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Warum 2024 Selenskyjs Schicksalsjahr wird

Die Ukraine steckt militärisch in einer Sackgasse. Es wächst der Druck auf den lange weltweit bejubelten Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Können er und das Land den Kampf 2024 gewinnen?

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Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, spricht während seiner Jahresend-Pressekonferenz.
Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, spricht während seiner Jahresend-Pressekonferenz. © AP

Für den von fast zwei Kriegsjahren gezeichneten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dürfte 2024 das Schicksalsjahr werden. Zwar kann der 45-Jährige trotz Russlands Invasion stolz auf den Beginn der Verhandlungen für einen EU-Beitritt verweisen. Aber der vor einem Jahr versprochene Sieg über Moskaus Invasion ist nicht in Sicht. Die Gegenoffensive der Streitkräfte zur Befreiung der von Russland besetzten Gebiete gilt als gescheitert. Von einem Stellungskrieg, einem Patt, einer Sackgasse ist im zweiten Kriegswinter die Rede. Und auch die Solidarität im Westen für das um sein Überleben kämpfende Land bröckelt.

Russland kontrolliert weiter rund ein Fünftel des Staatsgebiets der Ukraine. Zehntausende Menschen sind getötet worden in diesem schlimmsten Blutvergießen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Damit wächst der Druck auf Selenskyj nicht nur im Land selbst, sondern auch international, Ergebnisse zu liefern.

Doch Selenskyj gibt sich kämpferisch. „Die Ukraine wird ihre Stärke und ihre Freiheit nicht verlieren“, betont er stets. „Am Ende wird die Dunkelheit verlieren. Das Böse wird besiegt“, sagte er in seiner Weihnachtsbotschaft. Der Präsident warnt vor Kriegsmüdigkeit oder gar vor einem Einfrieren des Konflikts, weil dies nur Russland helfe, militärisch stärker zu werden.

Europäische Union soll einspringen

Vor allem aber ist Selenskyj trotz zunehmender Rufe nach Verhandlungen weiter fest entschlossen, den Konflikt auf dem Schlachtfeld auszutragen. Er will Russland möglichst eine strategische Niederlage zufügen, das Land so sehr schwächen, damit es niemals wieder eine solche Aggression lostreten könne. „Russlands Niederlage bedeutet Sicherheit für Europa“, sagte er.

Für einen Sieg sind Selenskyj und die Ukraine allerdings weiter auf internationale Hilfe angewiesen. Und die schwindet – auch wegen des Gaza-Krieges, der viel Aufmerksamkeit der USA und anderer Verbündeter von der Ukraine abzieht. Auch die US-Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr legt sich bereits jetzt wie ein Schatten über die Unterstützung im Krieg. Anhänger des ins Amt strebenden Ex-Präsidenten Donald Trump unter den Republikanern blockieren die neuen, dringend im Abwehrkampf benötigten finanziellen und militärischen Hilfspakete für das Land.

Wolodymyr Selenskyj bei einem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden im September im Weißen Haus in Washington. Niemand kann die USA in der militärischen Unterstützung der Ukraine ersetzen.
Wolodymyr Selenskyj bei einem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden im September im Weißen Haus in Washington. Niemand kann die USA in der militärischen Unterstützung der Ukraine ersetzen. © AP

Die Europäische Union soll einspringen, kann aber die USA bisher weder bei der Munitionslieferung noch beim Geld ersetzen. Dem Präsidenten bereitet das Sorgen. Hinzu kommen Probleme im eigenen Land, etwa beim Kampf gegen die Korruption, bei der Gewährleistung der Energiesicherheit im Winter und bei der Mobilisierung von Soldaten für den Krieg.

Gefahr heruntergespielt

Noch 2022 kürte das US-amerikanische Time-Magazin Selenskyj zur Person des Jahres. Inzwischen bescheinigen ihm frühere Weggefährten Selbstherrlichkeit, Beratungsresistenz und einen autoritären Führungsstil. In der Ukraine entstehe unter Selenskyj keineswegs eine „offene liberale Gesellschaft nach amerikanischem Vorbild“, sagte unlängst der Ex-Berater im Präsidentenbüro, Olexij Arestowytsch. Vielmehr ähnele sie einem mit US-Waffen vollgepumpten „ultranationalistischen Staat“.

Im Herbst 2023 fand im politischen Kiew die Time-Titelgeschichte „Der einsame Kampf von Wolodymyr Selenskyj“ besonders viel Beachtung. Die Recherche legte den wachsenden Unmut über den Präsidenten in dessen Umfeld offen – und attestierte dem früheren Schauspieler Realitätsverlust, das Leben in einer Scheinwelt. Selenskyj fühle sich verraten vom Westen, der nicht genug Waffen gebe, um den Krieg zu gewinnen; er gebe nur so viel, damit das Land überlebe, hieß es.

Über Kritik an Selenskyj ist in Kiews Medien nur wenig zu vernehmen, sie demonstrieren Geschlossenheit und fügen sich der Kriegszensur. Dabei sind die Klagen über den Staatschef längst im Alltag zu hören. Viele Ukrainer kritisieren bis heute, Selenskyj habe die Gefahr eines Krieges vor Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar 2022 heruntergespielt und auch schon vorher nichts für ein starkes Militär getan. Er habe die Menschen trotz US-Warnungen vor Moskaus Invasion ins offene Messer laufen lassen.

Fortsetzung der Kampfhandlungen

Vor dem zweiten Jahrestag des von Russlands Präsidenten Wladimir Putin losgetretenen Krieges besteht Selenskyj weiter auf der Umsetzung seiner „Friedensformel“. Ihr Kern ist die Forderung nach einem kompletten russischen Truppenabzug aus der Ukraine. Moskau lehnt dies als „unrealistisch“ ab. Auch deshalb stellen sich Kiew und Moskau auf eine Fortsetzung der Kampfhandlungen 2024 ein.

Kritik an seiner Kriegsführung lässt Selenskyj nicht gelten. Das zeigte er zuletzt, als er den Oberkommandierenden der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, zurechtwies. Saluschnyj werden politische Ambitionen nachgesagt. In Kiew heißt es, der Kampf um die Macht sei in dem in die EU und in die Nato strebenden Land schon wieder voll im Gange. Nicht nur Saluschnyj, sondern auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, der Selenskyj Fehler und Lügen vorwarf, könnten dem Präsidenten bei einer Wahl gefährlich werden. Doch die eigentlich für Anfang März geplante Präsidentenwahl fällt wegen des weiter geltenden Kriegsrechts aus.

Der Glaube an den Sieg über Russland und die Rückkehr zu den Grenzen von 1991 scheint indes unter den Ukrainern mit fast 70 Prozent weiter ungebrochen zu sein, wie Umfragen zeigen. Einen freiwilligen Verzicht auf Gebiete lehnen sie ab.

Umfragewerte sinken

Nach den Erfolgen von Kiews Truppen im vorigen Jahr ist aber die Euphorie bei einigen verflogen. Rund ein Drittel der Bevölkerung sieht mehreren Befragungen zufolge die Dinge in der Ukraine sich in eine falsche Richtung entwickeln. Selenskyj etwa ließ Fernsehsender schließen; er entzog unliebsamen Landsleuten die Staatsbürgerschaft. Das Kriegsrecht gibt ihm zudem Instrumente in die Hand, die sich nicht nur gegen den russlandfreundlichen Teil der Opposition richten. Das Demonstrationsrecht ist eingeschränkt. Parlamentsdebatten laufen unter Verweis auf die Sicherheit hinter verschlossenen Türen ab.

„Von einer Ausgewogenheit der Gedanken und Meinungsfreiheit kann keine Rede sein“, beklagte die Parlamentsabgeordnete Iryna Heraschtschenko bei Telegram. Die Vertreter der zweitgrößten Parlamentsfraktion der Partei Europäische Solidarität des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko seien mit vier Prozent im Fernsehen unterrepräsentiert, sagte sie. Auch westliche Unterstützer mahnen Kiew im Hintergrund, wieder mehr Medienfreiheit zuzulassen.

Laut Meinungsforschern färbt all das nicht zuletzt auf die Zustimmungswerte für Selenskyj ab. Die Unterstützung für seine Politik lag laut Umfragen im September bei 42 Prozent – nach 74 Prozent im April 2022, als die Ukraine den ersten Rückzug russischer Truppen bei Kiew erlebte.

Mobilmachung neuer Soldaten

Der Chef von Selenskyjs Präsidentenbüro, Andrij Jermak, der als graue Eminenz in Kiew gilt, erwartet, dass 2024 zum „entscheidenden Jahr“ für die Ukraine wird. „Der Wendepunkt des Krieges nähert sich“, unterstrich er in einem Interview des TV-Senders 1+1. Jermak verglich den Krieg zuletzt mehrfach mit einem 100-Meter-Lauf, bei dem schon 70 Meter zurückgelegt seien. Die letzten Meter seien aber die schwersten, räumte er ein.

Dagegen hat sich Russland längst auf einen Marathon eingestellt, den es um jeden Preis gewinnen will. Das Portal „Politico“ erinnerte kürzlich aber auch daran, dass Selenskyj schon bei Kriegsausbruch nicht weggelaufen sei und auch das Zeug zum „Marathonläufer“ habe.

Die Mobilmachung neuer Soldaten für den Kampf gegen die russische Invasion stellt den ukrainischen Präsidenten jedoch vor ein großes Problem. „Die Frage der Mobilisierung ist eine sehr sensible“, sagt Selenskyj. Schon seit Monaten fordern die Kommandeure seiner mit westlichen Waffen ausgerüsteten Streitkräfte mehr Personal für den Fronteinsatz.

Von einem Bedarf von 450.000 bis 500.000 zusätzlichen Soldaten ist die Rede. Aber neben den Kosten gibt es auch ein Motivationsproblem. Trotzdem hat die Regierung nun neue Gesetzesvorschläge in das Parlament eingebracht, um mehr Männer zum Kriegsdienst einzuziehen.

1.000 Kilometer lange Front

Zu Tausenden versuchen derweil Männer, sich dem tödlichen Einsatz an der Front durch Flucht ins Ausland zu entziehen. Die Kontrollen an den Grenzen sind streng, Beamte durchsuchen Autos und reißen Verkleidungen in Zügen auf. Immer wieder werden auch an der grünen Grenze Männer aufgegriffen. Bekannt sind zudem viele Fälle, in denen sich Wehrpflichtige in Musterungsstellen mit Schmiergeldern vom Dienst freikaufen.

In der Armee und bei den daheim wartenden Familien wird diskutiert, welche Soldaten wann das Recht auf Ablösung und Heimaturlaub bekommen sollten. Wenn es um eine Mobilisierung gehe, müsse auch der Prozess der Demobilisierung genau geklärt werden, sagte Selenskyj bei seiner Jahrespressekonferenz. Von den über 800.000 ukrainischen Soldaten in den Streitkräften sollen rund 300.000 unmittelbar an der fast 1.000 Kilometer langen Front im Einsatz sein.

Sichtbar wird die verzweifelte Suche nach neuen Soldaten in der Ukraine auf Märkten, in Einkaufszentren, Restaurants, Fitnessstudios oder in Kurbädern. Oft rücken teils schwerbewaffnete Militärs an und versuchen, Männer zur Musterung mitzunehmen. Nach Berichten über miserable Einberufungsziffern, systematischen Freikauf vom Wehrdienst und korrupte Chefs der Einberufungsstellen entließ Selenskyj im August alle Regionalchefs der Kreiswehrersatzämter. Doch die Mobilisierungszahlen brachen noch weiter ein.

Wichtigste Aufgaben für 2024

Angesichts der schwierigen Situation sieht sich die Regierung zu unpopulären Schritten gezwungen. Für den leichteren Zugriff auf mehr als 400.000 junge Männer soll das Reservistenalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt werden. Zudem wurden die Kriterien für die Diensttauglichkeit aufgeweicht – Männer mit nur einem Arm oder einem amputierten Unterschenkel gelten demnach als bedingt diensttauglich. Auch die Einberufung von Frauen steht zur Diskussion. Selenskyj lehnt eine Gesetzesänderung dazu jedoch bisher ab. Mehr als fünf Prozent oder rund 43.000 Angehörige der Streitkräfte sind Frauen, davon über 5.000 unmittelbar an der Front.

So soll nun der Beginn des Reservistenalters von 27 auf 25 herabgesetzt werden. Bereits ausgestellte Wehrdienstuntauglichkeiten sollen erneut überprüft werden, Musterungs- und Einberufungsbescheide könnten zukünftig auch unabhängig vom realen Aufenthaltsort elektronisch und nicht wie bisher nur in Papierform an die Meldeadresse zugestellt werden. Damit wären auch Männer im Ausland erreichbar.

Für Selenskyj reichen die wichtigsten Aufgaben für das Jahr 2024 von der Besorgung weiterer Waffen über engere Anbindung des Landes an Nato und EU bis hin zu Hilfe aus dem Ausland für die ukrainische Rüstungsindustrie. „Wir müssen die Gesellschaften überzeugen – so wie wir es gleich zu Beginn des Krieges geschafft haben, uns um die Ukraine zu scharen“, sagte er. „Wir brauchen mehr Waffen, denn niemand wird kapitulieren“, stellte Selenskyj fest.

Zum Jahresende verwies er auf abgewehrte Angriffe entlang der Front. „Russland hat in diesem Jahr keine Erfolge erzielt“, sagte er. Das ostukrainische Gebiet Donezk zum Beispiel habe Moskau weiter nicht komplett erobern können. Stattdessen habe die Ukraine die Kontrolle über das westliche Schwarze Meer weitgehend wiederhergestellt.

Die Ukraine ist bei der Verteidigung gegen die russische Invasion zu großen Teilen auf die Militär- und Finanzhilfe westlicher Partner angewiesen. Wichtigster Verbündeter sind die USA. Aus Kiewer Sicht ist es deshalb äußerst besorgniserregend, dass die Freigabe weiterer Mittel durch das US-Parlament derzeit durch einen Streit zwischen Republikanern und Demokraten blockiert wird. (dpa)