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Wie Walter Ranze die DDR entlarvte

Der Firmenchef stelle unbequeme Fragen - dabei wollte er den Sozialismus an sich gar nicht loswerden.

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War lange Jahre Chef des VEB Vereinigte Grobgarnwerke Kirschau, kurz Vegro: Walter Ranze
War lange Jahre Chef des VEB Vereinigte Grobgarnwerke Kirschau, kurz Vegro: Walter Ranze ©  privat

Irgendwann hielt es der Chef des VEB Grobgarnwerke Kirschau nicht mehr aus. Walter Ranze musste sich Luft machen und schrieb, zwei Jahre – nicht, um den Sozialismus infrage zu stellen, wohl aber die DDR-Version. Die Anfang 1989 vollendeten Ideen hätten ihn ständig bewegt, schreibt er. Viele Fehler seien gemacht worden, „aber man konnte diese Tatsachen nie aussprechen, sie standen in Widerspruch zu den Direktiven der Partei, und somit waren sie indiskutabel“, räumt er ein. Doch dann sieht er sich durch Gorbatschow bestätigt.

Er traut sich, zweifelt gar an der Lehre des kommunistischen Vordenkers. „Wenn Karl Marx behauptet, dass sich das Bewusstsein der Menschen mit der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse verändert, dann ist das ein Irrtum.“ 40 Jahre sozialistischer Aufbau seien genügend Zeit gewesen. Stattdessen hätten sich egoistisches Denken und Handeln ausgeprägt. Auch sei die Theorie falsch, alle Akkumulationsmittel zulasten der Leicht- in die Schwerindustrie zu lenken.

Einen Markt könne man nicht planen

Ranze vergleicht DDR und BRD – mit ernüchterndem Ergebnis, nicht nur wegen hierzulande niedrigerer Löhne und längerer Arbeitszeit. Selbst Arbeitslose drüben hätten mehr in der Tasche als DDR-Bürger. Der Propaganda falle es immer schwerer, im Westen negative Beispiele zu finden. Selbst die Pro-Kopf-Ausgaben fürs Gesundheitswesen und sein Standard seien höher. Der Autor moniert, „dass die Glückseligkeit und das politische Aushängeschild nicht nur ,Vollbeschäftigung‘ lauten kann“.

Ein Markt lasse sich nicht planmäßig organisieren, schreibt er. Stabile Preise bei Grundnahrungsmitteln würden Leistungsprinzip und Verantwortungsbewusstsein untergraben, ebenso billige Wohnungen und sichere Jobs. Niemand solle hungern, „aber Essen muss erarbeitet und darf nicht geschenkt werden“.

Auch die sozialistische Gesellschaft könne sich keine Verlustbetriebe leisten, ihre Sanierung gehe zulasten gesunder. Statt das Handwerk als Versorger zu fördern, habe man es bekämpft, klagt er. Statt Leuten mit Sachverstand hätten in Betrieben Parteisekretäre das Sagen. Das sei so falsch – wie die vorgegebene Marschrichtung durch sowjetische Berater. Man müsse gemischte Firmen zulassen, um sich Westtechnologie nutzbar zu machen, fordert Ranze in seinen Thesen – und zur Lösung des Wohnungsproblems Eigentumswohnungen erlauben. Starke Worte, doch sie blieben im Schrank. Bis heute.

Ranzes Thesen:

  • Gesunde Wirtschaftspolitik ist Voraussetzung für effektive Sozialpolitik;
  • Schöpfertum der Massen freilegen, Stärkung von Kritik und Selbstkritik;
  • Leitung muss von der Ökonomie bestimmt werden, kein Administrieren;
  • Ökonomische Rechnungsführung muss sich an Preis, Zins, Kredit, Gewinn, Kosten, Exportrentabilität orientieren;
  • Bedürfnisse der Leute befriedigen, Schluss mit dem Schlangestehen;
  • Ausnutzung des Preises als Regulator von Angebot und Nachfrage;
  • Stärkung privater Handwerker, Gewerbebetriebe und der Intelligenz;
  • Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit heißt Ausbau des Rechtsstaats und Beendigung der Gleichmacherei;
  • Leistungsprinzip umsetzen, Ökonomie muss als Zwang und Motor wirken;
  • Senkung der Rüstungsausgaben zugunsten der Wirtschaft. (SZ/mr)
  • Quelle: aus Georg Walter Ranzes Aufzeichnungen 1987-198