Der Tote ist übel zugerichtet: Er hat schwerste Kopfverletzungen, das Nasenbein und mehrere Rippen sind gebrochen, der ganze Körper ist von Hämatomen übersät, die Lunge ist voller Blut. Der Anblick der Leiche ist ein Schock für den Spaziergänger, der an diesem kühlen Herbstmorgen auf der Zittauer Schliebenstraße unterwegs ist. Es ist der 27. Oktober 1996, ein Sonntag, als 8.45 Uhr die diensthabenden Beamten der Görlitzer Mordkommission ans Ufer der Mandau gerufen werden. Es wird 20 Jahre dauern, bis die Schuldigen an diesem grausamen Tod endlich gefasst sind.
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Nachdenklich blättert Ivonne Nagel in den vergilbten Seiten eines dicken Aktenordners. Es sind die ersten Bilder und Spuren vom Fundort der Leiche, die ersten Zeugenvernehmungen, die ersten Erkenntnisse aus der Gerichtsmedizin an jenem Sonntag vor 25 Jahren. "Wenn man das Ende der Ermittlungen jetzt kennt, dann sieht man, dass die Kollegen damals von Anfang an auf der richtigen Spur waren und auch alles richtig gemacht haben", sagt die Kriminalhauptkommissarin aus Bautzen. Am Ende wird es ihr und ihren Kollegen von der Mordkommission gelingen, das zwei Jahrzehnte lange Schweigen der Täter und Mittäter zu brechen.
Der Tote, der brutal gequält und zu Tode geprügelt wurde, ist Hans-Georg B., 46 Jahre alt, arbeits- und wohnungslos. Als er stirbt, hat er 1,82 Promille Alkohol im Blut. Schnell richten sich die Ermittlungen auf das Zittauer Trinkermilieu, in dem B. lebt, in dem sie ihn den "Schorsch" nennen und in dem er zahlreiche Kumpane hat. Schnell ist auch klar, dass der Fundort der Leiche nicht der Tatort ist, dass die Täter den Schorsch an der Mandau einfach nur "entsorgt" haben. Am Fundort gibt es keine verwertbaren Spuren.
Alle Verdächtigen haben ein Alibi
"Die Kollegen haben damals unzählige Befragungen geführt - in den Trinkergruppen und unter den Anwohnern, sie haben sogar alle Teilnehmer eines Klassentreffens ausfindig gemacht und befragt, das am Tatabend im nahegelegenen Hotel "Dresdner Hof" stattgefunden hatte", schildert Ivonne Nagel. Und eine Zeugin wird aussagen, dass sie nachts gegen 1 Uhr dumpfe Geräusche gehört habe, die wie Schläge oder Tritte auf einen Menschen geklungen hätten, auch Männerstimmen und deutliche Rufe: "Hör auf, hör auf".
Die Ermittler starten eine groß angelegte Öffentlichkeitsfahndung, später setzt die Polizei sogar eine Belohnung von 3.000 Euro aus. Doch auch die damit erhofften Hinweise aus dem Milieu bleiben aus. "Die Kollegen hatten mehrere Verdächtige im Visier, aber sie sind einfach nicht weitergekommen", erzählt Ivonne Nagel. "Die Verdächtigen hatten alle ein Alibi." Den letzten Hinweis auf Hans-Georg B. gibt es am 26. Oktober von einem Kiosk am Grenzübergang an der Zittauer Chopinstraße. Dort hat er zwischen 15 und 17 Uhr zwei, drei Flaschen Bier getrunken. Danach verliert sich seine Spur. Am 12. November 2001 werden die Ermittlungen im Fall "Mandau" vorläufig ergebnislos eingestellt.
Doch den Görlitzer Oberstaatsanwalt Sebastian Matthieu lässt der ungeklärte Todesfall keine Ruhe. Anfang 2014 - zwei Jahre vor Ablauf der Verjährungsfrist - bittet er die Kriminalisten der Mordkommission, den Fall noch einmal aufzurollen. Vielleicht gibt es ja jetzt - nach fast 20 Jahren - Zeugen, die reden. Womöglich liegt ja auch einem oder einer der damals Beteiligten eine Last auf dem Gewissen, die er oder sie jetzt loswerden wollen.
Ivonne Nagel übernimmt den Fall als Hauptsachbearbeiterin. "Wir sind dann die ganze Akte noch einmal Seite für Seite durchgegangen", erzählt die 41-Jährige. "Und danach haben wir angefangen, alle damals schon Befragten aus dem Trinkermilieu noch einmal aufzusuchen." Ivonne Nagel fährt zu Anett D., inzwischen Mitte 40, die damals ausgesagt hatte, sie hätte Hans-Georg B. am Nachmittag des 26. Oktober zum letzten Mal gesehen.
Eine jahrelange Last von der Seele geredet
"Bei dem Gespräch habe ich gemerkt, dass Frau D. aufgewühlt und unsicher wirkte", erinnert sich die Kriminalistin. "Sie hatte sich gegenüber ihrer früheren Aussage auch ein bisschen in Widersprüche verstrickt." Ivonne Nagel gibt Anett D. ihre Telefonnummer: "Rufen Sie mich einfach an, wenn Ihnen noch etwas einfällt", sagt sie beim Verabschieden.
Kurze Zeit später geht beim Zittauer Polizeirevier eine Anzeige wegen Ruhestörung ein. In der Wohnung von Anett D. ist ein heftiger Streit im Gange. Ihr Freund hat eine unbekannte Telefonnummer auf ihrem Handy entdeckt. Den von Nachbarn wegen des Lärms herbeigerufenen Beamten des Zittauer Polizeireviers erzählt Anett D. mit zwei Promille Alkohol im Blut: Die Nummer, die der Auslöser des Streits war, sei vom Chef der Mordkommission, sie wisse da nämlich etwas...
Am Vormittag des 11. August 2016 sitzt Ivonne Nagel Anett D. erneut gegenüber. Und an diesem Tag - endlich - bricht die Zittauerin ihr Schweigen, erzählt mehr als zwei Stunden lang, was damals an jenem Abend des 26. Oktober 1996 in ihrer Wohnung geschehen ist. "Sie hat sich diese jahrelange Last von der Seele geredet und schien am Ende sehr erleichtert zu sein", sagt die Ermittlerin. "Am Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen hatte ich keinen Zweifel."
Anett D. beschuldigt ihren damaligen Lebensgefährten Hagen T. und seinen Kumpel Jan R., Hans-Georg B. zu Tode gequält, geprügelt und getreten zu haben. "Als wäre bei denen im Kopf etwas explodiert", so wird sie das bei ihrer Vernehmung ausdrücken und diesen verhängnisvollen Abend vor 20 Jahren so detailliert schildern, als wäre es erst gestern gewesen:
Es hatte mal wieder ein Trinkgelage in ihrer Wohnung gegeben, sechs Personen - vier Männer, zwei Frauen. Als das Bier alle ist, soll der Schorsch Nachschub holen. Weil er sagt, er habe kein Geld mehr, entbrennt dieser Streit, der immer handgreiflicher und brutaler wird - bis der Schorsch nicht mehr atmet. Die Männer hieven den Toten in eine Mülltonne und kippen ihn am Ufer der Mandau aus, die Frauen putzen die Küche und verbrennen den blutgetränkten Teppich stückweise im Kachelofen. Am nächsten Tag sprechen sich alle sechs eine Geschichte ab, die sie bei den Vernehmungen unisono erzählen.
Am Ende kommt die Wahrheit doch noch ans Licht
"Wir hatten dann auch das Glück, dass das Haus, in dem die Tat geschehen ist, seit Jahren leer stand und die Wohnung, zu der uns Frau D. schließlich geführt hat, seitdem auch nicht renoviert worden ist", schildert Ivonne Nagel. "So konnten die Ermittler am Kachelofen, an den Wänden und auf dem Fußboden unter UV-Licht auch nach 20 Jahren noch Blutspuren sichtbar machen."
Die Ermittler entscheiden sich daraufhin für den Klassiker: "Wir hatten geplant, alle Beschuldigten gleichzeitig zur Vernehmung ins Zittauer Amtsgericht zu laden", erzählt Ivonne Nagel. Es ist der 12. September 2016 - wenige Wochen vor dem Ablauf der Verjährungsfrist - als sie bei den Vernehmungen schließlich alle die Wahrheit sagen. Später werden der Tathergang in der Wohnung und der Weg bis ans Mandau-Ufer minutiös rekonstruiert - und die Ermittlungsakte im Fall "Mandau" wird am Ende weit über 1.000 Seiten umfassen.
Hagen T., der Haupttäter, wird wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Er hat die Strafe inzwischen verbüßt. Jan R. kommt als Mittäter mit Bewährung davon. Die anderen Beteiligten können wegen der damaligen Falschaussagen nicht mehr belangt werden. Die Last auf ihrem Gewissen aber wird bleiben.