Wenn Mike Weidner auf die Uhr schaut, weiß er genau, was die Stunde schlägt: Kurz vor Viertel fährt ein Triebwagen der Odeg von Zittau nach Görlitz vorbei, kurz nach Dreiviertel noch einmal das gleiche Spiel, aber in die andere Richtung. Zwei, drei Meter nur sind die Gleise von seinem Grundstück entfernt. "Nichts da mit selbst ausgesuchtem Elend", beugt der 49-Jährige jeglicher Vermutung vor. "Ich bin gerne hier. Auch wenn auf der anderen Seite zusätzlich noch die B99 liegt. Den Verkehr auf Schiene und Straße höre ich fast gar nicht mehr."
- Nachrichten per Push erhalten - hier können Sie sich anmelden.
Weidner ist ein vielseitig interessierter Mensch, der auch beruflich schon etliches erlebt hat. In seiner Jugend ließ er sich zum Steinmetz ausbilden, war später künstlerisch und als Handwerker unterwegs, hatte mit Glasgestaltung und Panoramafotografie zu tun. Zwölf Jahre fuhr er zur See und schipperte mit riesigen Kreuzfahrtschiffen durch die Meere. Bei den Shows unter Deck kümmerte er sich um die Bühnentechnik. In der Freizeit war er Mitglied einer Band. "Living Sorrow" - lebendiger Kummer. Gothic Metal. "Da haben wir es schon ordentlich krachen lassen", erinnert sich der einstige Keyboarder.
Doch gerade die Musiktruppe war es, die ihm zum winzigen Bahnwärterhäuschen an der B99, unmittelbar hinter dem Bahnübergang zwischen Zittauer und Mittelherwigsdorfer Gewerbegebiet Weinau und Drausendorf, verhalf. "Wir hatten in den 1990er Jahren in Seifhennersdorf einen Probenraum - in der alten Schuhfabrik. Der wurde uns gekündigt. Warum weiß ich nicht, vielleicht waren wir tatsächlich ein bisschen zu laut." Weidners Eltern lebten in Dittelsdorf. "Um sie zu besuchen, fuhr ich über die B99, natürlich immer an dem kleinen Haus zwischen den Schienen und der Straße vorbei. Irgendwann kam mir der Gedanke: Das kaufe ich. So einsam und allein. Hier könnten wir Krawall machen, so viel wir wollen."
- Nachrichten von Sächsische.de gibt es auch auf Facebook aus Löbau und aus Zittau.
Doch als er das seit mehreren Jahren leer stehende Objekt 1999 von der Treuhandliegenschaftsgesellschaft erwarb, gab es keine Band mehr, die hätte hier proben können. "2000 bin ich deshalb dann selbst eingezogen", erzählt Weidner. "Klein, aber mein" - noch heute ist er froh, dass er sich zu diesem Schritt entschlossen hat. "Die ersten Jahre waren vielleicht ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber ich habe das Haus längst lieben gelernt." Vor allem, weil in ihm der Charme der Vergangenheit wohnt. Weidners Nachbar, von der anderen Straßenseite, hat ihm darüber schon viel erzählt.
"Ich habe noch die Bahnwärter gekannt, die hier beschäftigt waren", so Eberhard Eißner. Vier Personen hätten im Wechsel ihren Dienst verrichtet. Sogar die Namen sind dem Rentner noch geläufig: "Alwin und seine Frau Helene Geisler. Die wohnten im Haus, mit ihren vier Kindern. Karl Thiel und Oskar Hoffmann kamen nur, wenn sie gerade Schicht hatten und quartierten sich für diese Zeit in der kleinen 'Dienstbude' ein." Als Kind schaute Eißner oft zu, wie die Technik funktionierte, wie die Schranken mit der Hand hinunter und wieder hochgekurbelt wurden. Es kamen riesige Dampfloks mit langen Kohlezügen. Wenn der Verkehr stoppen musste, stauten sich die Autos viele hundert Meter lang auf der Straße vor dem Haus. "Für mich als kleiner Junge war das eine interessante Zeit. Und auch später noch habe ich das gern beobachtet."
- Mehr Nachrichten aus Löbau und Umland sowie Zittau und Umland
Erbaut wurde das winzige Bahnwärterhäuschen im Jahr 1875. Am 1. Juli des gleichen Jahres ging die Bahnstrecke zwischen Zittau und Görlitz in Betrieb. Aus seiner "Dienstbude", einem kleinen Vorbau in Richtung Gleis, konnte der Bahnwärter aus zwei Fenstern den Zugverkehr aus beiden Richtungen beobachten. Über eine Telegrafenleitung kam das Signal, wann zu kurbeln war. Der Mast steht noch heute, ist inzwischen bei Vögeln als Ansitz beliebt. Auch das "Büdchen" hat überdauert und wird von Mike Weidner als Schuppen genutzt.
"Als ich hier einzog", erzählt er, "haben in den Schränken jedes Mal die Gläser gewackelt, wenn ein Zug vorbeikam. Das waren noch richtig schwere Kolosse: vorn und hinten eine Diesellok, in der Mitte nur ein Wagen. Das Rattern auf den Schienen war nicht zu überhören." 2004, schätzt Weidner, sei dann das Gleisbett erneuert worden. Die Schienen wurden verschweißt. "Seitdem ist wirklich kaum noch was zu hören. Ich habe das komplett ausgeblendet."
Auch der erneuerte Bahnübergang habe viel zur Ruhe in seinem Grundstück beigetragen. "Früher standen ab und zu mal Autos in meinem Garten, wenn sie die Kurve nicht gekriegt hatten. Auch Unfälle kamen vor." Heute dagegen fließt der Verkehr, die Schließzeiten der Schranken sind nur noch minimal.
- Sie haben Hinweise, Kritik oder Lob? Dann schreiben Sie uns per E-Mail an sz.loebau@sächsische.de oder sz.zittau@sächsische.de
Wo einst die Bahnwärter lebten, hat es sich Mike Weidner gemütlich gemacht. Unten ein großes Wohnzimmer, Bad und Küche. Darüber Platz zum Schlafen. Im Garten steht ein historischer Bahnwaggon, den ihm viele Fans schon streitig machen wollten. Um ihn baulich zu schützen und auch "ein bisschen zu tarnen", hat ihn Weidner mit einer Holzumhüllung versehen. Drumherum brummt, flattert und piept es allenthalben. Draußen, an der Straße, steht ein Schild mit der Aufschrift "Bienenwiese". "Hier wuchert nichts. Aber ich bin Naturfreund und freue mich, wenn es 'kreucht und fleucht'." Bei klarem Wetter der Blick hinüber zum Jeschken, am Abend dann hinter den Bahnschienen Wildschweine und Rehe. Ab und zu kommt sogar ein Fuchs mal in den Garten. Eine Idylle, die bei ungünstiger Windrichtung nur der nahe Tagebau mit seinen Geräuschen stört.
Wer noch Informationen, Dokumente und historische Bilder zum Bahnwärterhäuschen an der B99 hat, den bittet Mike Weidner, Kontakt mit ihm aufzunehmen.