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Ukrainer in Sachsen: "Habe mein ganzes Leben in eine Tasche gepackt"

Daria Dudarenko flieht kurz nach Beginn des Ukrainekrieges aus einem Vorort Kiews nach Dresden. Wie durch ein Wunder überlebt fast die gesamte Familie die brutalen Angriffe.

Von Dominique Bielmeier
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Daria Dudarenko, hier im Großen Garten, hat in Dresden ein zweites Zuhause gefunden. Sie und ihre Familie mussten mit als erste aus der Ukraine fliehen.
Daria Dudarenko, hier im Großen Garten, hat in Dresden ein zweites Zuhause gefunden. Sie und ihre Familie mussten mit als erste aus der Ukraine fliehen. © Jürgen Lösel

Dresden. Vielleicht denkt Daria Dudarenko, wenn sie im Großen Garten spazieren geht, manchmal an das viele Grün in und um Irpin. Vielleicht erinnert die Elbe sie an diesen anderen Fluss, der heißt wie die Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Selbst Dresdens Plattenbauten würden im Zentrum des zehnmal kleineren Vororts von Kiew nicht fehl am Platz wirken.

Bevor Irpin zusammen mit Butscha zum Symbol für die Grausamkeiten des russischen Angriffskrieges wurde, war die Stadt einfach Darias Heimat. Dort ist die 29-Jährige aufgewachsen, hat Grafikdesign studiert, als Immobilienmaklerin gearbeitet. Dort lebte sie mit ihrer Mutter, ihrem Vater, der Familie ihrer Schwester, zwei Hunden, einer Katze und ein paar Hühnern. Ihre Nichten Valeria und Viktoriia waren acht Monate und acht Jahre alt, als Daria in einer Nacht Ende Februar vom Geräusch von Raketen geweckt wurde.

Es gibt einen Satz, den man oft von Ukrainern hört: Der 24. Februar 2022 hat mein Leben in zwei Teile geteilt. Eines vor dem Krieg und eines nach dem Krieg. Auch Daria sagt ihn, ihre Freundin Olga Samoilenko übersetzt für sie ins Deutsche. Sie arbeitet als Lehrerin in Dresden, lebt seit ihrer Kindheit in Deutschland.

Irpin wird zum Symbol des Durchhaltewillens

Die beiden Frauen sitzen an einem kleinen Schreibtisch in der Ecke eines hellen Zimmers. Darauf steht ein Strauß mit roten Gerberas und Gänseblümchen, daneben ein Teller mit bunt verpackten ukrainischen Süßigkeiten. An der Wand gegenüber steht ein großes Bett. Der Raum ist Wohn- und Schlafzimmer zugleich. Im Nebenzimmer wohnt Darias Cousine Nina.

Zwei Jahre ist der Bruch in ihrem Leben her, aber noch heute hat Daria jedes Datum parat. Am 16. März 2022 kommt sie nach Deutschland, 20 Tage nach dem Beginn des Überfalls. 20 Tage, über die sie noch so viel mehr erzählen könnte. Wenn sie spricht, treten ihr manchmal Tränen in die Augen, manchmal muss sie lachen und immer wieder zeigt sie Fotos auf ihrem Handy: ihr Vater mit seiner Enkelin Viktoriia im nassen Keller oder der Stau, als die Menschen aus Irpin fliehen. Ihre Geschichte ist eine von Schrecken und Hoffnung zugleich.

Luftaufnahme eines durch russischen Beschuss zerstörten Wohngebiets in Irpin am 21. Mai 2022.
Luftaufnahme eines durch russischen Beschuss zerstörten Wohngebiets in Irpin am 21. Mai 2022. © dpa/AP/Efrem Lukatsky

Zwei Tage lang glaubt Daria damals, dass der Krieg diplomatisch beendet werden könnte. Da verlassen die Nachbarn schon mit allem, was sie fassen können, die Stadt. Als die Einschläge näher kommen, ziehen die Menschen in ihre Keller. Darias Familie bietet den Nachbarn Unterschlupf, darunter einer 83-Jährigen, die schon den Zweiten Weltkrieg erleben musste. Tagsüber legt die Frau sich in ihre Badewanne. Es heißt, dass man bei einem Treffer dort am sichersten sei, weil das Bad tragende Wände habe.

Die Menschen werden kreativ in ihrer Abwehr, schrauben Straßenschilder ab, damit die angreifenden Soldaten sich verirren. Irgendwann sprengt das ukrainische Militär die große Brücke nach Kiew, damit die Russen nicht weiterkommen. Die Bilder gehen um die Welt. Irpin wird auch zum Symbol des Durchhaltewillens.

"An diesem Tag habe ich mein ganzes Leben in eine Tasche gepackt"

Auch Darias Familie hält lange in ihrem Haus durch, die Frauen wollen nicht von ihren Männern getrennt werden, die geliebten Tiere sollen nicht alleine zurückbleiben. Irgendwann schlafen sie in ihrer Kleidung, neben sich eine gepackte Tasche, um jederzeit fliehen zu können.

Anfang März 2022 wollen auch Daria und ihre Schwester mit den Kindern die Stadt verlassen, der Plan ist, mit dem Zug nach Lwiw in den Westen der Ukraine zu fahren, dort haben sie Verwandte. Es ist eine der ersten Evakuierungsaktionen. Olga übersetzt: "An diesem Tag habe ich mein ganzes Leben in eine Tasche gepackt."

Züge, die zwischen Irpin und Kiew pendeln, bringen Frauen und Kinder aus der Stadt. Weil Männer sich auf die Schienen gesetzt hatten, um auch mitgenommen zu werden, haben sie enorme Verspätung. Eine gefährliche Situation für alle, die am Bahnhof warten. "Das sind ja strategische Angriffspunkte", sagt Olga.

Und dann wird Daria von ihrer Schwester getrennt. In der ersten Fluchtwelle werden fast nur Frauen mit kleinen Kindern mitgenommen, also fahren die Schwester und das Baby vor. Daria und ihre achtjährige Nichte bleiben zurück. Sie sieht, wie verzweifelte Mütter ihre Kinder in ein Abteil heben und es dann selbst nicht mehr in den Zug schaffen, bevor er abfährt. "Man wusste, die Einschläge kommen näher", sagt Olga. "Die Menschen wollten sich so schnell wie möglich retten."

Irpin nach dem Abzug der russischen Truppen aus der Region am 6. April 2022. Hunderte Freiwillige treffen sich, um gemeinsam ihre Stadt wieder aufzuräumen.
Irpin nach dem Abzug der russischen Truppen aus der Region am 6. April 2022. Hunderte Freiwillige treffen sich, um gemeinsam ihre Stadt wieder aufzuräumen. © xcitepress

Nachdem die Schwester abgefahren ist, fallen die ersten Bomben direkt um den Bahnhof herum. Daria zeigt ein Foto, auf dem man Gleise und nicht weit entfernt eine dunkle Rauchwolke aufsteigen sieht. Der Zugführer weigert sich, noch länger zu fahren, die Menschen am Bahnhof, Daria und ihre Nichte sitzen fest. Viele retten sich nun in Schutzkeller, doch die sind weit weg. Ein Bekannter, den Daria trifft, rät ihr, sich an die Soldaten vor Ort zu halten. Auch der Bürgermeister ist am Bahnhof und sagt: Wir bleiben hier, gleich kommt ein Zug.

Es dauert eine Stunde, vielleicht anderthalb bis er tatsächlich kommt. Der Zugführer konnte überzeugt werden, weiterzufahren. So viele Menschen wie möglich werden hineingequetscht, die Kinder buchstäblich übereinandergestapelt. "Sie wussten, es würde einer der letzten Züge für die nächste Zeit sein", sagt Olga. Am folgenden Tag wird ein Teil der Strecke getroffen. Die Eisenbahnbrücke nach Kiew ist zerstört.

In der Hauptstadt werden die Schwestern wieder vereint und schaffen es diesmal dank Überzeugungskraft zu viert in den Zug nach Lwiw. Elf Stunden dauert die Fahrt, dann sind sie endlich in Sicherheit.

"Sie dachten, dass sie Irpin und Kiew so schnell wie möglich erobern"

Vom 5. bis zum 12. März 2022 lebt Daria in Lwiw. Doch sie begreift schnell, dass es für sie dort auf Dauer nichts zu holen gibt, höchstens Aushilfsjobs in Bäckereien, um ein wenig dazuzuverdienen. Und ihre Schwester hat ihre eigene Familie, sie will kein Klotz am Bein sein.

Nach Dresden kommen Daria und ihre Cousine Nina, die in Kiew lebte, über Olga. Sie hat damals selbst ihre ukrainische Familie und deren Freunde aufgenommen. "Wir haben die erste Zeit zu elft in unserer Wohnung gelebt", erzählt sie. Olgas Verwandte sind mit Nina befreundet und sagen: Kommt doch nach Deutschland. Olga kümmert sich um Wohnungen und als sie auch eine für Daria und Nina gefunden hat, machen diese sich mit dem Auto auf den Weg nach Dresden. Es ist die vorerst letzte Station einer langen Reise.

"Ich kannte sie vorher überhaupt nicht", sagt Olga. Daria kichert. "Meine Verwandten haben nur gesagt: Nina und Dascha kommen. Da habe ich gesagt: Na von mir aus."

Wie durch ein Wunder überlebt fast Darias gesamte Familie. Nur ihr Schwager wacht nach einem Herzinfarkt eines Morgens nicht mehr auf. Darias Mutter flieht zwölf Tage nach ihren Töchtern. Sie nimmt die 83-jährige Nachbarin mit.

Darias Vater harrt noch zehn Tage länger in Irpin aus, er will die Tiere der Familie und die der Nachbarn nicht ihrem Schicksal überlassen. Am 26. März flieht er auf dem Fahrrad. "Eine knappe Kiste, wenn man die Bilder aus Butscha kennt", sagt Olga. Zwei Tage später wird die Stadt befreit. Darias Vater bittet die Soldaten, Futter über den Zaun zu werfen. So überleben auch die Tiere.

Noch Ende Oktober 2023 sieht Irpin so aus.
Noch Ende Oktober 2023 sieht Irpin so aus. © Sebastian Gollnow/dpa (Archiv/Symbolfoto)

Inzwischen sind Darias Eltern zurückgekehrt nach Irpin. Das Haus hatte keine Fenster mehr, war geplündert, das Dach teilweise kaputt – aber es stand noch. Der Schrecken hatte sich bereits wieder in zarte Hoffnung verkehrt.

Schon zu Kriegsbeginn wurden angemietete Lagerräume voller Festkleidung und Lebensmitteln in Irpin entdeckt, übersetzt Olga. Damit wollten die Russen am 9. Mai, dem "Tag des Sieges", feiern. "Sie dachten, dass sie Irpin und Kiew so schnell wie möglich erobern."

Daria will endlich richtig in ihr neues Leben starten

In Dresden besteht Darias Leben nun vor allem aus Deutschlernen. Ende Januar hat sie die Prüfung zum Niveau B1 gemacht. "Ich habe Integrationskurs ...", sie sucht nach dem richtigen Wort, "besuchen?" Von 9 bis 13.15 Uhr dauert der Unterricht jeden Tag, es gibt Hausaufgaben, Vokabeln werden gepaukt. Das falle den Ukrainern nicht leicht, sagt Olga auf Deutsch und Daria nickt. Sie versteht schon viel, aber möchte auch sprechen können wie ihre Freundin. Olga sagt: "Da hast du noch 31 Jahre Zeit."

Es könnte gut sein, dass Daria sich diese Zeit nimmt. Sie möchte in Dresden bleiben, eine Ausbildung machen, für ihren Lebensunterhalt sorgen. 3-D-Design würde sie interessieren. Sie hofft, dass ihre Abschlüsse anerkannt werden. Man spürt ihr die Ungeduld an – sie möchte ihr Leben "danach" endlich wirklich beginnen.

Fühlt Daria sich bereits angekommen in Dresden? Sie antwortet mit einem einzigen Satz auf Ukrainisch: Tse vzhe druhyy dim. Es ist bereits ein zweites Zuhause.