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Wie eine Ukrainerin nach ihrer Flucht in Radebeul ihre große Liebe fand

Zehntausende Ukrainer sind vor dem Krieg nach Sachsen geflüchtet. Viele fanden ein neues Zuhause. Hanna fand hier sogar ihre Liebe. Nun heiratet sie Benjamin aus Radebeul sogar.

Von Henry Berndt
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Heiratsantrag auf Ukrainisch: Benjamin aus Radebeul und die aus ihrer Heimat geflohene Hanna geben sich am Donnerstag in Lwiw das Jawort.
Heiratsantrag auf Ukrainisch: Benjamin aus Radebeul und die aus ihrer Heimat geflohene Hanna geben sich am Donnerstag in Lwiw das Jawort. © kairospress

Als die Karten aus dem Schrank geholt wurden, ging es ganz schnell. Und Schnelligkeit ist wichtig bei Ligretto. Manchmal hat das Leben verrückte Spielzüge zu bieten. Es war kurz vor Ostern, als Hanna und Benjamin zum ersten Mal aufeinandertrafen. Hätte das russische Militär die Ukraine im Februar dieses Jahres nicht überfallen, dann hätte Hanna ihre Heimat nicht verlassen müssen, hätte nie in Radebeul Ligretto gespielt, nie ihren Benjamin kennengelernt – und würde ihn nun nicht heiraten.

Bereits Anfang März hatte Hanna ihren Koffer gepackt und sich auf den Weg in Richtung Westen gemacht. Sie begleitete ihre Freundin Aljona und deren Kinder Ilja (10) und Paulina (7). Zur selben Zeit überlegte Familie Centner aus Radebeul, wie und wo sie angesichts der schrecklichen Lage in der Ukraine am besten helfen könnte. Über die Freie evangelische Gemeinde Radebeul erfuhr Uwe Centner von einer Pastorenfamilie, die auf der Flucht, war und entschied sofort, sie an der Grenze abzuholen.

In Uschhorod an der slowakisch-ukrainischen Grenze wurden Hanna (r.) und die anderen abgeholt.
In Uschhorod an der slowakisch-ukrainischen Grenze wurden Hanna (r.) und die anderen abgeholt. © privat

Gemeinsam mit dem Radebeuler Pastor Reinhold Pötschke und einer Übersetzerin fuhr er im Caddy nach Uschhorod an der slowakisch-ukrainischen Grenze und nahm dort Aljona, die Kinder und Hanna in Empfang. „Wie sich herausstellte, gab es die Unterkunft, die wir gebucht hatten, gar nicht“, erinnert sich der 61-Jährige. Da alle Hotels überfüllt waren, entschieden sie, die zwölf Stunden direkt wieder zurückzufahren. Morgens gegen 7 Uhr in Radebeul angekommen, hatte Ute Centner schon Frühstück vorbereitet.

Wie lange soll das so gehen? Wo soll das hinführen? Niemand stellte diese Fragen. Es war Zeit zum Handeln, so wie es Hunderte Familien in Sachsen in diesem Jahr taten. Lange bevor die Erstaufnahmeeinrichtungen dafür bereit waren und zusätzliche Wohnungen gefunden werden konnten, wurden die Sachsen selbst aktiv, sammelten Spenden, organisierten Transfers und rückten zu Hause zusammen, um Platz für die Menschen zu schaffen, die vor den Bomben fliehen mussten.

Als Hanna (r.), Aljona (2.v.r.) und ihre Kinder in Radebeul ankamen, hatte Ute Centner schon das Frühstück vorbereitet.
Als Hanna (r.), Aljona (2.v.r.) und ihre Kinder in Radebeul ankamen, hatte Ute Centner schon das Frühstück vorbereitet. © privat

„Das Engagement der Familien kann nicht hoch genug bewertet werden“, sagt Ute Leder, Sprecherin der Stadt Radebeul. „Ohne die Familien hätte die Aufnahme so vieler Menschen nicht gelingen können.“ Zuletzt lebten rund 350 Geflüchtete aus der Ukraine in Radebeul. Obwohl der Wohnraum vor allem in den größeren Städten knapp war, fanden mit der Zeit immer mehr ukrainische Familien in Sachsen eigene Unterkünfte. Laut einer repräsentativen Befragung, deren Ergebnisse jüngst in Berlin vorgestellt wurden, möchte mehr als jeder dritte Kriegsflüchtling aus der Ukraine entweder für immer oder mindestens für mehrere Jahre in Deutschland bleiben. Dieselbe Studie offenbarte zudem, dass sich drei Viertel der Geflohenen in Deutschland voll und ganz oder zumindest überwiegend willkommen fühlen. Etwa jeder Fünfte hatte Anfang Dezember bereits einen Integrationskurs begonnen.

Hanna verfolgte eigentlich den Plan, schon bald gemeinsam mit Aljona und den Kindern zu Bekannten nach Kanada weiterzureisen. Der Ligretto-Abend und das, was danach folgte, haben ihre Pläne allerdings über den Haufen geworfen. Im Haus in Radebeul lebte die 25-Jährige nun in einem ehemaligen Kinderzimmer unter einem Dach mit Ute und Uwe Centner sowie deren erwachsenen Kindern Deborah und Christoph. Benjamin, einer von insgesamt vier Söhnen, wohnt in Berlin und arbeitet dort als Erzieher in einer Grundschule. Als der 34-Jährige in der Woche vor Ostern nach Radebeul kam, wurde sein Kennenlernen mit Hanna anfangs noch unglücklich ausgebremst. So sollte sie die fünf Geschwister ursprünglich in einen Wanderurlaub nach Österreich begleiten, stürzte jedoch kurz zuvor mit dem Fahrrad, verletzte sich am Bein und blieb in Radebeul. Nach der Rückkehr und dem Ligretto-Abend musste Benjamin schon am nächsten Tag zurück nach Berlin. Zum Glück gibt es Handys. „Seine erste Nachricht erhielt ich nach zehn Minuten“, erinnert sich Hanna und lächelt Benjamin vielsagend an.

Unter der Tasse stand "YES"

Abseits der sich anbahnenden Romanze lebten sich die ukrainischen Gäste in Radebeul ein. „Sie waren sehr fleißig und selbstständig und haben für uns gekocht“, sagt Uwe Centner. „Ilja und Paulina haben bei uns Fahrradfahren gelernt.“ Hanna fand eine befristete Anstellung als Assistenzlehrerin an einer Grundschule. In ihrer Heimat unterrichtete sie Sport. Rund drei Monate blieben die Gäste gemeinsam im Haus, bevor sie sich auf die Weiterreise nach Kanada machten – allerdings ohne Hanna.

Inzwischen hatten sie und Benjamin sich längst ihre Liebe gestanden. Am 26. Mai wurde die Beziehung offiziell, als Hanna ihm eine Tasse mit Süßigkeiten überreichte, an deren Unterseite das Wort „YES“ mit einem Häkchen stand – eine Anspielung und klare Antwort auf die bekannte Kinderfrage: Willst du mit mir gehen? Ja? Nein? Vielleicht?

Die Sprachbarriere mochte ihnen anfangs ein wenig Angst machen, hielt sie aber nicht auf. Während Hanna eifrig Deutsch paukte, begann Benjamin mithilfe einer App, Russisch zu lernen. „Wichtig war mir, dass sie Christin ist“, sagt er, „sonst wäre ich wahrscheinlich zurückhaltender gewesen.“ Da Ute und Uwe Centner einverstanden waren, dass Hanna weiterhin bei ihnen wohnt, konnten die Dinge ihren Lauf nehmen. Von nun an kam Benjamin jedes Wochenende nach Radebeul, doch auch das reichte ihm bald nicht mehr.

Was sie an ihm mag? „Er ist so aufmerksam und fürsorglich“, sagt Hanna. Was er an ihr mag? „So vieles. Sie ist so tough und mutig, so hübsch. Außerdem kann sie total gut kochen.“

Familienzeit am Spieletisch: Benjamin und Hanna mit ihren Gastgebern in Radebeul.
Familienzeit am Spieletisch: Benjamin und Hanna mit ihren Gastgebern in Radebeul. © kairospress

Anfang Oktober nutzte Benjamin in einem Hotel auf dem Lilienstein in der Sächsischen Schweiz die Chance, ihr einen Heiratsantrag zu machen – auf Ukrainisch. „Die Woche vorher habe ich die ganze Zeit geübt und war unheimlich aufgeregt“, sagt er. Wieder sagte Hanna „Ja“, diesmal ohne Tasse. Nun brauchten sie nur noch einen Ort für die Trauung. „In Deutschland mahlen die bürokratischen Mühlen so langsam, das hätte uns einfach zu lange gedauert“, sagt Benjamin. Vermutlich neun bis zwölf Monate. Ein neuer Plan musste her.

Am ersten Weihnachtsfeiertag fuhren die beiden daher nach Lwiw in die Ukraine, um sich dort am Donnerstag trauen zu lassen. „Ich war selbst noch nie in dieser Stadt, das war immer mein Traum“, sagt Hanna.

Das kleine, große Glück in Radebeul kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass 1.000 Kilometer östlich noch immer jeden Tag Menschen in einem Krieg sterben, dessen Ende nicht absehbar ist. Noch immer fliehen Ukrainer aus ihrem Land, täglich kommen Dutzende auch nach Sachsen. Der Landesdirektion zufolge sind hier derzeit rund 59.000 geflüchtete Ukrainer registriert, etwa 1.000 mehr als Ende November. Die ersten Geflüchteten hatten den Freistaat bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn erreicht. Mitte März waren es bereits über 3.500, in der ersten Aprilwoche 25.000 und im Juli 51.000.

Familie öffnet erneut ihre Türen

Auch wenn es inzwischen nicht mehr jeden Tag neue Nachrichten aus der Ukraine geben mag, hat die Nächstenliebe für Uwe Centner kein Verfallsdatum. Er arbeitet am Empfang im Diakonischen Werk in Radebeul und wollte an einem Abend im August gerade Feierabend machen, als ein älteres Ehepaar aus der Ukraine zur Tür hereinkam. Sie suchten eine Bleibe für ihre Tochter und drei Enkel und hätten gehört, dass die Diakonie Wohnungen zu vergeben habe. Das Problem: Diese Wohnungen gab es nicht. „Ich hätte die beiden deshalb wieder nach Hause schicken können, aber als Mensch und Christ konnte ich das nicht vertreten“, sagt Centner. Welche Rolle sollte im Vergleich dazu schon die minimale Aufwandsentschädigung von 5 Euro pro Person und Tag bei solch einer Entscheidung spielen?

Nach kurzer Bedenkzeit öffnete Familie Centner erneut ihre Türen. Konkret gaben diesmal ihre Kinder Deborah und Christoph, die sich eine Einliegerwohnung im Obergeschoss teilen, jeweils eines ihrer Zimmer an Alexandra und ihre Söhne David (10) und Timo (3) sowie Töchterchen Sarah (18 Monate) ab. Der siebenjährige Sohn Sascha lebt derzeit noch in der Ukraine bei einer Oma, soll dort die erste Klasse beenden und im Laufe des nächsten Sommers mit nach Radebeul kommen.

Mitte November zog Alexandra mit ihren Kindern David, Sarah und Timo (v.l.) in eine Dachgeschosswohnung in Radebeul-West.
Mitte November zog Alexandra mit ihren Kindern David, Sarah und Timo (v.l.) in eine Dachgeschosswohnung in Radebeul-West. © kairospress

Bis zum Umzug zu den Centners wohnten die Ukrainer noch alle zusammen in einem winzigen Zimmer in Radebeul, das sie nun auch noch verlassen sollten. Während die Großeltern eine neue Bleibe im Stadtteil Lindenau fanden, drohte Alexandra eine Unterbringung in einer Flüchtlingsunterkunft. Zuletzt hielten sich dort laut Landesdirektion Sachsen rund 500 Geflüchtete aus der Ukraine auf.

Bis zum September lebte Alexandra mit ihren Kindern noch in Czernowitz im Südwesten der Ukraine. Dort fielen zwar noch keine Bomben, doch der Krieg war im Alltag allgegenwärtig. „Wenn die Sirenen gingen, haben die Kleinen viel geweint“, sagt die 32-Jährige, die bislang nur wenige Wörter Deutsch und auch kaum Englisch spricht. „Meine Eltern sind bereits im März nach Deutschland geflohen und haben mich nun überzeugt nachzukommen.“

"Zehn Anfragen am Tag rausgeschickt"

Als sie nun bei den Centners einzogen, war allen klar, dass dies nur eine Zwischenlösung sein konnte. Sogleich machten sich die Gastgeber an die Wohnungssuche, schauten in Radebeul, in Meißen und Coswig. „Ehrlich gesagt haben wir uns das einfacher vorgestellt“, sagt Uwe Centner. „Wo wir auch angefragt haben, wenn das Wort Geflüchtete fiel, ist denen das Gesicht eingeschlafen.“ Vor allem Deborah bemühte sich intensiv um ein neues Zuhause für die Ukrainer. „Ich habe zehn Anfragen am Tag rausgeschickt, aber es kam fast nichts zurück“, erinnert sie sich.

Über einen privaten Kontakt landete sie endlich einen Volltreffer: eine Dachgeschosswohnung mit drei Zimmern in Radebeul-West, bestens angebunden an Einkaufsmöglichkeiten und den öffentlichen Nahverkehr, mit der Schule in Sichtweite. Mitte November begann der Mietvertrag, nun fehlte allerdings noch die komplette Einrichtung. Einmal mehr kam dabei die Hilfsbereitschaft von Freunden und Gemeindemitgliedern zum Tragen.

Nach sechs Wochen ist die Wohnung fast komplett eingerichtet.
Nach sechs Wochen ist die Wohnung fast komplett eingerichtet. © kairospress

Küche, Spülmaschine und Waschmaschine standen rasch bereit, dazu Geschirr, Spielzeug und ein fast neues samtrotes Sofa. Ein Ehepaar steuerte seine komplette Schlafzimmer-Ausstattung bei. „Innerhalb von zwei Wochen haben wir das alles zusammengekarrt und aufgebaut“, sagt Christoph, der sich dafür extra einige Tage Urlaub nahm.

Inzwischen sieht es hier oben schon recht wohnlich aus. Ein eingerollter Teppich und einige Kisten warten auf die letzten Handgriffe. Alexandra wirkt zufrieden, heimisch, angekommen. Im Alltag findet sie sich trotz der Sprachbarriere immer besser zurecht. Dennoch ist Deborah noch immer fast täglich in Kontakt mit ihr, half bei Behördengängen, Anmeldungen, Anträgen und der Kontoeröffnung.

Ob der Krieg in ihrer Heimat bald ein Ende finden wird? Alexandra atmet tief durch, bevor sie antwortet. „Meine Hoffnung ist größer als der Glaube daran“, sagt sie dann. Sie hat sich bereits dafür entschieden, langfristig in Deutschland zu bleiben. Eines Tages möchte die 32-Jährige hier ihren Führerschein machen und vielleicht mal ein Restaurant eröffnen. In nächster Zeit wird sie dafür allerdings mit Sicherheit keine Zeit haben. Im Januar erwartet Alexandra ihr fünftes Kind.