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Mit der Bahncard 100: 17-Jähriger lebt seit über einem Jahr im Zug

Alle reden schlecht über die Deutsche Bahn. Nur er nicht: Lasse Stolley lebt dank Bahncard 100 auf Schienen. Wie der Streik ihn ausbremst und welchen Profi-Tipp er für Passagiere hat.

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Dieser junge Mann lebt in einem Zug - dank der Bahncard 100.
Dieser junge Mann lebt in einem Zug - dank der Bahncard 100. © Lasse Stolley

Von Adrian Schulz

Im Sommer 2022 macht Lasse Stolley seinen Realschulabschluss und trifft eine Entscheidung: Der damals 16-Jährige aus Fockbek in Schleswig-Holstein kauft sich eine Bahncard 100 zum Jugendtarif, mit der er für rund 2500 Euro alle Züge der Deutschen Bahn nutzen kann.

Seine Eltern sind anfangs dagegen, doch Stolley setzt sich durch. Nach einigem Zögern bezahlen sie ihm sogar die Karte. Tagsüber fährt er mit dem Zug quer durch Deutschland, nachts schläft er darin – wenn das Personal nicht gerade streikt.

Geld verdient er als Software-Entwickler, nach einigen Monaten holt er sich einen Internetvertrag mit unlimitiertem Datenvolumen, um zuverlässig arbeiten zu können.

Nach einem Jahr fühlt Stolley sich in der Bahn so wohl, dass er 2023 eine weitere Bahncard 100 kauft, diesmal für die erste Klasse. Damit kann er auch kostenlos in den Aufenthalts-Lounges essen, die die Bahn an großen Bahnhöfen betreibt.

Aus der Lounge am Berliner Hauptbahnhof tritt der heute 17-Jährige, groß, schlank und in Wanderhose. Mit seiner Karte darf er auch einen Begleiter kostenlos hineinnehmen, wenn der ein Ticket hat. Zwischen Kaffeemaschinen, Steckdosen und Zeitungen warten Reisende geschäftig.

Vor der gemeinsamen Fahrt trinkt Stolley einen Früchtetee, räumt die Tassen eines unaufmerksamen Vorgängers vom Tisch in die Geschirrablage, und checkt die Verbindung auf einer speziellen App, an deren Entwicklung er in seiner Freizeit mitwirkt: eine Konkurrenz zum „Navigator“ der DB, leichter bedienbar.

Zur Person

© Lasse Stolley

Lasse Stolley, 17, ist Software-Entwickler und lebt in den Zügen der Deutschen Bahn. Das Programmieren brachte er sich selbst bei, das Zugfahren – als Kind vom Land – ebenfalls. Auf seinem Blog und auf X dokumentiert er die Fahrten, die er seit anderthalb Jahren mit der Bahncard 100 unternimmt. Medien weltweit von der britischen „Sun“ über polnische und italienische Nachrichtenportale bis hin zu einem australischen Radiosender sind auf seine Geschichte aufmerksam geworden. Der Berliner Tagesspiegel begleitete ihn von Berlin bis Hannover. Nach einer störungsfreien Fahrt rollte der ICE-Zug mit nur zwei Minuten Verspätung in den dortigen Hauptbahnhof ein. Laut seiner aktuellen Reisestatistik ist Stolley 581.500 Kilometer auf Schienen gefahren.


Hier will jemand jene Bahn besser machen, die viele für unrettbar halten; hier glaubt jemand an sie, deren Service manchmal so unglaublich schlecht ist. Dabei sind seine Eltern beide Autofahrer, erzählt Stolley auf der Rolltreppe zum ICE 756 nach Münster.

Er selbst habe, bis er die erste Bahncard 100 kaufte, nur zweimal überhaupt den ICE benutzt. Der Zug fährt ein, schnell findet Stolley zwei freie Sitze.

Lasse, du hast einen Realschulabschluss und wolltest gerade eine Ausbildung beginnen, als du beschlossen hast, in der Bahn zu leben. Was ging in dem Moment in dir vor?

Ich wollte mich zum Anwendungsentwickler bei einem kleinen Kölner IT-Start-up ausbilden lassen. Doch das hat die Industrie- und Handelskammer im letzten Moment nicht genehmigt. Auf dem YouTube-Kanal des Frühstücksfernsehens hatte ich ein Video gesehen über jemanden, der auch in der Bahn lebt. So kam ich auf die Idee und stellte sie meinen Eltern vor. Die waren nicht gerade begeistert. Ich hatte mir das aber in den Kopf gesetzt, es gab kein Zurück. Ein paar Tage später kaufte ich mir die Bahncard 100.

Was hast du dir davon versprochen?

Ich hatte eine nicht allzu schöne Schulzeit. Ein großer Teil davon fand während der Corona-Pandemie statt. Mit der Bahn verband ich die Hoffnung rauszukommen, was Neues zu sehen. Reisen hat mir immer gut gefallen. Ich dachte: Dann kann ich durch Deutschland fahren und viele Orte sehen, an die ich schon immer gern wollte.

© Lasse Stolley

Wie hast du deine Eltern überzeugt?

So richtig überzeugen konnte ich sie erst einige Zeit, nachdem ich begonnen hatte. Denn am Anfang lief es gar nicht. Die ersten zwei bis drei Monate meines Lebens im Zug waren Hölle. Meine erste Tour ging nachts nach München, ich habe kaum geschlafen, hatte morgens totale Bauchschmerzen, hab mich sofort nach Ankunft in den Sprinter zurück nach Hamburg gesetzt und war einen Tag später wieder bei meinen Eltern. Dann bin ich erneut los, kam aber immer wieder zurück.

Es hat überhaupt nicht funktioniert. Ich kannte mich nicht aus, habe Züge verpasst, hatte keine Decke zum Schlafen dabei, einen zu kleinen Rucksack und habe mich nur aus der Backabteilung vom Lidl ernährt. Meine Eltern sagten: Lasse, das war eine Schnapsidee, das hältst du nicht mehr lange durch. Aber ich bin drangeblieben, kannte mich irgendwann besser aus, dachte weniger an Fahrpläne als an schöne Reiseziele, lernte ein paar Leute kennen – am Anfang war ich ja nur allein unterwegs. Bei meinen Eltern fahre ich heute vielleicht alle vier oder fünf Wochen vorbei. Dann aber auch nur, um mal Hallo zu sagen.

Welche Orte hast du dir angeschaut?

Erst mal die größeren Städte Deutschlands, in vielen war ich noch nie. München, Stuttgart, Nürnberg – diese ganzen DB-Lounge-Städte. Das sind schon fünfzehn. Oder ich bin nach Rügen gefahren, nach Binz und Sassnitz.

Damit du aus dem Zug gut arbeiten kannst, hast du einen Internetvertrag mit unbegrenztem Datenvolumen. Wie viel Frust über das Bahn-WLAN ging dem voraus?

Die Zeit vor dem Internetvertrag war schwierig. Ich habe es mehr als ein halbes Jahr lang ohne ihn probiert und es hat oft nicht funktioniert. Besonders aufgeregt hat es mich nicht beim Arbeiten, sondern wenn ich YouTube geschaut hab, und dann kam wieder der Ladebalken.