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Wie Georg Baselitz die Familie auf Trab hielt

Der aus Sachsen stammende Malerstar wird am Dienstag 80. Schon als Kind war er nicht pflegeleicht, erinnert sich sein Bruder exklusiv in der SZ.

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© René Plaul

Von Birgit Grimm

Georg Baselitz war ein Sonntagskind, er kam am 23. Januar 1938 zur Welt. Der Vater notierte in seinem „Tages-Merkbuch“: Hans-Georg geboren. Dreieinhalb Jahre später kam Bruder Günter zur Welt. Kein Eintrag. Auch nicht für Rosemarie, die große Schwester, und auch nicht für den Nachzügler Andreas. Und schon gar nicht für den erstgeborenen Sohn Hansjürgen aus einer früheren Beziehung des Vaters. Günter Kern sagt: „Warum unser Vater in seinem jahrzehntelang geführten Kalender nur Hans-Georgs Geburt eingetragen hat, bleibt sein Geheimnis. Er war ja ein seltsamer Typ und notierte Alltagsdinge wie ,Butter für 1,39 gekauft‘ oder ,Mutter fünf Mark Haushaltsgeld gegeben‘.“

Der Maler und Bildhauer Georg Baselitz, hier im September 2013 in seiner Ausstellung im Residenzschloss Dresden zwischen einer Reproduktion der „Sixtinischen Madonna“ und dem Gemälde „Statement“ von 1999, wird am Dienstag 80 Jahre alt.
Der Maler und Bildhauer Georg Baselitz, hier im September 2013 in seiner Ausstellung im Residenzschloss Dresden zwischen einer Reproduktion der „Sixtinischen Madonna“ und dem Gemälde „Statement“ von 1999, wird am Dienstag 80 Jahre alt. © Robert Michael

Fast könnte man geneigt sein, diesen Eintrag als Vorahnung zu deuten. Ob der Vater fühlte, dass aus Hans-Georg ein berühmter Mann werden würde?

Die Brüder Hans-Georg und Günter kamen in Deutschbaselitz zur Welt, einem Dorf, das heute zu Kamenz gehört. Die Verhältnisse in der Lehrerwohnung im oberen Stockwerk des Schulhauses waren bescheiden. „Hans-Georg hat es unserer Schwester, die uns oft behütet hat, und unseren Eltern nicht leicht gemacht“, erinnert sich Günter Kern. Nicht nur, dass Hans-Georg es absolut nicht ertragen konnte, wenn der kleine Bruder sich für seine Spielsachen interessierte und er nicht im Mittelpunkt stand. Er war kein Musterschüler, so blieb es nicht aus, dass er das Abitur nicht schaffte. Das war für die Eltern als Lehrer ein Desaster. Auch dass er unbedingt Künstler werden wollte, gefiel ihnen nicht. In der Familie Kern hatte man ehrenwerte Berufe. Man war Bahnhofsvorsteher, Lehrer, Pfarrer, Kantor, aber doch kein Maler! Brotlose Kunst! Aber der Hans-Georg, der hatte Talent. In der Nachbarschaft gab es einen Elektromeister mit einer Staffelei im Wohnzimmer. Er malte in der Freizeit Alpenbilder nach Postkarten. Der Junge sah das und machte es nach. „Seine ersten Bilder waren Abmalbilder“, sagt der Bruder und erinnert sich an den Geruch im Zimmer, als Hans-Georg zu malen begann.

Die Aufnahmeprüfung an der Forstschule in Tharandt hatte Hans-Georg 1956 bestanden, sich jedoch auch an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee beworben, nachdem die Dresdner Kunsthochschule ihn im Jahr zuvor abgelehnt hatte. Aber weil er ein renitenter Charakter war, wurde er nach nur zwei Semestern exmatrikuliert. „Das disziplinierte Arbeiten, um die handwerklichen Fertigkeiten zu üben, das war nichts für ihn. Er hat Testate nicht abgegeben“, so sein Bruder. Die Biografen von Georg Baselitz stilisieren das um zu „sozialpolitischer Unreife“ oder „gesellschaftspolitischer Unreife“. Mag sein, dass so eine Formulierung beim Rauswurf fiel. Schriftlich fixiert ist diese Begründung nicht. Und Baselitz selbst sagte einmal, dass die DDR ihn abgestoßen habe wie eine kranke Zelle. War es wirklich so dramatisch? Er selbst empfand es auch als sein Glück.

Vater Kern aber war sauer. „Er fuhr nach Berlin und versuchte den Professoren klarzumachen, dass Hans-Georg nur schlechten Umgang gehabt hätte“, erzählt der Bruder. Der schlechte Umgang, das kann nur der Maler Peter Graf gewesen sein, der mit Kern zusammen exmatrikuliert wurde, aber nach Dresden zurückging. Hans-Georg Kern bewarb sich an der Kunsthochschule in Berlin-Charlottenburg und verließ noch vor dem Mauerbau den Ostsektor der Stadt. Seit 1961 nennt er sich Georg Baselitz. 1963 hatte er seine erste Ausstellung, die mit einem Skandal endete, und 1969 schließlich die Idee, die ihn reich und berühmt machte: Er stellte seine Bilder auf den Kopf. Eine Idee, die ihm keiner mehr wegnehmen kann. Es wäre zu billig.

Günter Kern erzählt: „Georgs Schwiegermutter war eine Schnellzeichnerin aus Dresden, die auch mit den Vier Brummers & Fred Gigo auftrat. Sie zeichnete vor Publikum, zum Beispiel eine Stehlampe. Und wenn sie diese Stehlampe umdrehte, sah man eine Frau in der Badeschüssel stehend. Damit hatte sie Erfolg.“

Kerns konnten ihren Kunststudenten in Berlin finanziell nicht unterstützen. „Ich habe ihm damals beim Umzug geholfen, die Koffer nach Westberlin geschafft, ihn später im Studentenwohnheim besucht und selbst darüber nachgedacht, die DDR zu verlassen“, sagt Günter Kern. „Aber die Eltern hatten Angst, dass auch noch der zweite Sohn in den Westen geht. Der Vater hatte nach dem Krieg Berufsverbot als Lehrer, weil er Mitglied der NSDAP gewesen war. Als wir älter waren, warnte er uns immer wieder davor, Ideologien blind zu folgen. Da hat er sehr weit geblickt. Diese Haltung hat uns geprägt. Und wenn ich die Heldenbilder meines Bruders sehe, erkenne ich darin auch die Geschichten unseres Vaters wieder.“

Für Günter Kern kam eine SED-Karriere nicht infrage, aber studiert hätte er sehr gern. Er erlernte einen Beruf bei der Reichsbahn. Als ihn sein Betrieb nicht nur zum Studieren, sondern auch in die SED delegieren wollte, lehnte er ab, und der Traum von der Uni platzte. „Um mich ideologisch in die Spur zu bringen, schickten sie mich zur Armee.“ Seinen Hochschulabschluss erwarb er in neun Jahren Fernstudium. „Doch in jeder Beurteilung stand, dass ich politisch unreif, mein Standpunkt nicht der richtige und ich deshalb als Führungskader ungeeignet sei.“ Kern arbeitete als Pädagoge. Die Stasi war seitdem immer informiert. Er war 1968 beim Prager Frühling dabei. Später wurde sogar seine Wohnung verwanzt und umfassend observiert. Er wurde mit Haftbefehl festgenommen. „Das hat mir zugesetzt, und ich habe mich an einen Anwalt gewandt. Doch der war IM der Stasi.“

Trotzdem ließ man Günter Kern 1988 zum 50. Geburtstag von Georg Baselitz in den Westen fahren – mit der Auflage, dort nichts davon zu erzählen, wie die Stasi ihn überwachte. „Als ich dort ankam, fragte mein Bruder, ob ich einen Fotoapparat dabei hätte, damit ich, wenn ich wieder zu Hause wäre, der Stasi was liefern könnte. Er war nicht der Einzige, der dachte, dass ich für die Stasi arbeite, nur weil man mir diese Reise genehmigt hatte.“

Nach der Wende engagierte sich Günter Kern politisch, wollte aufräumen, wie er sagt. Arbeitete als Dezernent im Landratsamt Kamenz, leitete eine Untersuchungskommission zu Amtsmissbrauch und Korruption. Mit einem seiner Söhne gründete er 2002 eine Firma, die pleite ging: Geld weg, Haus weg. Nun lebt er mit seiner Frau in einer Mietwohnung in Kamenz, ist stolz auf seine vier Kinder und glücklich, wenn er mal alle seine sechs Enkel gleichzeitig um sich hat. Zu seinem Bruder hat er seit fünf Jahren keinen Kontakt. Familiäre Gründe, Enttäuschungen, über die Günter Kern nicht reden möchte. Georg Baselitz hat mit manchen seiner in Interviews gemachten Äußerungen nicht nur Künstlerkollegen und frühere Freunde, sondern auch seine Verwandten verletzt.

Am Festprogramm, das die Stadt Kamenz zum 80. Geburtstag übers Jahr verteilt organisiert, arbeitet Kern dennoch mit. „Durch meinen Bruder habe ich Künstler kennengelernt, viel erfahren über Kunst und den Kunstbetrieb“, sagt er. Originale Kunstwerke kann der 76-Jährige sich nicht leisten. Er kauft Drucke und lässt sie edel rahmen. Gerhard Richter, den ärgsten Konkurrenten seines Bruders, schätzt Kern sehr. Auch den Dänen Per Kirkeby verehrt er. Und seinen Halbbruder Hansjürgen, aus dem ein guter Künstler hätte werden können, wie frühe Zeichnungen zeigen. Doch das ist schon wieder eine andere Geschichte der Familie Kern aus Deutschbaselitz ...