SZ + Sachsen
Merken

Wie eine Frauenärztin gegen Corona kämpft

Eva Klatte sieht es als Auftrag, alle Willigen zu impfen. Dadurch tummeln sich in ihrer Leipziger Praxis auf einmal Menschen, die sie sonst nie sieht.

Von Franziska Klemenz
 10 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Eva Klatte bereute früher in ihrer Leipziger Praxis nur Frauen. Seit sie impft, kommen alle.
Eva Klatte bereute früher in ihrer Leipziger Praxis nur Frauen. Seit sie impft, kommen alle. © Franziska Klemenz

Der Holzboden der Praxis knarzt, als die zwei Frauen zum Tresen stapfen. Simona und Raquel sind Stamm-Patienten, sie wissen, wie es läuft. Normalerweise kommen die Transfrauen zu Eva Klatte, weil sie Frauenärztin ist. An diesem Tag sind die langhaarigen Damen, die früher einmal Männer waren, zu der Ärztin in der Leipziger Innenstadt gekommen, um ihre Booster-Impfung abzuholen. „Sobald der Impfstoff da war, haben wir gebibbert, dass wir einen Termin kriegen“, sagt Simona. Wie alle Patientinnen und Patienten in diesem Text heißt sie in Wirklichkeit anders.

Es sind ungewöhnliche Gesichter, die den beiden im Wartezimmer entgegen blicken. Etwa die Hälfte der Wartenden sind Männer. Seit dem Frühling bietet Eva Klatte Impfungen für alle an. "Hier sitzen 69 Jahre alte Herren neben der Transfrau neben der hochschwangeren vollverschleierten Muslima", sagt die Ärztin. "Die Leute sprechen miteinander, das Impfen bringt die Leute zusammen." Während die Impf-Frage Menschen auf der Straße oder in Whatsapp-Familienchats spaltet, geschieht bei Klatte das Gegenteil.

"Wenn es einen Flugzeugabsturz gibt, müssen auch alle helfen“

"Wenn wir impfen, ist die Ausnahmesituation schneller vorbei, deshalb halte ich es für selbstverständlich, wenn ich mich daran beteilige.“ Klatte hat sich Grundlagen angeeignet, hört alle Podcasts mit dem Virologen Christian Drosten, der alle aktuellen Studien kenne. „Das Impfen neben dem Praxisalltag ist anstrengend, aber was ist die Alternative? Wenn es einen Flugzeugabsturz gibt, müssen auch alle helfen.“

Eva Klatte verbringt im Durchschnitt gerade 14 Stunden täglich in der Praxis: "Mein Team ist am Limit."
Eva Klatte verbringt im Durchschnitt gerade 14 Stunden täglich in der Praxis: "Mein Team ist am Limit." © Anja Jungnickel

Eine steinerne Eingangshalle mit Weihnachtsbaum führt zu Klattes Praxis. Die Ärztin blickt über einen gebogenen Schreibtisch hinweg in einen Raum mit mindestens vier Meter hohen Wänden. Ein Gemälde mit Wolken und Engeln ziert die Decke, weiße Holzvertäfelungen die minzfarbenen Wände. Klatte wirkt daneben eher schnörkellos. „Ich bin ein sachlicher und strukturierter Mensch.“ Von Moralkeulen, Panikmache und sozialem Druck halte sie wenig. Eher von Fakten.

„Wir haben eine queere Praxis. Ein hoher Prozentsatz unserer Klientel ist nicht geimpft, weil sie sich in alternativen Spektren bewegt. Ich vertrete den solidarischen Ansatz sehr, aber kann ihn nicht allen überstülpen.“ Im Normalbetrieb bietet Klatte Schul- und Alternativmedizin an. An diesem Vormittag hat die Praxis nur geöffnet, um zu impfen. 28 Spritzen sind geplant. Klatte ruft eine Patientin rein.

„Wie haben Sie es letztes Mal vertragen?“

„Die erste gut, die zweite schlecht.“

„Diesmal kriegen sie einen anderen Impfstoff. Moderna. Das war ein Fauxpas des bisherigen Gesundheitsministers.“

Regelmäßig erhält Klatte nur einen Bruchteil der bestellten Dosen. Das Chaos herrscht, seit Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn angekündigt hat, fortan nur noch begrenzt Biotech-Impfstoff zu vergeben, damit der von Moderna nicht verdirbt. „Moderna ist ein toller Impfstoff, aber meine meisten Patientinnen sind schwangere Frauen und jünger als 30.“ Seit einiger Zeit ist Moderna nicht mehr für Menschen unter 30 und nicht mehr für Schwangere empfohlen.

"Die Schwestern sind am Limit"

„Wir haben grundsätzlich nicht das bekommen, was wir bestellt haben. Es haut alles nicht hin.“ Aus einer Ampulle Biontech kann sie sechs, aus einer Ampulle Moderna zehn bis zwanzig Dosen ziehen. „In einem Impfzentrum ist das natürlich entspannter. Das liegen 200 Spritzen und die nehmen, was gerade passt. Wir konnten nur trotzdem impfen, weil wir unter einem immens hohen Aufwand umorganisiert haben.“ Knapp 200 Menschen hat Klatte innerhalb der vergangenen zwei Wochen geimpft - neben der Sprechstunde. „Die Schwestern sind am Limit.“

Der nächste Patient betritt zum ersten Mal eine Gynäkologie-Praxis. Der Dialekt des 68-Jährigen, der in der Immobilienbranche arbeitet, verrät, dass er aus Bayern stammt. „Wie haben Sie die ersten beiden Impfungen vertragen?“ Der Mann zuckt mit den Schultern. „Hob gor nix gmerkt.“ Hinter einer Trennwand aus Stoff verbirgt sich ein Ultraschall-Gerät, im Bücherregal reihen sich Fach-Werke aneinander. Der „Farbatlas der Vulva-Erkrankungen,. „Akupunktur für Hebmammen“.

Wie diesem 68-Jährigen ergeht es in der Praxis von Eva Klatte vielen Männern: Sie besuchen zum ersten mal die Frauenärztin.
Wie diesem 68-Jährigen ergeht es in der Praxis von Eva Klatte vielen Männern: Sie besuchen zum ersten mal die Frauenärztin. © Franziska Klemenz

Im Nebenraum tummeln sich Spritzen und Pflaster in glänzenden Nierenschalen. Babyfotos plakatieren die Wand. Von Judith, Katina oder Amal, Hanako, Luise oder Malte. Oft steht ein „Dankeschön“ daneben. Der 68-Jährige krempelt die Ärmel hoch. Die Nadel versinkt in seinem Arm. Zack, booster. „Blitzartig“, kommentiert er.

Zwei Erdmännchen und ein Gürteltier in Miniaturgröße starren von einem weißen Regal am Empfang hinab. „Ich bin der Johann“, stellt sich ein Mann, Typ Gitarren-Lehrer, vor, dessen grau-braun melierte Haaren auf seinem Kopf durcheinander wirbeln. Die Arzthelferin fragt nach seinem „Kärtchen“. „Ich brauche eine Versicherungskarte?“„Natürlich.“ Die Helferin runzelt die Stirn. „Geht auch ein Führereschein?“ Kopfschütteln.

Warum sind nicht mehr Praxen zum Impfen verpflichtet?

„Der Mann einer Patientin hat seine Karte vergessen. Kann er trotzdem?“, berichtet die Helferin. Klatte zieht sich die Maske auf die Stirn, als wäre es eine Bergarbeiter-Lampe. „Aber er kriegt sein Zertifikat erst wenn, er die Karte bringt.“

Etwa 14 Stunden verbringt Klatte gerade täglich in der Praxis. Dass die Kassenärztliche Vereinigung (KV) nicht mehr Praxen zum Impfen verpflichtet, irritiere sie. „Wenn ich mich niederlasse, habe ich einen Auftrag. Ich habe die Berechtigung und damit auch die Verpflichtung, schulmedizinisch zu arbeiten. Dazu gehört Präventionsmedizin: Impfungen.“

Wer bestimmte Fortbildungen nicht besucht, erhält weniger Geld. „Ich verstehe nicht, warum die KV akzeptiert, dass angeblich über 50 Prozent der Hausarzt-Kolleginnen nicht impfen. Grundsätzlich gehört es zu unseren ureigensten Tätigkeiten als Arzt.“

Eine Brillenträgerin Mitte 20 legt ihre Fahrradtasche auf dem Boden ab. „Es kann sein, dass Sie gar nichts merken“, sagt Klatte. „Wir im Team haben uns gefühlt, als wären wir gegen die Tür gerannt. Anders als bei den ersten Impfungen ist, dass die Lymphknoten anschwellen können. Der Zyklus kann sich durch die Boosterung verschieben, aber keine Panik. Verhüten in dem Monat wäre sinnvoll.“ So ausführlich wie in dieser Praxis laufen Aufklärungen selten. „Viellicht der Luxus, den wir gegenüber Impfzentren haben.“

Eine türkisfarbene Lesebrille steckt auf dem Pony der nächsten Patientin. Alles andere an ihr ist grau. „Es sind erst drei Wochen seit Ihrer Erstimpfung. Ich muss Sie darüber aufklären, dass die Antikörperbildung steigt, wenn mehr Zeit bis zur Zweitimpfung vergeht.“ Die Frau kräuselt die Lippen. „Ich mach das hauptsächlich wegen der gesellschaftlichen Repression.“ Klatte klärt auf. Über Fieber, Kopfschmerzen.

„Ich füge mich nur der Gesellschaft"

„Das ist ein solidarischer Akt, dem Sie sich da fügen“, sagt Klatte. „Nein“, entgegnet die Frau. „Ich füge mich nur der Gesellschaft.“ Klatte zeigt keine Regung. „Dann haben Sie trotzdem meine Hochachtung.“ Die Frau verschwindet.