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Ein Jahr Ukraine-Krieg: So geht es Geflüchteten in Sachsen

Vor einem Jahr fielen die ersten russischen Bomben auf die Ukraine. Ein Drittel der Bevölkerung floh vor dem Krieg, auch in Sachsen fanden viele Sicherheit. Sechs Schicksale zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Von Henry Berndt & Franziska Klemenz
 15 Min.
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Viele Ukrainerinnen in Sachsen kennen sich durch Natalja Bock (M.), die vor 25 Jahren herzog. Auch Elena Zhurbenko (l.) und Maryna Kuraptseva half sie.
Viele Ukrainerinnen in Sachsen kennen sich durch Natalja Bock (M.), die vor 25 Jahren herzog. Auch Elena Zhurbenko (l.) und Maryna Kuraptseva half sie. © Ronald Bonß

Vor genau einem Jahr begann der russische Angriff auf die Ukraine. Fast 60.000 Kriegsflüchtlinge haben seither in Sachsen Zuflucht gefunden. So wie diese Frauen, die über ihr Schicksal, ihre Ängste und Hoffnungen berichten.

Trubetska Liubov: "Ich vermisse den Geruch der Ukraine"

Trubetska Liubov malt fast nicht mehr. "Krieg war für mich immer etwas Abstraktes. Etwas aus den Geschichtsbüchern, aus dem Leben meiner Großeltern, etwas, das manchmal das Fernsehen zeigte." Als der Krieg konkrete Zerrbilder in ihre Heimat riss, erstarrten die Hände von Trubetska Liubov. "Jetzt kommt der Wunsch zu malen zurück. Ich glaube, ich bin fast so weit."

Trubetska Liubov ist in Sicherheit. In der Rabryka in Görlitz, einem soziokulturellen Zentrum mit viel Kunst, Konzerten, einer Küche für alle, findet die 34-Jährige in ihre Leidenschaft, die Malerei zurück. An diesem Nachmittag im Februar ziehen Nieseltropfen ihre Fäden über Fenster. Im Hintergrund des Meetingraums blubbert ein Aquarium, Putzerfische drücken ihre Schlünde an der Scheibe platt. Trubetska Liubov gibt Kindern in der Rabryka Kunstkurse. "Sie machen oft so tolle Sachen, haben große Talente, schaffen Meisterwerke, zu denen Erwachsene nicht fähig wären."15 Jahre hat die studierte Designerin in der Ukraine Kunst gelehrt und geschaffen. In Kirchen, Häusern, Studios. Sie scrollt durch ihr Handy, zeigt ein barockes Deckengemälde mit viel Rosa und Hellblau. "Unsere Abgeordneten lieben diesen Stil. Viel Gold, große Flächen."

Trubetska Liubov hat im soziokulturellen Zentrum Rabryka in Görlitz einen Ort gefunden, der sie auffängt. Kinder lehrt sie dort das Malen.
Trubetska Liubov hat im soziokulturellen Zentrum Rabryka in Görlitz einen Ort gefunden, der sie auffängt. Kinder lehrt sie dort das Malen. © privat

Als russische Soldaten nach Kiew kamen, beschloss sie, mit ihrer Tochter zu fliehen. Sie landen in Breslau, lernen über Umwege einen kunstbegeisterten Gastgeber aus Görlitz kennen, dessen Familie sie bis heute beherbergt. Trubetska besucht einen Sprachkurs, ihre 14-jährige Tochter die Oberschule. "Unser Gastgeber hat Zimmer für uns bereitet, er hat uns Essen gemacht, war immer so nett", sagt sie. "Vielleicht ist das nicht die richtige Entscheidung und ich müsste eine eigene Wohnung für uns suchen. Aber dafür hatte ich keine Kraft." Gerade eine Woche lebten sie und ihre Tochter in Kiew in einer neuen, aufwendig renovierten Wohnung, als der Krieg begann.

Nachts reisen ihre Gedanken oft zurück. "Ich erinnere mich an einen Traum aus Mariupol. Ich habe geweint und geschrien, meine Tochter ist gekommen." Selbst gesehen hat sie wenig vom Krieg. "Aber ich weiß, was passiert. Mein Leben ist schön, aber mein Herz tut immer weh. Um mein verlorenes Leben. Wir leben, aber es ist nicht unser Leben. Wir wissen nicht, welche Zukunft auf uns zukommt." Im Dezember hat Trubetska Liubov ihre Eltern in der Ukraine besucht. "Ich habe so viel Respekt vor den Menschen, die dort weitermachen."Sie fehlen ihr. "Es sind Menschen, die ich kenne und liebe, nicht nur Freunde, sondern Menschen, die ich vielleicht einmal alle sechs Monate sehe, aber dank ihnen hat sich meine ganze Welt gebildet." Die Kindheitskulisse, ihre Heimatstadt Perejaslaw nahe Kiew, bleibe ewig ein Zuhause. "Ich vermisse den Geruch der Ukraine. Die Geräusche. Ich habe jetzt erst verstanden, wie sehr ich die Ukraine liebe. In Görlitz bin ich zur Patriotin geworden." Gleichzeitig fühlte Trubetska Liubov Sehnsucht, als sie in der Ukraine war. Nach Görlitz. "Es ist schade, dass ich in dieser Situation nach Görlitz gekommen bin und nicht als Touristin. Es ist so eine schöne, gemütliche Stadt." Die Peterskirche, der Fluss, Ballett und Theater.

"Es ist unglaublich, wie viele offene, freundliche und aufrichtige Menschen ich in diesem Jahr getroffen habe", sagt sie. "So unvorstellbar wie der Krieg, die Handlungen und Motive von Menschen, die so viel Böses tun, so unvorstellbar war für mich auch die Hilfe und Unterstützung, die wir erfahren. Ich werde mein ganzes Leben dankbar sein."

Ihr Bild von der Zukunft sieht anders aus als die barocken Gemälde von früher. "Ich habe kein richtiges Bild. Ich weiß, dass ich in Deutschland in meinem Beruf arbeiten will. Ich würde meinen Stil gern weiterentwickeln, moderner malen." Abstrakter. So wie die Zukunft.


Natalia Tverdokhlib: "Ich will nicht für den Rest meines Lebens eine Last sein"

Das Foto könnte eine der vielen symbolischen Gesten in Gelb und Blau sein, die im Laufe des vergangenen Jahres in weiten Teilen der Welt zu sehen waren. Doch das Bild, das zwei Kinder mit einer Ukraine-Flagge in der Hand auf einem Skihang zeigt, ist nicht im Krieg entstanden. Einen Tag, bevor Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angriff, war Natalia Tverdokhlib mit ihrem Mann und den drei Kindern im Skiurlaub in Bukuvel, einem Urlaubsort in den Karpaten. Hier posierten sie mit der Flagge, als noch niemand ahnte, dass Russland wenige Stunden später ihre Heimat bombardieren würde.

Ein Schnappschuss im Winterurlaub, entstanden am 23. Februar 2022 in einem ukrainischen Wintersportort. Am Tag darauf begann der russische Angriff.
Ein Schnappschuss im Winterurlaub, entstanden am 23. Februar 2022 in einem ukrainischen Wintersportort. Am Tag darauf begann der russische Angriff. © privat

Nachdem sie einige Tage ausgeharrt hatten, in der Hoffnung, bald nach Kiew zurückkehren zu können, entschied die Familie, sich stattdessen in Westeuropa in Sicherheit zu bringen. Vater André durfte mit ausreisen, da sie in der Ukraine als kinderreiche Familie gelten. Über Rumänien, Ungarn und Tschechien gelangten sie mit ihrem Auto nach Dresden. Mit dabei hatte Natalia Tverdokhlib nur ihr Urlaubsgepäck. Alles andere war zu Hause geblieben, auch ihre beiden schwarzen Labradore Zeta und Congo, genauso wie Kater Dave.

Eine Woche nach ihrer Ankunft setzte sich die 41-Jährige in den Zug in Richtung Lwiw und holte dort ihre Hunde ab. "Ich dachte nicht darüber nach, ob das riskant war", sagt sie. "Ich konnte sie nicht dort lassen. Sie sind wie Kinder für uns." Als im Herbst klar wurde, dass der Krieg wohl nicht so schnell enden wird, holten sie auch Kater Dave zu sich. Nach einigen vergeblichen Anläufen hat die Familie in Dresden eine Wohnung gefunden, in der Mensch und Tier gemeinsam leben dürfen.

"Sie sind wie Kinder für uns": Die Labradore Zeta und Congo gehören zur Familie.
"Sie sind wie Kinder für uns": Die Labradore Zeta und Congo gehören zur Familie. © privat

Natalia weiß, dass sie nur dieses eine Leben hat und nicht ewig darauf warten kann, dass sich etwas verbessert. Dennoch würde sie gern lieber heute als morgen in ihr Haus in einem Kiewer Vorort zurückkehren, "Um ehrlich zu sein, kann ich mir nicht vorstellen, ein erfolgreicher und glücklicher Teil der deutschen Gesellschaft zu werden", sagt die Mutter, die ihr Geld bis vergangenes Jahr als Fotografin verdiente. "Ich will nicht für den Rest meines Lebens eine Last sein." Daheim hätten sie einen Garten mit Blumen und Bäumen und wunderbare Nachbarn. "Wir träumten davon, ein kleines Lavendelfeld anzulegen."

Ob ihr Leben nach Ende des Krieges einfach da wieder anknüpfen kann? "Die Ukraine wird nie wieder so sein, wie sie einmal war", sagt Natalia. "Ich wünsche mir, dass wir wie Phönix aus der Asche der Trauer, des Verlustes und des Hasses wiedergeboren werden."


Elena Zhurbenko: "Ich glaube, die Erde in Russland wird mir die Füße verbrennen"

Wie geht es Ihnen, Elena Zhurbenko? – "Ich lebe." Die 41-Jährige quetscht die flachen Hände zwischen ihre Knie. "Die ersten vier Monate habe ich nur existiert." Ihre Augen wandern durch den Raum. Eckige Silberrohre schlängeln über die Betondecke. Neonröhren rauben dem fensterlosen Raum die Schatten. Im ukrainischen Haus am Dresdner Neumarkt gibt Elena Zhurbenko Kurse für Kinder, bringt ihnen Farben und Formen auf Ukrainisch bei. Während Mütter Sprachkurse besuchen, hütet sie deren Kinder. "Mir hat das sehr geholfen", sagt sie. Beim Ankommen.

Am 19. März kam sie mit ihrem Sohn nach Dresden. Aus Sumy, einer Stadt so groß wie Chemnitz kurz vor der russischen Grenze. Jahrzehnte waren zwei Länder ihre Heimat. In Russland geboren, in der Ukraine aufgewachsen, mit 14, so alt wie ihr Sohn jetzt, wieder nach Russland. In der Ukraine studierte und heiratete sie. "Ich habe dort den Menschen getroffen, den ich liebe. Mein Sohn ist dort zur Welt gekommen. Er hat mir beigebracht, die Ukraine als mein Zuhause zu lieben. Ich habe in Russland kein Zuhause mehr." Auch wenn Eltern und Schwester dort leben. "Wir hatten schon 2014 Streit. Sie sind gefangen von der russischen Propaganda. Ich gebe mir die Schuld, dass ich ihnen zu wenig erklärt habe, was tatsächlich abläuft."

Elena Zhurbenko wirft sich vor, dass sie ihre Familie in Russland nicht stärker vor Propaganda geschützt hat, als es noch möglich war.
Elena Zhurbenko wirft sich vor, dass sie ihre Familie in Russland nicht stärker vor Propaganda geschützt hat, als es noch möglich war. © Ronald Bonß

Entgegen russischer Behauptungen habe sie nie Anfeindungen erlebt, wenn sie Russisch sprach. "Niemand musste aus der Ukraine befreit werden." In Kursk, wo sie einst lebte, flogen die Raketen los, die ihre Heimat trafen. "Mein Kind und ich saßen im Keller, hatten schreckliche Angst." Panzer schossen dorthin, wo sie ein glückliches Leben führte. "Ich weiß nicht, ob ich je wieder nach Russland kann. Ich glaube, die Erde in Russland wird mir die Füße verbrennen. Der Angriff hat jede Achtung, jedes gute Gefühl zu diesem Staat ausgebrannt."Ihr Sohn möchte in die Ukraine zurück. Er fühlt sich als Ukrainer, wolle nützlich sein für sein Land. Gerade lernt er Deutsch. "Wir versuchen, diese Zeit zu nutzen, um viel zu lernen. Deutschland hat uns Schutz gegeben." Eines Tages wolle sie das zurückgeben. "Mein Sohn sieht seine Zukunft in der Ukraine. Ich bin mir noch nicht sicher. Aber ich werde natürlich mit ihm gehen."

Die Ukraine hat Elena Zhurbenko nur zwischenzeitig zurückgelassen. Die Russin dauerhaft. Sie existiert nur noch im Pass.

Iryna Aprodova: "Ich fühlte, dass mein Mann sich verabschiedete"

Das letzte Mal telefonierten sie am 9. April. Seine Stimme klang ruhig. Es war ein ungewöhnlich langes Gespräch und André sagte ihr, dass er froh sei, seine Familie in Sicherheit zu wissen. "Habt ihr genug zu essen?", fragte er. "Pass auf die Kinder auf. Ich liebe dich."

Seit Oktober wohnt Iryna Aprodova mit ihren Söhnen Ivan (M.) und Ilja in einer eigenen Wohnung in Bischofswerda.
Seit Oktober wohnt Iryna Aprodova mit ihren Söhnen Ivan (M.) und Ilja in einer eigenen Wohnung in Bischofswerda. ©  privat

Iryna Aprodova laufen Tränen über die Wange, wenn sie an diesen Moment zurückdenkt. "Ich fühlte, dass er sich verabschiedete, auch wenn er es nicht aussprach", sagt sie. Bis zum Krieg hatte ihr Mann als Polizist gearbeitet und sich im Februar völlig selbstverständlich dazu entschieden, sein Heimatland zu verteidigen. Zuletzt kämpfte er in der Hafenstadt Mariupol und meldete sich jeden Tag bei seiner Familie. Bis zu jenem 9. April.

Ihre Heimatstadt Mykolajiw hatte Iryna bereits Mitte März mit ihren Söhnen Ivan (12) und Ilja (8) verlassen. "Leider konnte uns unsere Regierung nicht beschützen, sodass wir fliehen mussten", sagt die 44-Jährige. Bis dahin hatte sie als Fahrstuhlführerin in einer Klinik gearbeitet, die nach Kriegsbeginn zum Militärkrankenhaus wurde. Hier öffnete und schloss sie die Türen zum Schacht, sah die ersten Opfer des Krieges um ihr Leben kämpfen. Als ihre Angst zu groß wurde, packte sie die Koffer. Nach einer dreitägigen Odyssee fanden sie und ihre Söhne Unterschlupf bei einer Familie in Demitz-Thumitz. Viele Dorfbewohner brachten Lebensmittel und warme Worte.

André verteidigte zuletzt in der Hafenstadt Mariupol sein Heimatland. Er gilt als vermisst.
André verteidigte zuletzt in der Hafenstadt Mariupol sein Heimatland. Er gilt als vermisst. © privat

Seit Oktober lebt die Familie in einer eigenen Wohnung in Bischofswerda. "Wir haben diesen Schritt lange hinausgezögert, weil wir immer hofften, bald zurück in die Ukraine zu können", sagt Iryna. Sie fühlen sich wohl hier. Iryna arbeitet in einem Kindergarten, Ivan spielt Fußball im Verein. Und doch haben sie Heimweh. "Die Unterschiede sind zu groß, im Lebenswandel, in den Ansichten, in der Küche. Wir wollen unser altes Leben zurück. Das wäre unser Traum."

Als Iryna ihren Mann Anfang April nicht mehr erreicht, wendet sie sich in ihrer Verzweiflung an die Regierung. In einer Datenbank ist zu lesen, dass er offiziell als vermisst gilt. "Er ist so mutig, so ehrlich, ein echter Patriot", sagt sie. Ob sie noch Hoffnung hat? Iryna atmet tief durch. "Vorerst kann ich nur hoffen, dass er in Gefangenschaft gekommen ist und wir uns eines Tages wiedersehen werden. Ich möchte endlich aus diesem Albtraum aufwachen." Wenn sie erst einmal zurück in der Ukraine ist, will sie mithelfen, das Land wieder aufzubauen. "Wir werden junge Bäume pflanzen, unsere Städte zum Leben erwecken und als glückliche Familie leben."

Ihre Kinder fragen: "Wann wird der Krieg zu Ende sein? Wann werden wir zur Großmutter zurückkehren? Ist unser Vater am Leben?" Sie hat gerade keine Antworten.


Maryna Kuraptseva: "Wir sind keine Opfer, sondern Menschen, die Zukunft haben"

Die Augen von Maryna Kuraptseva leuchten immer. Mondrunde Saphire in einem schwarzen Wimpernkranz. Wenn sie über Donezk und Borodyanka, ihren Vater und die Lilien ihrer Mutter spricht, schimmern, ja, funkeln sie geradezu. "Ich kann nie wieder komplett glücklich sein", sagt die 39-Jährige. "Aber ich treffe hier so viele wunderbare Menschen, dass mein Leben aus Augenblicken besteht. In diesen kurzen Augenblicken kann ich glücklich sein." Mit ihrer Schwester und ihren Eltern wohnt Maryna in Bautzen, wo ein Pfarrer Geflüchteten hilft. Er stammt aus ihrer Heimat Enakieve bei Donezk in der Ostukraine.

Bunte Schnörkel schmücken die Arme von Maryna Kuraptseva. Ein Kolibri, eine Katze. "Mein Lieblingstattoo sind die Lilien", sagt sie. Eine Hommage. Viele Lilien sind im Donezk-Becken gewachsen. "Meine Mutter ist von der Besitzerin eines Hauses mit großem Garten zur Flüchtlingsfrau geworden und trotzdem nicht gebrochen. Zu ihren Ehren habe ich mir die Lilien tätowieren lassen."

Ihre Heimat hat Russland 2014 angegriffen und besetzt. "Es gibt für mich kein Gefühl von Zuhause mehr", sagt Maryna Kuraptseva. "Unser Haus wurde 2015 zerstört." Die Familie floh nach Borodjanka. Der Vorort von Kiew erlebte 2022 blitzartige Prominenz, als Bilder der eingeäscherten Ruinen zum Zeugnis russischer Zerstörungswut wurden. "Ich habe die Gegend nicht mehr erkannt. Alles war ein Mischmasch aus Erde und Blut. Die Russen haben alles zerstört."

Maryna Kuraptseva hat ihre Heimat an Russland verloren: "Jede Rakete, die fällt, zielt in mein Herz", sagt die 39-Jährige, die jetzt in Bautzen lebt.
Maryna Kuraptseva hat ihre Heimat an Russland verloren: "Jede Rakete, die fällt, zielt in mein Herz", sagt die 39-Jährige, die jetzt in Bautzen lebt. © Ronald Bonß

Im Keller einer der Ruinen kauerte die Familie, bis zwei Lastwagen 400 Menschen aus der Stadt bargen. Kolleginnen von Maryna Kuraptseva haben zusammengelegt, um ihren Eltern die Flucht zu ermöglichen. Züge, Autos, Übernachtungen. "Der Zusammenhalt unter meinen Kollegen, das ist mein Zuhause."

Maryna Kuraptseva ist Journalistin. Aus der Ukraine hat sie für das deutsche Außenministerium und die CSU-nahe Hans-Seidel-Stiftung gearbeitet. "Ich habe vor dem Krieg von den Deutschen gelebt und jetzt muss ich es wieder in Anspruch nehmen", sagt sie. Halb bitter, halb belustigt.

In Bautzen hilft sie anderen Geflüchteten anzukommen, hat sich jetzt beim Amt als Mediencoach angemeldet. "Einerseits ist hier vieles sehr gut. Wir haben eine Wohnung und Geld, das Jobcenter zahlt meine Krankenversicherung. Deutsche haben uns viel geschenkt. Es gibt ein Hilfszentrum beim Verein neue Nachbarn." Andererseits gibt es eine große russische Gemeinde, viele Verteidiger von Russlands Gräueltaten. "In Dresden kann ich normal rumlaufen. In Bautzen verstecke ich meine ukrainische Stickbluse. Leute, die russischer Propaganda glauben, haben mich auf der Straße schon angegangen als Faschistin." Eine andere Ukrainerin habe einen handschriftlichen Drohbrief erhalten.

Auf ihrem Pulli trägt sie das Logo der ukrainischen Hiphop-Band "Dance on the Maidan Kongo": ein Adler in Form des ukrainischen Dreizacks. "Schon das hier ist für Russen ein nationalistisches Symbol", sagt Maryna Kuraptseva.

Zunächst hat eine Dolmetscherin das Gespräch mit ihr für die SZ übersetzt. Jetzt spricht sie in gebrochenem, aber klarem Englisch. "Ich möchte es direkt sagen: Meine Familie hat schreckliche Erfahrungen gemacht. Aber wir sind keine Opfer. Russland ist es nicht gelungen, uns zu zerstören. Wir sind Menschen, die eine Zukunft haben."


Hanna Centner: "Der Krieg hat mir die Liebe geschenkt"

Das öffentliche Leben steht still. Die Leute steigen hinab in unterirdische Schutzräume oder bleiben in ihren Wohnungen. Hanna und Benjamin sitzen ohne Strom in ihrer Unterkunft. Sie schalten ihre Stirnlampen an, beten und warten. Sie hören Explosionen. Im Nachhinein erfahren sie, dass mehrere russische Raketen in der Stadt eingeschlagen sind. Noch kurz vor der Trauung am 29. Dezember ist nicht klar, ob sie sich an diesem Tag überhaupt das Jawort geben können.

Eine Stunde nachdem der Raketenalarm in Lwiw aufgehoben wurde, tauschen Hanna und Benjamin die Ringe, sie küssen sich und leeren jeder ein Glas Sekt in einem Zug. So ist es Tradition in der Ukraine. Tags darauf fahren sie mit dem Flixbus wieder heim, zurück in ihr neues gemeinsames Leben.

Benjamin aus Radebeul heiratete Ende Dezember Hanna, die im vergangenen Jahr aus der Region Donezk fliehen musste.
Benjamin aus Radebeul heiratete Ende Dezember Hanna, die im vergangenen Jahr aus der Region Donezk fliehen musste. © privat

So nah sich Glück und Schmerz in diesen wenigen Stunden vor und nach ihrer Hochzeit sind, so nah lagen sie auch im vergangenen Jahr oft beieinander. Dem Jahr, in dem die Ukrainerin Hanna ihre Heimat verloren, und in Deutschland ihre Liebe gewonnen hat.

Anfang März 2022 flüchtete Hanna gemeinsam mit einer Freundin und deren Kindern vor dem Krieg in Richtung Deutschland. An der Grenze wurden sie von Familie Centner aus Radebeul abgeholt. Sie durften in ihrem Haus wohnen und hatten eigentlich vor, bald gemeinsam zu Bekannten nach Kanada weiterzureisen.

Es kam anders. Hanna blieb. Ein Kartenspiel-Abend und wenige Treffen reichten aus, dass sie ihr Herz an Benjamin verlor, einen der Söhne der Familie. Da er diese Zuneigung erwiderte, konnten sich die Dinge in Radebeul verselbstständigen. "Spätestens seit der Verlobung wissen wir, was wir wollen und tun werden: eine Familie gründen und Eltern sein", sagt der 34-Jährige, der gerade seine Zelte in Berlin abbricht, um nach Sachsen zu ziehen. "Es fühlt sich großartig an, verbindlich, hingegeben auf Lebenszeit."

Nun sind sie auf Wohnungssuche. Hanna hofft, dauerhaft in Dresden als Lehrerin arbeiten zu können, und paukt dafür fleißig Deutsch. "In der Ukraine musste ich meine beiden Jobs und alles, was ich kannte, aufgeben", sagt Hanna. Sie denke oft an ihr Heimatland, aber jetzt sei es an der Zeit, vorauszublicken. "Der Krieg hat mir die Liebe geschenkt."