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Wie schädlich waren die Wochenkrippen in der DDR?

Die Dresdner Historikerin Heike Liebsch hat sich mit der Wochenbetreuung für Babys und Kleinkinder in der DDR beschäftigt. Nicht nur sie sieht die Wochenkrippe kritisch.

Von Christina Wittig-Tausch
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Sport in der Wochenkrippe auf der Saalhausener Straße in Dresden, 1963.
Sport in der Wochenkrippe auf der Saalhausener Straße in Dresden, 1963. © Foto: SLUB/Deutsche Fotothek/Hö

Die Bilder steigen immer häufiger im Kopf auf. Sabine Wagner, die in Wirklichkeit anders heißt, fühlt sich elend dabei. Manchmal kommen sie schemenhaft, manchmal blitzartig. Da ist die Mutter, die mit der kleinen Sabine ein großes Haus betritt und sagt, dass sie nur etwas holen wolle, aber dann ist die Mutter weg, und Sabine ist allein an einem Ort, an dem sie absolut nicht sein will. Sie sieht die etwas älter gewordene Sabine vor sich. Der Stiefvater schlägt sie, weil Sabine die Abendbrot-Schnitte nicht heruntergebracht hat, und die Mutter tut nichts, sie geht weg. Sabine hat begonnen, über die Bilder zu schreiben. Sie kommen oft, seit sie in Rente ist. „Ich habe Kinder großgezogen, als Sekretärin gearbeitet, ein altes Haus renoviert“, sagt sie. „Ich war bemüht, meine Kindheit hinter mir zu lassen. Aber jetzt ist mehr Zeit als früher. Auch für Gedanken.“

Kürzlich hat die Dresdnerin einen Film gesehen über die Wochenkrippen der DDR. Das sind jene Einrichtungen, in die Eltern ihre Kinder in einem Alter zwischen sechs Wochen und drei Jahren montags hinbrachten und zum Wochenende abholten. Die ersten Einrichtungen eröffneten wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, die letzten schlossen 1992. Sabine erfuhr, dass manche der sogenannten Wochenkinder psychische und körperliche Probleme haben, mitunter lebenslang. Einige der Symptome, die beschrieben wurden, kennt Sabine von sich. Schlafprobleme, Fingernagelknabbern, Ängste, Konflikte mit den Eltern. Die Unfähigkeit, andere um Hilfe zu bitten und diese anzunehmen. Sie weiß, dass ihre Geschwister in Wochenkrippen waren. Vielleicht war sie selber in einer. Seither verfolgt Sabine alles, was über Wochenkrippen berichtet wird. Sie hat ihrer Mutter, zu der sie vor Jahren den Kontakt abgebrochen hat, Briefe geschrieben und gefragt. Die Mutter antworte nicht.

„Wochenkrippen? Ich war in einer, und mir hat es nicht geschadet.“ Oder: „Aus den Kindern ist doch was geworden.“ Diese Sätze hört die Dresdner Historikerin Heike Liebsch häufig. Bei Vorträgen vor allem, die sie über die Wochenkrippen der DDR hält. Liebsch, Jahrgang 1963, war selber in einer. Wie alle Wochenkinder hat sie keine Erinnerungen daran. Denn alles, was in der sogenannten vorsprachlichen Phase erlebt wird, prägt zwar, ist jedoch keine bewusste Erinnerung. Heike Liebsch hat bislang vor allem zu jüdischer Geschichte gearbeitet. Angeregt durch die eigene Kindheit wandte sie sich für ihre Doktorarbeit den Wochenkrippen zu. Sie durchforstete Archive und Museen, wertete behördliche Unterlagen aus, befasste sich mit pädagogischen und psychologischen Forschungen zu frühkindlicher Entwicklung. Fast 100 Interviews hat sie geführt. Neben Wochenkindern sprach sie mit Eltern und einstigen Mitarbeitern. Nun hat sie ein Buch veröffentlicht über die „Wochenkinder in der DDR“, denn es beleuchtet neben den Krippen die Wochenheime für die über Dreijährigen.

Heike Liebsch ist Historikerin. Für ihre Doktorarbeit hat sie sich mit der Geschichte der Wochenkrippen beschäftigt - und jetzt ein Buch dazu veröffentlicht.
Heike Liebsch ist Historikerin. Für ihre Doktorarbeit hat sie sich mit der Geschichte der Wochenkrippen beschäftigt - und jetzt ein Buch dazu veröffentlicht. © ronaldbonss.com

Der junge, auf alle Arbeitskräfte dringend angewiesene DDR-Staat richtete die Wochenkrippen ab Ende der 1940er-Jahre ein, um auch Schichtarbeiterinnen, Alleinerziehenden oder Studentinnen wenige Wochen nach der Entbindung die Rückkehr in Job oder Ausbildung zu ermöglichen. Die bezahlte Elternzeit nach der Geburt währte zunächst sechs Wochen. Erst in der Spätphase der DDR wurde sie auf ein Jahr erhöht.

Zentrale Pläne legten den Ablauf fest. Montags, meist um 6 Uhr, übergaben die Eltern ihr Kind in einem Vorraum. Das Betreten der Gruppenräume war nicht erlaubt mit Verweis auf hygienische Gründe. Eingewöhnungszeiten, wie sie heute üblich sind in Kitas, waren nicht vorgesehen. Das Kind wurde ausgezogen und mit einheitlicher Krippenkleidung ausgestattet. Dann folgten zu vorgegebenen Zeiten Essen, Wickeln, Schlafen und Wachphasen, in denen Spielen vorgesehen war. Als die Eltern noch sechs Tage pro Woche arbeiteten, blieben die Kinder meist bis Samstag. Mit der Einführung der Fünf-Tage-Woche 1967 wurden die meisten freitags abgeholt. Zum Teil wurde eine Wochenend-Betreuung angeboten.

Krippen in der DDR: Beim Schlafengehen weinten die Kinder

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