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Ein Herz für Rinder

Conny Böttger setzt sich für Rinder ein, die misshandelt wurden oder die keiner mehr braucht. Inzwischen hat sie 32 Tiere und träumt von einem Gnadenhof.

Von Christina Wittig-Tausch
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Die Dresdner Tierschützerin Conny Böttger rettet Rinder aus schlechter Haltung. Neben ihr, von oben: Carlo, Diano und Bambi.
Die Dresdner Tierschützerin Conny Böttger rettet Rinder aus schlechter Haltung. Neben ihr, von oben: Carlo, Diano und Bambi. © Ronald Bonß

Rosienchen steht beim Fenster und kaut vor sich hin. Die schwarz-weiß gefleckte, hochgewachsene Kuh bleibt ruhig stehen, obwohl die meisten aus ihrer Herde gerade zum Gitter drängen und gucken, was sich dort tut. Ganz vorne dabei sind Carlo, der gewaltige schwarz-weiße Ochse mit den Hörnern, und der hellbraune Diano. Das „Rind mit den längsten Wimpern der Welt“, nennt ihn Conny Böttger.

Die Dresdnerin ist Gründerin und Vorsitzende vom Tierparadies MUHrielle. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich um hilfebedürftige Rinder zu kümmern. Um solche, die vernachlässigt werden von ihren Besitzern. Und solche, die nicht oder nicht mehr als Nutztier gebraucht werden.

Es ist kurz vor Mittag. Der Wind rüttelt an den Metalltüren des Stalls in der Nähe von Augustusburg im mittleren Erzgebirge, wo der Verein derzeit einen großen Teil seiner Rinder bei einem Landwirt untergebracht hat. Er versorgt die Tiere mit Heu und Silage und kümmert sich um frische Einstreu. Conny Böttger, die Radebergerin Eva Laudel und Anett Präsang aus Groitzsch sind an diesem Sonntag gekommen, um die Tiere zu besuchen, nach ihrem Gesundheitszustand zu sehen, ihnen ein paar Leckerbissen zu geben. Die Frauen schleppen Kisten mit Möhren sowie Eimer mit Kraftfutter und Heupellets herein. Heute sind ein paar altbackene Brötchen und Hörnchen unter den Spenden, „obwohl wir das nicht gern verfüttern, das ist in großen Mengen nicht gut für die Tiere“.

Im Stall übernachtet

23 Rinder gehören zur „Glücksherde“, wie Conny Böttger sie nennt. Von Frühjahr bis Herbst kommen die Tiere auf die Weide, im Winter in den Laufstall, mit gelegentlichen Ausflügen nach draußen. Es ist eine Herde, die man in der Landwirtschaft nie finden würde. Niemand erwartet etwas von den Rindern. Sie müssen weder täglich Milch geben noch demnächst zum Schlachthof, um zu Fleischprodukten verarbeitet zu werden. Alle möglichen Rassen sind vertreten. Das jüngste Tier ist ein Jahr alt, das älteste 14. Einige haben Hörner, andere nicht. „Das Herdenmanagement ist eine Herausforderung“, sagt Conny Böttger. „Aber zum Erstaunen unserer Tierärzte und Rinderexpertinnen im Verein geht es.“

Carlo schnuppert an Conny Böttgers Hand, die ihm etwas hinhält. Ein Kornbrötchen lässt er fallen, aber das Croissant interessiert ihn. Er schnappt es mit seiner großen Zunge, kaut, schluckt und reckt die Nase, ob ein weiteres Hörnchen auf ihn wartet. „Ich könnte stundenlang den Tieren zuschauen“, sagt Conny Böttger. Manchmal macht sie das, obwohl sie wenig Zeit hat. Im Alltagsleben arbeitet sie als Arztsekretärin in der Dresdner Uniklinik, kümmert sich um ihren Sohn und ihre Hunde. Sie hat schon im Stall übernachtet oder auf der Weide, um kranke Tiere zu beaufsichtigen oder ihnen Medizin zu geben.

Aber auch, um den Tieren nah zu sein. Rinder sind faszinierend, findet sie. Sie kümmern sich liebevoll um ihre Kinder. Können weinen, wenn sie unter Stress stehen. Sie kämpfen in der Herde um die Rangfolge, schließen aber auch Freundschaften. Der ruhige und besonnene Diano ist der Chef der Glücksherde, aber gut befreundet mit Goliat, mit dem er sich kratzt und leckt, gemeinsam frisst und trinkt.

Mag es, von Conny Böttger gestriegelt und massiert zu werden: Ochse Diano.
Mag es, von Conny Böttger gestriegelt und massiert zu werden: Ochse Diano. © ronaldbonss.com

Zu den Rindern fand Conny Böttger 2015 durch ein Video des Gnadenhofs Gut Aiderbichl. Der Film zeigt einen Stier, der aus Kettenhaltung kam und sich zum ersten Mal in seinem Leben frei in einem Stall bewegen kann. Das Tier hüpft und springt, scheint fast zu tanzen. „Meine erste Regung war: Warum müssen Nutztiere gerettet werden? Sie sind doch da für Fleisch oder Milch.“ Wie sie leben, unter welchen Bedingungen sie gehalten, geschlachtet und transportiert werden, damit hatte sich Conny Böttger bis dahin kaum beschäftigt.

Das änderte sich nun. Sie dachte an die Kühe auf dem Hof ihrer Verwandtschaft, die dort den Winter über auf sehr engem Raum in Kettenhaltung standen, nahezu bewegungslos und auf eine Wand starrend. „Ich dachte plötzlich, Tierschutz fängt vor der eigenen Haustür an. Damals wurde der Hof aufgelöst. Die letzte Kuh der Kettenhaltung, Bella, kaufte ich dem Viehhändler wieder ab.“ Auf Bella folgten weitere Rinder. Bellas Mutter etwa lebte bei Chemnitz. Ihr Besitzer war genervt, weil die Kuh ihre Kälber nicht trinken ließ. Ein Kalb hatte er mit der Flasche aufgezogen. Für eine zweite Handaufzucht fehlte ihm die Zeit. Deshalb sollte die Kuh nach der Geburt zum Schlachter und das Kalb verkauft werden. Conny Böttger kaufte die trächtige Kuh. Sie suchte nach Helfern und Mitstreitern und gründete den Verein.

Kaffeetrinken mit Freunden ist inzwischen Luxus

32 Rinder hat der Verein inzwischen. Der Großteil lebt bei Augustusburg. Sechs Rinder stehen auf dem Hof des Vereins HerzMuht für Kühe in Großharthau. Hofbetreiber Pierre Zocher und Irina Wenzel haben sich vor drei Jahren von der intensiven Milchviehhaltung verabschiedet, wollten ihre Kühe aber nicht verkaufen, sondern ihnen einen guten Lebensabend ermöglichen. Wie Muhrielle oder der Frankenthaler Verein Glücksrinder finanzieren sie die Tiere durch Patenschaften und Spenden.

So etwas wie Kaffeetrinken mit Freunden ist inzwischen Luxus für Conny Böttger. Neulich hat sie drei Kälber im Pferdehänger nach Mecklenburg-Vorpommern gefahren, denn der Verein kann nicht alle Tiere behalten und vermittelt sie an Gnadenhöfe. Wenn der Tierarzt kommt, wenn Klauen geschnitten oder Jungrinder kastriert werden müssen, ist Conny Böttger mit im Stall. Sie liest viel, recherchiert, telefoniert. Manchmal melden sich Landwirte und suchen eine Unterkunft für ein zahmes Tier, das sie nicht zu Fleisch verarbeitet sehen wollen. Oder für Tiere, um die sie sich aus Gesundheitsgründen nicht mehr kümmern können.

Manchmal rufen Tierschutzvereine oder Veterinärämter an und fragen nach Plätzen. Alwin ist so ein Fall. Anwohner hörten, wie ein Rind im Stall schrie. Sie machten heimlich Fotos von dem Tier und schickten sie dem Veterinäramt und dem ortsansässigen Tierschutzverein. Der Besitzer sei aggressiv, hieß es. Conny Böttger fuhr zum Hof und bot dem älteren Besitzer an, Alwin zu kaufen. Der Dreijährige stand allein und an einer Kette, die in die Haut eingewachsen war. Die Klauen waren viel zu lang. Er hatte Durst und Hunger. „Der Besitzer war gar nicht aggressiv oder bösartig. Er war total überfordert und froh, dass ich ihm Alwin abkaufte.“

Rinder leben in Laufställen

Verstöße gegen Tierschutzbestimmungen wie dieser sind laut dem Tierschutzbericht von 2017 und gemäß aktueller Statistiken des Sächsischen Sozialministeriums eher in der Minderzahl. 2020 wurden 670 der 4.966 Rinderbetriebe in Sachsen kontrolliert, in 56 Betrieben wurden Verstöße festgestellt. Beanstandet wurden meist Futter, die baulichen Bedingungen und die Anbindehaltung, zu der die Kettenhaltung gehört. Die umstrittene Anbindehaltung hat abgenommen, aber es gibt sie noch. Manche der Tiere kommen im Sommer zwar auf die Weide, stehen aber von Herbst bis Frühling im Stall, oft mit keinerlei Bewegungsmöglichkeiten. In Sachsen ist der Anteil solcher Haltungsplätze, die vor allem bei privaten Haltern und in kleineren Betrieben verbreitet sind, von 8,3 Prozent im Jahr 2010 auf 3,6 Prozent im Jahr 2020 gesunken.

Mehr als 90 Prozent der Rinder leben in Laufställen. „Die Ställe sind sehr unterschiedlich ausgestaltet“, sagt Ilka Steinhöfel vom Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie. „Die Spannweite reicht von Ställen, deren Boden ausschließlich aus Betonspalten besteht und die man vor allem in der Rindermast findet, bis hin zu großzügigen Boxenlaufställen für Milchkühe.“ Weidezugang haben von den rund 470.000 Rindern in Sachsen gut 25 Prozent.

Die Fragen nach dem Tierwohl und die Beschäftigung mit der Tierethik sind intensiver geworden in den vergangenen Jahren. Verschiedene Arbeitsgruppen ringen bundesweit darum. Es ist eine schwierige Auseinandersetzung über eine komplexe Materie, beginnend damit, wie man Tierwohl definiert. Gerade hat Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir angekündigt, dass die Regierung den Umbau der Nutztierhaltung vorantreiben will. Geschehen soll dies vor allem durch die Tierhaltungskennzeichnung von Lebensmitteln. Dadurch soll die Haltung in den Ställen transparenter werden.

Störrisch, eigensinnig, zäh

Beim Rind dreht sich die Diskussion oft auch um die Produktion von Milch: Damit eine Kuh Milch geben kann, muss sie regelmäßig ein Kalb gebären. Die Kälber dürfen das sogenannte Erstkolostrum der Kuh trinken, dann werden sie weggenommen und getrennt aufgezogen. „Je länger die Kälber bei der Mutter sind, desto intensiver ist die Beziehung und desto schlimmer ist es, wenn die Kälber weggenommen werden“, sagt Anett Präsang. „Deshalb ist es eigentlich besser, sie schnell wegzunehmen, so eigenartig das klingt.“

Anett Präsang ist Tierwirtin seit über 40 Jahren. Bei ihrer Arbeit hat sie Rosienchen kennengelernt. Als die Milchkuh alt wurde und zum Schlachter sollte, hat Anett Präsang sie gekauft, um ihr einen guten Lebensabend zu ermöglichen.
Anett Präsang ist Tierwirtin seit über 40 Jahren. Bei ihrer Arbeit hat sie Rosienchen kennengelernt. Als die Milchkuh alt wurde und zum Schlachter sollte, hat Anett Präsang sie gekauft, um ihr einen guten Lebensabend zu ermöglichen. © ronaldbonss.com

Anett Präsang arbeitet seit über 40 Jahren in einer Milchviehanlage in der Nähe von Leipzig. Die meisten der 500 Tiere haben eine Nummer. „Aber wir Mitarbeiter haben alle unsere Lieblinge, und denen geben wir Namen“, erzählt die 59-jährige. Sie hält einen Eimer mit Rübenschnitzen in der Hand und ruft nach Rosienchen. Die Kuh schreibt sich mit „ie“, weil Anett Präsang den Namen immer so betont, ihn langzieht. „Rosienchen ist wie ich“, sagt sie. „Ein bisschen störrisch, eigensinnig, zäh. Ich mag sie einfach.“

Sie hat Rosienchens Geburt erlebt vor 14 Jahren und sie fast unmittelbar danach zu ihren Kälbern geholt. Hat erlebt, wie Rosienchen zum ersten Mal Mutter wurde und ihr Dasein als Milchkuh begann. Dann wurde sie älter und anfälliger, gab weniger Milch. Im Schnitt werden Milchkühe in der intensiven Landwirtschaft fünf bis sechs Jahre alt, obwohl sie um die 20 werden können. „Manche der Kühe schlafen im Stall ein. Da bin ich immer froh. Aber die meisten kommen weg, zum Schlachter.“

Als es hieß, „Rosienchen kommt weg“, sagte Anett Präsang spontan: „Wenn ihr das macht, geh ich auch.“ Sie kann nicht genau erklären, warum sie das sagte. Sie kennt die Abläufe und Regeln der Tierproduktion, „ich bin selber ein Teil davon und versuche, meine Arbeit gut zu machen, gut mit den Tieren umzugehen.“

Rosienchen geht in Rente

Die Ställe ihrer Anlage seien hochmodern, mit viel Platz, bequemen Liegematten, angewärmtem Wasser, guter Fütterung aus hochwertiger Silage und eigenem Getreide. „Aber je älter ich werde, desto sentimentaler werde ich.“ Es berührt sie, wenn 14 Tage alte männliche Kälber abgeholt werden und in doppelstöckigen Transportern durch Europa fahren, um irgendwo als Mastrind gehalten zu werden. „So ist es, das System. Die Leute wollen viel Fleisch und Milchprodukte essen und dies möglichst billig. Dadurch ist es schwer, ein Rind gesund zu ernähren und artgerecht zu halten.“

Wenigstens Rosienchen sollte nicht zum Schlachter, sie sollte in Rente gehen dürfen. Anett wandte sich an Conny Böttger. Der Verein prüfte, wo die Milchkuh fortan leben könnte, bemühte sich um Gelder für sie. Rosienchen brauchte eine Weile, um sich einzugewöhnen. Sie starrte vor sich hin und fraß nur verhalten. Das änderte sich, als sie begann, sich um die jüngeren Tiere der Glücksherde zu kümmern.

Eva Laudel aus Radeberg engagiert sich im Dresdner Tierschützverein MUHrielle. Hier besucht sie die Herde des Vereins und kümmert sich um Ochse Carlo.
Eva Laudel aus Radeberg engagiert sich im Dresdner Tierschützverein MUHrielle. Hier besucht sie die Herde des Vereins und kümmert sich um Ochse Carlo. © ronaldbonss.com

Manchmal wird Conny Böttger belächelt, manchmal für verrückt erklärt. „Das bin ich nicht. Ich will die Welt nicht neu erbauen, ich will niemanden verteufeln. Die Glücksherde ist nicht die Antwort auf alle Fragen, das ist mir bewusst. Aber wir können uns entwickeln, wir können uns fragen, warum wir Rinder essen, aber zum Beispiel keinen Golden Retriever. Welche Folgen es hat, wenn wir viel billiges Fleisch essen wollen. Und welche Auswirkungen es haben könnte, wenn wir öfters verzichten, uns anders ernähren.“ Conny Böttger ist inzwischen Veganerin, Eva Laudel Vegetarierin. Anett Präsang isst Fleisch, aber kein Rind. „Was ich selber aufgezogen habe, kann ich nicht essen“, sagt sie.

Demnächst wird es wohl wieder Aufregung geben in der Herde. Die Tiere werden im Frühjahr umziehen, in einen wesentlich größeren Stall. Auch die sechs Rinder vom HerzMuht-Hof sollen dort einziehen. Conny Böttgers Traum ist es, einen Gnadenhof zu gründen, ein Sozialprojekt daraus zu machen mit einem Mehrgenerationenhaus, bei dem alle bei der Tierversorgung anpacken. Ihr Sohn hat ihr neulich gesagt: „Mama, wenn du so weitermachst, rettest du eines Tages noch einen Elefanten.“ „Das habe ich eigentlich nicht vor“, sagt Conny Böttger, lacht und blickt zu Carlo, der eine Möhre vertilgt. „Wir haben ja Carlo, der ist fast so groß wie ein Elefant.“