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Wladimir Putin - ein Meister der Verklärung

Vor Beginn des dritten Jahres seines Krieges gegen die Ukraine sieht sich Kremlchef Wladimir Putin auf der Siegerspur. 2024 will er für sich zum Jahr des Triumphes machen.

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Russlands Präsident Wladimir Putin während seiner jährlichen Pressekonferenz im Dezember.
Russlands Präsident Wladimir Putin während seiner jährlichen Pressekonferenz im Dezember. © Pool Sputnik Kremlin/AP

Der Schmerz der Eltern von Vera Pechtelewas ist für Außenstehende kaum vorstellbar. Vor knapp vier Jahren wurde ihre damals 23 Jahre alte Tochter von ihrem Ex-Partner brutal misshandelt, vergewaltigt und schließlich getötet. Für die Tat wurde der Mann aus der sibirischen Stadt Kemerowo zu 17 Jahren Straflager verurteilt. Doch da sitzt er nicht mehr. Veras Mörder ist bereits vor Monaten begnadigt worden, damit er als Soldat in Russlands Krieg gegen die Ukraine ziehen kann. Besiegelt wurde seine Haftentlassung durch ein Dekret von Kremlchef Wladimir Putin höchstpersönlich. Die Schmerzensgeld-Zahlungen des Mörders an Veras Familie sollen für die Dauer seines Kampfeinsatzes ausgesetzt werden.

Das Verbrechen hatte im Jahr 2020 Menschen im ganzen Land schockiert, entsprechend groß ist nun die Aufregung über die Freilassung des Mörders. Ein Einzelfall aber ist das nicht. „Wir waren schockiert. Wie kann so etwas sein?“, fragte Veras Mutter Oxana Pechtelewa in einem Interview des unabhängigen Portals „Bereg“. „Ich bin nicht alleine. Glauben Sie mir, es gibt mindestens Hunderte solcher Mütter.“

Seit fast zwei Jahren führt Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Kämpfe sind auf beiden Seiten äußerst verlustreich. Durch eine Mobilisierungswelle hat Putin im vorigen Jahr Hunderttausende Männer für die Front einziehen lassen, die Armee wirbt beständig um Freiwillige. Gelockt werden sie zum Kriegsdienst mit einem vergleichsweise hohen Sold von umgerechnet rund 2.000 Euro im Monat. Doch offenbar reicht all das nicht. Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu sprach zuletzt davon, dass die Zahl der Freiwilligen in diesem Jahr um mehr als 250.000 auf rund 745.000 Vertragssoldaten steigen solle.

Büßen auf dem Schlachtfeld

Im Juni wurde auch die Anwerbung von verurteilten Straftätern durch die russische Armee legalisiert. Der Kreml rechtfertigt das damit, dass die Männer für ihre Verbrechen „mit Blut auf dem Schlachtfeld büßen“. Wie viele Häftlinge auf diesem Weg die Gefängnisse bereits vorzeitig verlassen haben, darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen.

Zwar gibt es auch in Russland Kriegsmüdigkeit. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada erfasst in Umfragen den wachsenden Wunsch nach Friedensverhandlungen. In Sicht ist das aber nicht. Verbreitet ist vielmehr die Befürchtung, dass Putin den Einsatz in seinem Krieg gegen die Ukraine noch einmal deutlich erhöht – auch mit einer unpopulären weiteren Mobilmachung.

Zerstörung in Kiew: Autowracks stehen neben Wohngebäuden nach einem russischen Raketenangriff zum Jahreswechsel.
Zerstörung in Kiew: Autowracks stehen neben Wohngebäuden nach einem russischen Raketenangriff zum Jahreswechsel. © Ukrinform

Am vergangenen Freitag begann die schwerste russische Angriffswelle gegen die Ukraine seit Kriegsbeginn. Dabei waren ukrainischen Angaben zufolge mehr als 45 Menschen ums Leben gekommen – auch deshalb, weil vielerorts Wohngebiete unter Beschuss gerieten. Bei einem Treffen mit verletzten russischen Soldaten am Neujahrstag in einem Moskauer Militärkrankenhaus kündigte Putin weitere Angriffe an. Dabei wiederholte er die gängige russische Propagandabehauptung, die eigene Armee ziele in der Ukraine angeblich nur auf militärische Objekte.

Die sichtbare Anspannung der ersten Kriegstage ist von Wladimir Putin nach fast zwei Jahren seiner blutigen Invasion in der Ukraine abgefallen. Über die Zehntausenden Toten seines Feldzugs schweigt der Kremlchef. Längst hat der 71-Jährige seinen Überfall auf das Nachbarland zu einem Krieg gegen den Westen und gegen die Nato umgedeutet. Mit seinem „Kampf gegen den äußeren Feind“ hat er viele Russen auf seine Seite gezogen. 2024 will Putin, der seit fast einem Vierteljahrhundert an der Macht ist, für sich zum Jahr des Triumphes machen.

„Der Frieden wird kommen, wenn wir unsere Ziele erreicht haben“, sagte Putin selbstsicher bei seiner großen Jahrespressekonferenz im Dezember. Ein Sieg für ihn wäre etwa der Verzicht der Ukraine auf den Nato-Beitritt. Nach vielen Niederlagen im ersten Kriegsjahr sieht Putin die Initiative nun wieder bei seiner Armee. Moskau meldet Eroberungen im Donbass, frohlockt, dass die Hilfe des Westens weiter bröckelt und der Ukraine die Soldaten ausgehen.

Keine großen Versprechen

Zum Jahreswechsel häuften sich die Bilanzen zu Putins Dauerherrschaft – im August dieses Jahres wird es 25 Jahre her sein, dass er als Regierungschef unter dem geschwächten Präsidenten Boris Jelzin die Macht und wenig später selbst im Kreml dessen Posten übernahm. Der überwiegende Tenor ist, dass sich Putin nach einer Phase der Schwäche durch die militärischen Niederlagen inzwischen wieder gefangen und zu neuer Stärke gefunden habe.

Nach dem gescheiterten Aufstand der Privatarmee Wagner gegen Moskaus Militärführung und dem tödlichen Flugzeugabsturz des im Kreml in Ungnade gefallenen Söldnerchefs Jewgeni Prigoschin ist weitgehend Ruhe eingekehrt im Land. Die Politologin Tatjana Stanowaja bemerkte, dass Putin in seiner Jahrespressekonferenz diesmal gar keine großen Versprechen gegeben oder Wahlgeschenke verteilt habe. „Der russische Führer hat nicht das Gefühl, für die Sympathien des Volkes kämpfen zu müssen – das Volk steht auch so auf seiner Seite“, sagte sie.

Die Pläne des Westens, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen oder das Land auf der Weltbühne zu isolieren, seien fehlgeschlagen, tönte Putin unlängst. Selbstbewusst wirbt der Kremlchef, dem Kritiker einen zunehmend totalitären Kurs vorwerfen, für eine neue Weltordnung, die aus seiner Sicht bereits entsteht.

Eine neue multipolare Welt – ohne Vormachtstellung der USA – will Putin erreichen. Dabei ist seine eigene Reisefreiheit begrenzt, weil der Internationale Strafgerichtshof gegen ihn wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine Haftbefehl erlassen hat. Aber der Kremlchef kommt als Erbauer eines neuen starken Russlands, das sich selbst genug ist und bisweilen mit seinen Atomwaffen droht, bei vielen Menschen im Land an.

Ukraine näher an Nato

Zwar erklärt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg selbstbewusst, Russland könne seine Kriegsziele in der Ukraine trotz aller militärischer Anstrengungen nicht mehr erreichen. Der Zweck der Invasion sei es gewesen, zu verhindern, dass die Ukraine sich in Richtung Nato und EU bewegt, sagte er in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur zum Jahreswechsel.

Nach fast zwei Jahren Krieg sei die Ukraine nun aber näher an der Nato und der EU als je zuvor. „Präsident Putin hat die Ukraine für immer verloren“, so Stoltenberg. Gleichzeitig warnte er davor, auf ein schnelles Kriegsende zu setzen. „Wir haben keine Anzeichen dafür, dass Putin seine Ziele und seine Politik ändern wird. Er wird weiter versuchen, mehr Gebiete zu besetzen.“

Der Präsident, der den Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 selber befohlen hat, wirft den USA immer wieder vor, den Konflikt in der Ukraine bis zu einem Krieg getrieben zu haben. Es sei dem Westen stets nur darum gegangen, das Land als Instrument zur Zerstörung Russlands zu benutzen, behauptete er. Zugleich räumt er inzwischen ein, dass der Krieg gegen die Ukraine Probleme in der russischen Verteidigung aufgezeigt habe. So brauche Russland mehr Drohnen, eine bessere Flugabwehr und ein modernes Satellitenkommunikationssystem.

Russlands Bedingungen

Die russischen Truppen sind weit hinter den Kriegszielen des Kremls zurückgeblieben und haben Experten zufolge massive Verluste erlitten. Russlands Armee hält derzeit rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets besetzt und hat inklusive der bereits 2014 einverleibten Halbinsel Krim insgesamt fünf ukrainische Gebiete völkerrechtswidrig annektiert. Eine ukrainische Gegenoffensive, die eine Befreiung aller besetzten Gebiete anstrebt, hat voriges Jahr nur kleinere Geländegewinne gebracht.

Verhandlungen mit der Ukraine, das machte der Kreml immer wieder deutlich, gibt es nur zu Russlands Bedingungen. Dies würde auf eine Kapitulation Kiews hinauslaufen. Putin gibt offen zu, es gehe ihm um die Sammlung historischer russischer Gebiete – um den Schutz der russischen Sprache und Kultur. Vor Militärs betonte er zum Jahresende zudem, er habe kein Interesse am Westen der Ukraine, den früheren polnischen Gebieten, die einst Sowjetdiktator Josef Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg Kiew zugeschlagen habe.

Allerdings sprach Putin zuletzt immer wieder davon, dass etwa die Schwarzmeermetropole Odessa im Süden der Ukraine eine „russische Stadt“ sei. Russland interessiere dort nur „seine“ früheren Gebiete, meinte Putin. Russland sei lange Zeit Garant gewesen für die territoriale Unversehrtheit der Ukraine. Wegen deren Strebens in die Nato und des antirussischen Nationalismus in Kiews Führung sei das aber ein für alle Mal vorbei.

Hochtourige Kriegswirtschaft

Selbst westliche Experten räumen ein, dass Moskau dem Druck der Sanktionen von EU, USA und anderen Staaten bisher besser standgehalten habe als von vielen erwartet. Eigentlich sollten die Strafmaßnahmen der russischen Regierung den wirtschaftlichen Boden für die Invasion entziehen. Doch die Rohstoffgroßmacht hält mit den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft mit China und Indien seine Kriegswirtschaft am Laufen. Nicht wenige Staaten helfen Russland zudem dabei, Sanktionen zu umgehen und begehrte Waren doch in das Land zu bekommen.

Russland kann auf ein Wirtschaftswachstum von über drei Prozent im Jahr 2023 verweisen. Auch wenn Ökonomen kritisieren, es handele sich nur um künstliche Ergebnisse einer hochtourigen Kriegswirtschaft, die Staatsvermögen verbrennt – Putin kann positive Nachrichten verkünden.

Der russische Experte der US-Denkfabrik Carnegie, Andrej Kolesnikow, sieht insgesamt eine „zerbrechliche Stabilität“ im Land. Niedriger Arbeitslosigkeit steht ein extremer Fachkräftemangel gegenüber – viele Männer müssen im Krieg kämpfen oder sind aus Angst vor einem Fronteinsatz mit ihren Familien ins Ausland geflohen. Lohn- und Rentenerhöhungen verpufften vielfach an den gestiegenen Preisen der Lebenshaltung. Weil viele begehrte Waren für harte westliche Währung eingekauft werden müssen, ist der Wert des Rubels zudem anhaltend schwach. Die Kaufkraft sinkt ständig.

Armut, Angst und Perspektivlosigkeit

Viele Russen beklagen Armut, Angst und Perspektivlosigkeit. Trotz allem, das zeigen Umfragen, trauen die meisten Menschen vor allem Putin zu, die vielen Probleme zu lösen. Zur Präsidentenwahl am 17. März ist niemand in Sicht, der dem Kremlchef gefährlich werden könnte. Putin hatte 2020 eigens die Verfassung ändern lassen, um weiter bei Wahlen antreten zu können. Sechs Jahre beträgt die Amtszeit. Er könnte nach 2024 auch 2030 wieder antreten – und dann bis ins Jahr 2036 regieren.

Als früherer Geheimdienstchef gilt Putin als Meister der Verklärung. Er betont, Russland stärke heute seine Verteidigungskraft und damit die eigene Souveränität – nachdem die „militärische Spezialoperation“, wie Putin seinen Krieg meist nennt, Schwächen offengelegt habe.

Putins Zustimmungswerte sind derzeit deutlich höher als noch vor dem Krieg, als viele Menschen Stagnation beklagten. „Das Grundmotiv, die Spezialoperation zu beginnen, war der Machterhalt“, sagt Kolesnikow. Dabei hätte der Kremlchef seinen Worten nach mit dem System aus Angst und Autoritarismus auch ohne die Invasion die Wahl für sich entscheiden können. Das politische Feld ist geräumt. Echte Gegner werden zum Urnengang gar nicht zugelassen.

Alexej Nawalny, russischer Oppositionspolitiker, wird in einem Gerichtssaal per Videoverbindung aus dem Gefängnis zugeschaltet und ist auf einem Bildschirm zu sehen.
Alexej Nawalny, russischer Oppositionspolitiker, wird in einem Gerichtssaal per Videoverbindung aus dem Gefängnis zugeschaltet und ist auf einem Bildschirm zu sehen. © AP

Kein Beispiel zeigt das so gut wie der Kremlkritiker Alexej Nawalny. Putin hat seinen Gegner in das wegen seiner rauen Haftbedingungen berüchtigte Straflager „Polarwolf“ in Nordsibirien – mehr als 2.000 Kilometer vom Machtzentrum entfernt – einsperren lassen. Dennoch will Nawalny, der 2020 Putin für einen Mordanschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok auf ihn verantwortlich machte, nicht aufgeben. Er ruft zum Kampf gegen den Machtapparat auf, der von mafiösen und korrupten Strukturen geprägt sei und auf Repressionen fuße. Nawalnys Team, das massive Wahlfälschung erwartet, startete dazu die Kampagne „Russland ohne Putin“. Die Wähler sind aufgerufen, für jeden beliebigen Kandidaten zu stimmen – nur nicht für Putin.

Die Erfolgsaussichten dieser Protestwahl dürften gering sein. Zum einen schwören einige Kandidaten selbst schon Putin offen die Treue. Zum anderen verzichtet diesmal zum Entsetzen vieler prowestlicher Russen etwa der Gründer der liberalen Oppositionspartei Jabloko, Grigori Jawlinski, auf eine Kandidatur. Er ist einer der wenigen prominenten Oppositionellen, die noch in Freiheit sind, Putins Krieg offen kritisieren und zum Waffenstillstand aufrufen.

„Es ist sinnlos, Statist in diesem Zirkus zu sein“, sagt Jawlinski zu seiner persönlichen Entscheidung. „Es gibt ein System der Angst, die Menschen fürchten doch schon vor der Wahl, ihre Personalien allein bei der Sammlung von Unterstützungsunterschriften preiszugeben. Das ist keine Wahl, sondern eine Volksabstimmung über Putin.“ (dpa)