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Wissenschaft und Techno: Dieser Sachse ist Hochschullehrer des Jahres

Forschung, Techno, Podcasts und sehr viel Psychologie – die Mischung bei Prof. Bertolt Meyer ist einzigartig. Was treibt den frisch als "Hochschullehrer des Jahres" ausgezeichneten Chemnitzer an?

Von Stephan Schön
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Bertolt Meyer erhält die Auszeichnung als Professor des Jahres. An der Technischen Universität Chemnitz ist er der Lehrstuhlinhaber für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie. Und legt als DJ Techno auf.
Bertolt Meyer erhält die Auszeichnung als Professor des Jahres. An der Technischen Universität Chemnitz ist er der Lehrstuhlinhaber für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie. Und legt als DJ Techno auf. © SZ/Veit Hengst

Forschung kann so megaspannend sein: Wenn es zum Beispiel um die Gene von Ötzi geht. Oder um die Entstehung unserer Sprache. Um nachwachsende künstliche Knochen oder plastikfressende Bakterien. Aber ausgerechnet Arbeitsorganisation und Wirtschaftspsychologie?

Für Bertolt Meyer sind die für viele eher fad klingenden Fächer nicht nur Beruf, sondern Berufung. Er ist Professor an der TU Chemnitz, einer von derzeit mehr als 51.000 hauptberuflichen Professoren an den deutschen Hochschulen. Aber er ist der einzige "Hochschullehrer des Jahres 2024". Dazu hat ihn gerade der Deutsche Hochschulverband gekürt. Im März bekommt er die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung überreicht. So wie vor ihm unter anderem der aus dem ZDF bekannte Harald Lesch, Corona-Promi Christian Drosten oder die Polarforscherin Antje Boetius.

Sie alle sind großartige Erklärer der Wissenschaft. Sie machen aus Forschung Unterhaltung. Sie geben Wissen an die Menschen im Land weiter. Und Meyer? Die Jury sagt, auch er sei in dieser Hinsicht vorn dabei. Ganz vorn. Ein hervorragender Wissenschaftler mit einem eigenen Wissenschafts-Podcast beim Sender Arte. Als Wissenschaftskommunikator ermögliche Meyer unvoreingenommene Begegnungen und führe Menschen mit unterschiedlichen Haltungen und konträren Positionen zusammen, so die Jury.

Nachts als Techno-DJ unterwegs

Tagsüber steht der 46-Jährige im Hörsaal und spricht über gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Im Labor erforscht er das künftige Zusammenleben von Mensch und Maschine. Privat macht er elektronische Musik, zuletzt erschien bei einem Berliner Label der Track "Where did the day go". Nachts legt Meyer auch schon mal als DJ in verschiedenen Technoclubs auf.

In Technoclubs legt der Psychologieprofessor abends immer wieder mal auf.
In Technoclubs legt der Psychologieprofessor abends immer wieder mal auf. © Össur

Bertolt Meyer, geboren in Hamburg, ist kein gewöhnlicher Hochschullehrer. Auch deshalb nicht, weil seine Forschung und die persönliche Lebensgeschichte eng miteinander verwoben sind. Er hat nämlich eine bionische Hightech-Hand. Von Geburt an fehlte ihm der linke Unterarm. Jetzt lebt und forscht er mit dieser besonderen Prothese. Und erklärt in der Vorlesung den Studenten auch, wie das funktioniert.

Der Hörsaal der Chemnitzer TU wirkt alt, so gar nicht innovativ. Große Kreidetafeln hinter einem Podest mit Rednerpult. "Ich begrüße Sie zur heutigen Ausgabe von ...", so empfängt Meyer die Studenten zu jeder seiner Vorlesungen. "Das hier macht mir richtig Spaß", sagt er. "Anderen etwas zu erklären, was man selbst gut verstanden hat. Ich hoffe, die Studierenden merken das." Offenbar schon, denn auch das ist nun mal ein Kriterium für einen "Hochschullehrer des Jahres".

Der Professor hockt auf einem Podest im leeren Hörsaal und erzählt von seinem Job, über den er ohne Unterbrechung für die Dauer einer Vorlesung lang schwärmen könnte. Mensch und Maschinen. Für ihn ist das eine faszinierende Welt, die soeben zusammenwächst. "Hybride Gesellschaften: Menschen in Interaktion mit verkörperten Technologien", so nennt sich der Sonderforschungsbereich mit etwa 90 Mitarbeitern, den er leitet. Sie denken über die Zukunft der Mensch-Maschine-Gesellschaft nach. "Wir schauen, wie Technologie gestaltet sein muss, damit Menschen und Maschinen in Zukunft gut zusammenleben können."

Maschinen helfen uns, sie machen das Leben leichter, sagt der Wissenschaftler. Und: "Wir werden uns den öffentlichen Raum mit den Maschinen teilen müssen, die sich selbstständig durch diesen Raum bewegen. Das kann entweder gut sein für uns oder eben auch schlecht." Es geht um eine Zukunft, die nicht mehr nur Vision ist. Es geht um Roboter, autonome Fahrzeuge, Drohen. Intelligente Prothesen und Sensoren am und im Körper. Menschen unter sich koordinieren sich meist recht gut, stimmen ihre Bewegungen relativ reibungslos ab. Aber Maschinen?

Meyer und seinem Team geht es darum, den Einsatz digitaler Technologien an den menschlichen Bedürfnissen auszurichten. Die Maschinen sind Diener, nicht umgekehrt. "Wir haben jetzt die Chance, diesen technologischen Wandel so zu gestalten, das viele Menschen davon profitieren. Jetzt!" Er sagt das mit Nachdruck. Denn sei die Technik erst einmal da, sei es zu spät.Mit Realexperimenten und Versuchsgruppen, mithilfe virtueller Welten, mit Fragebögen und Tests arbeitet Meyers Team. Es ergründet, was die Menschen an der Technik schätzen, was sie wirklich brauchen, was sie wollen – oder eben auch was sie verschreckt und stört.

Maschinen helfen den Menschen

Wenn eine KI, eine Künstliche Intelligenz, beispielsweise die gesamte Dokumentation im Pflegebereich übernehmen könnte, wäre das doch schon mal entlastend, sagt Meyer. Wenn ein Exoskelett dabei unterstützt, schwere pflegebedürftige Menschen anzuheben, wäre das eine enorme Hilfe. Wenn ein Serviceroboter auf Knopfdruck Pflegebedürftigen Speisen und Getränke bringen könnte, hätten Pflegekräfte mehr Zeit für Wichtigeres. "Aber wie kommt das bei den alten Menschen an? Wie fühlen sie sich, wenn morgens erst mal ein Cyborg durch die Tür kommt?" Um solche Fragen dreht sich Meyers Forschung. Er kann nichts verhindern, aber lenken.

"Viele Technologien werden auch deshalb kommen, weil sich damit viel Geld verdienen lässt." Das weiß er natürlich als Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie. Neue Technologien wie sie jetzt mit der KI und Chat-Robotern für jeden zugängig werden, sind ja nicht von sich aus gut oder schlecht. "Wenn wir die richtigen Leitplanken ziehen, dann wäre dies für eine Gesellschaft gut. Das aber können wir nicht den Ingenieuren und Betriebswirten überlassen."

Mit seiner bionischen Hightech-Hand kann Bertolt Meyer viele ihm sonst unmögliche Dinge des Alltags erledigen.
Mit seiner bionischen Hightech-Hand kann Bertolt Meyer viele ihm sonst unmögliche Dinge des Alltags erledigen. © kairospress

In seinem Sonderforschungsbereich "Hybride Gesellschaften" sind Psychologen, Wirtschaftswissenschaftler, Ingenieure, Informatiker und Physiker mit dabei. Bis Juni noch. "Gerade kam die Mail, dass das nicht verlängert wird", bedauert er. Es für die kommenden vier Jahre nicht die zwölf Millionen Euro, die es bisher gab. Und daher auch keine zusätzlichen 30 Doktoranden. "Das ist nicht die erste Klatsche, die ich kassiere. Aber es ist die härteste Niederlage in meiner beruflichen Laufbahn", gibt er zu.

Wissenschaft ist wie eine Achterbahnfahrt

Sein Sonderforschungsbereich war ein neuer Ansatz mit Forschung zwischen den etablierten Fachdisziplinen. Seitenlang bestätigt die Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wie wichtig das Thema sei. Doch es gebe wohl zu viele Anträge und zu wenig Geld. "Wissenschaft ist wie eine Achterbahnfahrt, mal geht’s nach oben, mal geht’s nach unten", konstatiert Bertolt Meyer. Zuckt mit den Schultern, schaut kurz nach oben, als wenn’s von dort käme. "Manchmal fällt halt so eine Mail herab, ein andermal eine andere Mail."

Keine Woche ist es her, da kam ebenfalls per Mail die Mitteilung bei ihm an, dass er Hochschullehrer des Jahres wird. Ausgewählt von einer Jury. Wie er überhaupt auf die Liste gekommen ist, das weiß Bertolt Meyer nicht, auch nicht wer ihn vorgeschlagen hat. "Bertolt Meyer, der Vielfalt lebt und liebt, macht Wissenschaft nahbar und nachvollziehbar", erklärt der Präsident des Deutschen Hochschulverbands Lambert T. Koch. Mit seinem außergewöhnlichen Engagement für mehr Vielfalt steigere er das Ansehen der Wissenschaft und lasse "den Berufsstand der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer auch außerhalb des akademischen Umfelds in positivem Licht erscheinen".

Was die gute Laune jedoch wieder in den Keller fahren, ist das Ende des Sonderforschungsbereichs im Juni. Aber aufgeben? Nicht mit Bertolt Meyer. Am nächsten Großprojekt und neuen Forschungsanträgen schreibt er bereits. Mit dutzenden Experimenten und hunderten Personen.

Drei Themen interessieren ihn besonders. Alle haben sie mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüchen zu tun. Es ist die Vielfalt am Arbeitsplatz und die Auswirkungen auf die Teams. Positiv wie negativ. Es geht ihm um psychische Belastungen am Arbeitsplatz. Und dann für ihn ganz groß dabei die digitale Transformation mit der Verschmelzung von Mensch und Technologie. Sein bionischer Arm ist dafür so ein Beispiel. Der macht ihm das Leben viel leichter. Doch wie sehen das die Menschen um ihn? Warum lehnen manche solche Technik auch ab? Sehen sie darin eine technische Menschenverbesserung? Wo liegen die Grenzen?

Im Interview mit der SZ: Prof. Bertolt Meyer, der Hochschullehrer des Jahres.
Im Interview mit der SZ: Prof. Bertolt Meyer, der Hochschullehrer des Jahres. © SZ/Veit Hengst

An die geht Meyer bei sich selbst heran. Er hat mit einem Elektronik-Freak, dem Gründer eines Start-ups, einen Computer-Hack bei seinem Arm gemacht. Diese andere Prothese hat jetzt Steckkontakte für die Kabel zum Synthesizer. Von dem Start-up-Unternehmen eigens dafür konzipierte Elektronik codiert seine Körpersignale. Diese würden normalerweise Muskeln ansprechen, die er ja im linken Unterarm nicht hat. Die in der Techno-Prothese eingebaute Technik wandelt die Körpersignale in elektronische Steuersignale für einen Synthesizer um.

Meyer sagt: "Für mich fühlt es sich an, wie mit Gedanken Musik zu machen." Sein Ehemann, Künstler und Experte im 3-D-Druck, hat alles in Form gebracht. 2020 war das. Seitdem steht er damit bei Konzerten auf der Bühne. "Mir macht es Spaß, so Musik zu machen." Und als Psychologe gesteht er sich auch ein: "Es ist in unserer Aufmerksamkeitsökonomie freilich auch ein guter Verkaufspunkt. Das schadet nicht dabei, einen guten Gig zu kriegen."

Damit nicht genug. Der zweite Prototyp ist fast fertig, darin sind Teile, die in einer Chipfabrik individuell gefertigt wurden. Das alles liegt bei Bertolt Meyer daheim in einer Kiste und wartet nur noch auf einige Lötstellen – seit Monaten. "Ich komme einfach nicht dazu, das zusammenzulöten. Vielleicht nach Weihnachten, das ist der Plan." Sagt’s, springt auf und stürzt los. Der Fakultätsrat tagt, ruft er im Gehen.

Der Hörsaal bleibt leer. Heute ist er zumindest hier nicht mehr dran. Bei der nächsten Vorlesung wird er seinen Studenten allerdings zwei Dinge außer der Reihe erklären müssen: Das mit dem Ende des Sonderforschungsbereichs. Und das mit dem Super-Prof. – Wissenschaft ist eben wie eine Achterbahnfahrt.