: Wir dürfen nicht dasselbe machen wie 2014 nach der Annexion der Krim und dem Einfall in den Donbass. Es war unübersehbar die Schwäche des Westens, die Putin dazu ermuntert hat, den Überfall auf die Ukraine zu wagen. Es scheint mir auch kein Zufall, dass der ein halbes Jahr nach dem Afghanistan-Fiasko stattfindet. Dies hatte gezeigt, dass der Westen in den Augen Putins ein zahnloser Tiger geworden ist.

Momentan wird in Talkshows, auf Twitter und Facebook, mit offenen Briefen und so weiter in teils scharfem Ton über diese Zeitenwende und ihre Folgen gestritten. Spaltet der grausame Krieg in der Ukraine die Republik oder ist das nur Ausdruck funktionierender Demokratie?

Zunächst einmal: Der Überfall hat Europa geeinigt. Das ist eine politisch für Putin wohl überraschende Wirkung. Und natürlich ist eine demokratische Gesellschaft angesichts eines näher gerückten Krieges und verständlicher Ängste vor einer Ausweitung des Krieges bis hin zu atomaren Schlägen eine streitige, nervöse Gesellschaft. Das ist durchaus eine Stärke. In Russland ist es anders: Der Präsident befiehlt und alle anderen Meinungen werden bei Strafe verboten. Demokratische Debatte ist dem Zwiespalt der Gefühle angemessener und nicht überraschend.

Gestritten wird aber leider oft nicht mit dem Argument, sondern mit Unterstellungen, Verdächtigungen, Beleidigungen. Die einen sind schnell naive Putin-Versteher, die anderen Kriegstreiber. Wenn der Philosoph Habermas vor "kriegstreiberischer Rhetorik" warnt, wird er in die inhaltliche Nähe von AfD-Positionen gerückt.

Das sind doch Übertreibungen, die auch sonst stattfinden. Die Internet-Kommunikation ist leider aggressiv, voller Feindseligkeiten und Hassausbrüche. Das ist nichts Neues. Die aktuelle Debatte wird aber geprägt durch das Grundgefühl von Angst vor weiterer Eskalation.

Ist dieses Gefühl nicht nachvollziehbar?

Selbstverständlich. Diese Debatte ist natürlich hoch emotional. Aber politische Entscheidungen dürfen nie nur auf Emotionen und Ängsten ruhen. Sie müssen auch Wirkungen und Folgen im Blick haben. Sonst gewinnt Putin, zu dessen Strategie gehört ja neben dem faktischen auch ein Informationskrieg. Ein Beeinflussungskrieg, auch das systematische Schüren von Angst vor den russischen Atomwaffen.

Dennoch: Wenn frühere Kriegsdienstverweigerer plötzlich als Waffen- und Militärexperten agieren und Ex-Generale vor sprachlichem Bellizismus warnen, wäre nicht auch ein wenig Abrüstung in der Auseinandersetzung angezeigt?

Ja, aber die Aufregung ist doch verständlich. Wir Deutsche hatten schließlich nach 1990 mit gutem Grund das Gefühl, in einem Zustand historischen Glücks zu leben: nur friedliche Nachbarn, Grenzen, zu denen alle Ja gesagt haben, umzingelt von Freunden.

Und der Russe Gorbatschow war der Held fast des gesamten Landes.

Ja. Und das ist plötzlich alles weg durch den Überfall, alles zerstört, weggebombt. Das ist ein so tiefer historischer und eben auch emotionaler Einschnitt. Dass darüber die Aufregung riesig ist – wem soll man das zum Vorwurf machen?

Reicht angesichts der Grausamkeit des Krieges eigene Friedfertigkeit aus oder wird Pazifismus jetzt zum Schimpfwort?

Von sich selbst kann man auch mit einigen vernünftigen Gründen Wehrlosigkeit verlangen. Aber von anderen darf man das nicht verlangen. Das wäre zynisch. Das ist mein kritischer Einwand gegen manche Stellungnahmen aus der Friedensbewegung oder von Intellektuellen. Von der Ukraine zu erwarten, dass sie ihr Selbstverteidigungsrecht nicht weiter ausübt, ist ziemlich arrogant. Ich bin auch nicht sicher, ob das zum Frieden beitragen würde. Die schlimme Vermutung ist doch, dass Putin durch einen klaren militärischen Erfolg nicht zum Frieden verführt wird, sondern zu weiteren militärischen Abenteuern, zu weiteren Aggressionen.

Sollten wir also alles Militärgerät, das entbehrlich und funktionstüchtig ist, in die Ukraine schicken? So viel ist es ja offenbar nicht.

Jeder Staat hat für seine Selbstverteidigung das Recht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Deutschland sollte im Bündnis mit seinen Partnern das zur Verfügung stellen, was wir zur Verfügung stellen können, was effektiv, nutzbar und einsetzbar ist. Die immer lauter werdenden Rufe nach schweren Waffen haben mich deshalb irritiert, weil die Rufer hierzulande gar nicht sagen konnten, was sie wollen. Und: Regierungspolitiker sollten bei ihren Forderungen auch wissen, was die Regierung angesichts des Zustands der Bundeswehr überhaupt erfüllen kann.

Irren diejenigen, die durch immer mehr Lieferungen schwerer Waffen eine Eskalation des Krieges über die ukrainischen Grenzen hinaus fürchten?

Ich kann die Sorge verstehen. Sie ist aber widerlegt: Alle westliche Friedfertigkeit und Kompromissbereitschaft, etwa 2014 nach der Annexion der Krim, hat Putin nicht an einer Eskalation gehindert. Im Gegenteil: 2022 folgt auf 2014!

In Ostdeutschland ist die Ablehnung der Lieferung schwerer Waffen erkennbar größer als im Westen. Wie ist das zu erklären?

Es ist schwer zu erklären. Der nüchterne Versuch: Es gibt halt besondere ostdeutsche Interessen, die aus den engeren wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland herrühren. Es gibt auch engere menschliche, kulturelle, emotionale Beziehungen zu Russland in aller Widersprüchlichkeit. Die Sowjetunion war zwar 40 Jahre ungeliebte Besatzungsmacht, das Russische war aber auch kulturell und menschlich präsent. Das wirkt nach.

Irrt der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, wenn er auf all das aufmerksam macht?

Er kann das natürlich politisch aufnehmen. Aber am Ende bleibt auch für ihn die einfache Frage: Was kann Putin, den Aggressor, den Hitler von heute, daran hindern, seine Aggression fortzusetzen? Ich sehne mich auch nach einem Waffenstillstand, damit Diplomaten ans Werk gehen können, Politik wieder einzieht. Aber: Wer gehört werden will, muss Macht haben.

Es ist eben nicht so klar, wo genau die Grenze verläuft zwischen Abwägung und Zauderei.

Regierungen müssen Entscheidungen treffen nach Abwägung aller Gesichtspunkte. Deswegen finde ich die nüchterne, auch vorsichtige Haltung der Bundesregierung unter Kanzler Scholz richtig. Das schafft mehr Vertrauen als ständige Rufe nach mehr und noch mehr. Ich vertraue jedenfalls Olaf Scholz mehr als dem ukrainischen Botschafter. Der erinnert mich an den sowjetischen Botschafter in der DDR, dessen robustes Verhalten aber wenigstens nicht öffentlich stattfand.

Wie beschäftigt Sie dieser Krieg persönlich?

Ständig. Man hört von früh bis abends Nachrichten. Und schwankt zwischen Verzweiflung, Wut, Ratlosigkeit, Empörung. Der Opfergang des ukrainischen Volkes tut sehr weh.